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Erklärung des Landesvorstandes der GEW BERLIN zum Amoklauf in Erfurt am 26. April 2002...

Landesvorstand 29.04.2002

Die GEW BERLIN trauert um die Opfer des Amokläufers in Erfurt am 26.04.02. Unser Mitge­fühl gilt den Angehörigen der Opfer und den Überlebenden der entsetzlichen Tat. Der Vorsit­zende der GEW BERLIN wird sich im Namen aller Mitglieder in das Kondolenzbuch in der Thüringischen Landesvertretung eintragen.

Die Abscheu über das Verbrechen und der begreifbare Wunsch nach Erklärungen verführen uns alle zu voreiligen Schlüssen. Die Pietät mit den Opfern sollte es ver­bieten, wohlfeile Be­gründungen zur Hand zu haben und zu suggerieren, dass sich mit der einen oder anderen Gesetzesänderung - je nach politischer Couleur - derlei Taten verhindern ließen. Die Heu­chelei der Politiker ist abschreckend genug. Die GEW BERLIN wird sich an dieser Instrumen­talisierung der Toten nicht beteiligen.

... und zur öffentlichen Diskussion über die Ursachen und Konsequenzen

Die Opfer ernst nehmen heißt das System Schule ernst nehmen. Wir werden - und das müssen wir alle uns ehrlich eingestehen - derartige Einzelfälle niemals aus­schließen können. Die in der Schule Agierenden haben aber ein Recht darauf, sich in einem angstfreien Raum bewegen zu können. Sie haben ein Recht darauf, ihre Fähigkeiten entwickeln zu können und bei ihren Problemen Hilfe zu bekommen. Wir müssen den Blick in diesem Zusammenhang auf weitere mögliche Ursachen auch von Gewalt richten, damit richtige Schlüsse gezogen werden können. Die GEW BERLIN stellt dazu fest:

  • Schulen sind leider allzu oft in Deutschland kein Ort, an dem sich Menschen gerne auf­halten. Dies gilt für die Schülerinnen und Schüler ebenso wie für die Lehrerinnen und Lehrer. Damit sich dieses ändert, brauchen Schulen mehr Raum für kreative Selbstständigkeit. Wir wollen positive Veränderungen in Richtung auf eine Schule, in der sich Kinder und Jugendliche besser aufge­hoben fühlen als zur Zeit. Wer diese notwendige Innovation des deutschen Schulsystems als Möglichkeit missbraucht, unter dem Schlagwort "Autonomie" die Mängelverwaltung zu verschärfen und gleich­zeitig den Schulen selbst zu überantworten, verhindert positive Veränderungen.
  • Kinder und Jugendliche wollen sich in dieser Phase ihres Lebens auch von der Erwachsenenwelt abgrenzen; Reibereien und Konflikte sind unausweich­lich. Sie müssen aber wissen, dass sie bei Problemen Ansprechpartner ha­ben, dass sie ge­hört werden können. Wer im Bereich der außerschulischen Erziehungs- und Bil­dungsarbeit Kahlschlagpolitik betreibt, nimmt billigend in Kauf, dass viele Kinder und Jugendliche dann, wenn sie Hilfe nötig hätten, mit ihren Problemen alleine bleiben. Gewaltvideos und gewaltverherrlichende Computerspiele sind oftmals das "alterna­tive" Angebot. Und dann, wenn Kin­der und Jugendliche mit diesen Einflüssen nicht fertig werden, haben alle ver­sagt: Eltern, Schule, die Gesellschaft - aber bloß die nicht, die Jugendheimen die finanzielle Existenz entzogen oder freien Trägern die Zuschüsse ge­strichen haben.
  • Das Handeln an der Schule wird erschwert, wenn ein führender Repräsentant dieses Landes eine ganze Berufsgruppe pauschal als "faule Säcke" diffamiert (und sich für diese unsägliche Entgleisung niemals entschuldigt hat). Dies war der Höhepunkt ei­ner öffentlich geführten Diffamierungskampagne gegen die Lehrerinnen und Lehrer, mit der ein ganzer Berufsstand und die von seinen Repräsentanten geäußerte Kritik an der verfehlten Bildungspolitik diskreditiert werden sollte. Wir wollen, dass dieser Beruf aufgewertet wird, dass er für junge Menschen als Berufsziel attraktiver wird und dass er inhaltlich weiter entwickelt wird. Gerade wer Kritik an den Lehrerinnen und Lehrern übt, muss sich fragen lassen, warum er dann alles tut, damit sich nichts verändert.
  • Was hat sich denn nach den Taten in Meißen, Freising usw. real geändert? Öffentlich räsoniert wurde über angebliche Versäumnisse von Lehrerinnen und Lehrern. Der Zustand unserer Schulen in inhaltlicher Verfassung wie äußerer Erscheinung ist das Ergebnis einer verantwortungslosen Politik, die Bildung und Erziehung nur noch als unnützen Kostenfaktor der öffentlichen Haushalte begreift. Wenn an den Schulen unter den herrschenden Rahmen­bedingungen der Erziehungsauftrag weiterhin wahr genommen wird, dann ist dieses das alleinige Verdienst der dort arbeitenden Kolleginnen und Kollegen und ihres Berufsethos - der Politik in allen Bundesländern zum Trotz!
  • Pädagoginnen und Pädagogen brauchen Zeit für Kinder und Jugendliche. Wer weiter die Bedingungen an den Schulen verschlechtert, sei es durch ständige Erhöhung der Arbeitsbelastung der Lehrerinnen und Lehrer, Ver­größerung der Klassenfrequenzen oder Abbau von Betreuungs- und Bera­tungsmöglichkeiten, vermindert die Chance, Fehlentwicklungen bei einzelnen Kindern und Jugendlichen rechtzeitig zu erkennen.


Die Berliner Lehrerinnen und Lehrer wollen nicht über Metalldetektoren reden oder über das Mindestalter für den Erwerb von Waffenscheinen. Sie wollen über das System Schule reden. Sie möchten endlich daran gehen, Schule zu verbessern, statt sich ständig mit Politikern auseinandersetzen zu müssen, die glauben, die Berliner Schule weiter auspressen zu können.

Die GEW BERLIN wird alles in ihrer Kraft stehende tun, damit richtige Schlüsse aus den Gewalttaten von Meißen, Freising und jetzt Erfurt gezogen werden. Wir fordern dabei endlich auch die notwendige Unterstützung aus der Politik ein.

Berlin, 29. April 2002