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Schulstrukturreform in Berlin

Landesdelegiertenversammlung vom 04.06.2009

Letzte Aktualisierung: 04.06.2009

Die GEW BERLIN ist überzeugt, dass nur ein inklusives Schulsystem in der Lage ist, Chancengleichheit und hohe Leistungsfähigkeit gleichermaßen zu ermöglichen. Daher setzt sie sich mit Nachdruck für Eine Schule für alle ein.

Die GEW BERLIN unterstützt alle Bestrebungen, das Modell Gemeinschaftsschule auszuweiten und und wirbt bei den Schulen für eine Teilnahme an der Pilotphase, um die Auflösung des gegliederten Schulsystems zugunsten eine inklusiven Schulsystems auf den Weg zu bringen.

Ein auf Auslese statt Förderung gerichtetes hierarchisch gegliedertes Schulsystem benachteiligt Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten und bildungsfernen Familien, besonders wenn sie einen Migrationshintergrund haben. Es wirkt sich negativ auf die Motivation, das Selbstwertgefühl und die soziale Kompetenz der Jugendlichen aus, ohne für die notwendige größere Zahl von Absolventen mit qualifizierten Abschlüssen oder gar Spitzenleistungen zu sorgen. Aktuelle Studien zeigen erneut die fehlende Chancengleichheit im Bildungssystem. Der UN-Sonderberichterstatter stellte sogar fest, dass das deutsche Bildungssystem gegen elementare Menschenrechte verstößt.

Die negativen Folgen des Auslesesystems treten am offensichtlichsten in der Hauptschule zutage, in der systembedingt die leistungsschwächsten und sozial am meisten benachteiligten Jugendlichen konzentriert werden. Die Krise der Hauptschule ist also eine Krise des Systems. Zweifelsohne müssen die Hauptschulen abgeschafft werden, aber das alleine reicht nicht aus.

Eine Reform der Schulstruktur muss dazu führen, dass alle davon profitieren - insbesondere die Schülerinnen und Schüler. Durch die Veränderung der Schulstruktur allein kann ein Chancenausgleich nicht erreicht werden kann. Es geht auch darum, den Unterricht auf erfolgreiches Lernen in heterogenen Gruppen umzustellen und das Lernen mit individueller Förderung in den Mittelpunkt der Unterrichtsorganisation zu stellen, so dass Begabungspotenziale von Kindern aus bildungsfernen Bevölkerungsgruppen mobilisiert, Lernschwierigkeiten beseitigt und Bildungsambitionen gefördert werden können.

Schulstrukturen sind kein Selbstzweck, sondern haben in erster Linie eine der Pädagogik dienende Funktion. Für die vom Senat geplante "Entwicklung der Schulstruktur" zu einem Zwei-Säulen- Modell gibt es keine pädagogische Begründung; ausschließlich kurzfristige taktisch-politisch Erwägungen führen zu dieser Entscheidung. Die soziale Selektion besteht auch in einem zweigliedrigen Schulsystem weiter.

Dennoch muss sich die GEW BERLIN im Interesse ihrer Mitglieder mit den durch den Berliner Senat geschaffenen Tatsachen auseinandersetzen. Ob die veränderte Schulstruktur mit Sekundarschulen und Gymnasien zu höheren Leistungen und ansatzweise zu größerer Chancengleichheit führen kann, hängt von den Rahmenbedingungen ab. Die Strukturreform darf die Lehrkräfte nicht überfordern, wenn sie Akzeptanz gewinnen will. Die Verantwortung für die Lösung der bisher noch offenen pädagogischen, personellen und finanziellen Probleme darf nicht auf die Schulen übertragen werden.

 


Die GEW BERLIN stellt daher folgende Forderungen:

 

Forderungen für den Prozess der Zusammenlegung von Schulen

 

1.  Entscheidungen über Schulstandorte und Zusammenlegungen müssen nach pädagogischen Gesichtspunkten getroffen werden. Schulprogramme und -profile müssen berücksichtigt werden. Schulen, die sich pädagogisch bereits auf den Weg gemacht haben, dürfen nicht abgewickelt werden, nur weil die Räume nicht passend sind.
2. Schulen dürfen nicht verpflichtet werden, mindestens 4-zügig zu sein. Kleinere Schulen müssen mit pädagogischer Begründung möglich sein.
3. Diskussionsprozesse in und zwischen den Schulen müssen organisiert und unterstützt werden. Wünsche und Vorstellungen der Schulen müssen berücksichtigt werden.

 

Forderungen zur Ausgestaltung der Sekundarschule

 

4. Die Sekundarschule darf nicht Auffangbecken für gescheiterte SchülerInnen des Gymnasiums sein.
5. Jede Sekundarschule muss entweder eine eigene Oberstufe oder eine feste Kooperation mit einer Oberstufe (einer anderen Sekundarschule oder eines OSZ) haben.
6. Binnendifferenzierung muss in den Vorgaben für die Sekundarschule gegenüber der äußeren Leistungsdifferenzierung Vorrang erhalten. Eine leistungsbezogene Differenzierung innerhalb der Schule sollte unterbleiben, da sich ansonsten die ungünstigen Lernmilieus fortsetzen werden, die derzeit vielfach an Haupt-, Real- und Gesamtschulen zu beobachten sind.
7. Es wird den Sekundarschulen freigestellt, ob die Beurteilung bis Klasse 8 nach Noten oder durch Lernentwicklungsgespräche erfolgt.
8. Sekundarschulen müssen die unterschiedlichen Neigungen und Interessen der Jugendlichen mit einem breit gefächerten Wahlpflichtangebot aufnehmen. Räumliche Gestaltung und Schulorganisation müssen die selbständige Arbeit der Jugendlichen unterstützen.
9. Der Ganztagsbetrieb muss sowohl von Lehrkräften als auch von sozialpädagogischen Fachkräften gemeinsam gestaltet werden. Die sozialpädagogischen Fachkräfte müssen in ausreichender Anzahl regelmäßig anwesend und in öffentlicher Trägerschaft beschäftigt sein.

 

Die personellen und räumlichen Rahmenbedingungen der Sekundarschulen müssen den pädagogischen Anforderungen entsprechen. Es müssen zusätzliche Finanzmittel in die Sekundarschule fließen:

 

10.  Die Zumessungsfrequenz für alle Sekundarschulen muss auf höchstens 24 (entsprechend den Grundschulen) festgelegt werden.
11. Schulen in sozialen Brennpunkten müssen personell besser ausgestattet sein als Schulen in bürgerlichen Einzugsgebieten.
12. Der Verzicht auf das Wiederholen von Klassenstufen muss entsprechend finanziert werden, so dass individuelle Förderung möglich ist.
13. Der Ganztagsbetrieb muss attraktiv gestaltet werden, kulturelle und sportliche Angebote müssen bereit gestellt, Kooperationsvereinbarungen mit Vereinen, Tanzschulen, Musikschulen etc. finanziell unterstützt werden.
14. Alle Sekundarschulen sollen zu Ganztagsschulen in gebundener Form umgestaltet werden.
15. Schulstationen müssen an allen Schulen vorgesehen werden.
16. SchulpsychologInnen, Krankenschwestern, ErgotherapeutInnen, BibliothekarInnen und technische MitarbeiterInnen müssen in jeder Sekundarschule zur Verfügung stehen, damit eine intensive Betreuung der SchülerInnen gewährleistet ist.
17. Wege zur inklusiven Schule müssen mit auskömmlicher Zuweisung von Lehrerstunden für SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterstützt werden.
18. Das duale Lernen muss allen SchülerInnen an den Sekundarschulen, auch jenen mit der Orientierung zu hoch qualifizierten Berufen, offen stehen und damit auf alle Abschlüsse vorbereiten. Die Verknüpfung von schulischem Lernen und praktischer Ausbildung muss neu gedacht und gestaltet werden.
19. Die Pflichtstundenzahl für LehrerInnen darf höchstens der an bisherigen Gesamtschulen/Gymnasien entsprechen. Darüber hinaus hält die GEW BERLIN an ihrer Position fest, dass zur Bewältigung der steigenden Anforderungen die Pflichtstundenzahl für alle LehrerInnen deutlich gesenkt werden muss.
20. Die Lehrkräfte sollen Ermäßigungsstunden für die intensivere Betreuung und Beratung der SchülerInnen erhalten.
21. Bereits ab dem Schuljahr 2009/2010 müssen allen betroffenen Schulen LehrerInnenstunden zur Entwicklung pädagogischer Konzeptionen und zur Vorbereitung der veränderten Schulorganisation zur Verfügung gestellt werden. Außerdem müssen ausreichend Fortbildungsangebote auch schulintern und auch in der Unterrichtszeit bereit gestellt werden, damit die LehrerInnen in die Lage versetzt werden, die anspruchsvollen pädagogischen Veränderungen, wie das Lernen in heterogenen Lerngruppen mit Binnendifferenzierung sie fordert, in Angriff zu nehmen und die individuelle Förderung der SchülerInnen zu realisieren.
22. In der Anfangsphase der Sekundarschule muss eine Pflichtstundenreduzierung für den Übergangsprozess, für Fortbildung und Programmentwicklung erfolgen.
23. Supervision und professionelle Begleitung des Umstellungsprozesses sind notwendig und müssen finanziert werden.
24. Arbeitsplätze, Team- und Ruheräume für die PädagogInnen müssen geschaffen werden.
25. Die Raumplanung muss den pädagogischen Konzepten entsprechen. Sie muss selbständiges Arbeiten und verschiedene Lernformen, auch in Kleingruppen, ermöglichen. SchülerInnen müssen Bibliotheks-, Medien- und Internetzugang erhalten.

 

Forderungen zum Gymnasium

 

26. Die Aufnahmekriterien für die Gymnasien dürfen nicht dazu führen, dass pädagogische Konzepte in den Grundschulen beeinträchtigt werden.
27. Klassenwiederholungen sollen verpflichtend abgeschafft werden.
28. Das Gymnasium darf weder nach einem Probehalbjahr auslesen noch Schüler aus höheren Klassen abschulen.
29. Die Zumessungsfrequenz für die Gymnasien darf nicht höher als 27 sein.
30. Gymnasien in sozialen Brennpunkten müssen personell besser ausgestattet werden als solche in bürgerlichen Regionen.
31. Grundständige Gymnasien sollen abgeschafft werden.
32. Schnellläuferklassen soll es nicht mehr geben.
33. SchülerInnen mit Behinderung müssen auch an den Gymnasien aufgenommen werden.
34. Verbindliche Fortbildungsangebote zu Förderung und Binnendifferenzierung mit entsprechender Entlastung für die KollegInnen müssen angeboten werden.

 

Die GEW BERLIN stellt fest, dass die Erfüllung der vorgenannten Bedingungen und Forderungen notwendige Voraussetzung für einen erfolgreichen Verlauf der beabsichtigten Strukturveränderung ist. Insofern tragen die Verantwortung für das Gelingen der Bildungssenator und der Gesetzgeber.