Schulgesetz: Erste Stellungnahme der GEW BERLIN zum Gesetz-Entwurf
Erste Stellungnahme der GEW BERLIN zum Schulgesetzentwurf des Senators für Schule, Jugend und Sport
- Die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Schulwesen sowie die Lernbedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen in Berlin sind durch die massiven Kürzungen der letzten 10 Jahre erheblich eingeschränkt worden. Die Funktionsfähigkeit der Berliner Schule ist deswegen nach wie vor gefährdet. Die GEW BERLIN ist der Meinung, dass Veränderungen und Verbesserungen des Berliner Schulwesens zu allererst einen Wechsel in der Politik bedingen: Statt weiterer Kürzungen sind zusätzliche Investitionen notwendig!
Die GEW BERLIN wird ihre Aktivitäten gemeinsam mit SchülerInnen und Eltern für die Erhöhung der Mittel für Bildung verstärken und sich dabei nicht von einer Diskussion um einen Schulgesetzentwurf ablenken lassen. - Der nun offiziell vorliegende Gesetzentwurf, den die GEW BERLIN am 19. März 2001 überreicht bekommen hat, eröffnet die öffentliche Debatte um die rechtlichen Rahmenbedingungen für das Berliner Schulwesen. Die GEW BERLIN wird sich intensiv an dieser Diskussion beteiligen.
- Die GEW BERLIN fordert nach der Vorlage des Arbeitsentwurfs für ein neues Schulgesetz den Senator für Schule, Jugend und Sport, den Senat und das Abgeordnetenhaus auf, jetzt auch ausreichend Zeit für die öffentliche Diskussion einzuplanen. Nachdem die Verwaltung fast ein Jahr für die Vorlage dieses Arbeitsentwurfs gebraucht hat, kann man von den schulischen und pädagogischen Einrichtungen, die von diesem Gesetz erfasst werden sollen nicht erwarten, innerhalb weniger Wochen qualifiziert und abschließend Stellung genommen zu haben. Ein demokratischer Willensbildungsprozess verlangt ausreichend Zeit für intensive Diskussion. Erst nach Sichtung und Bewertung aller Vorschläge kann ein endgültiger Entwurf fertig gestellt werden.
- Nach Ansicht der GEW BERLIN zementieren die mit diesem Entwurf vorgelegten Bestimmungen, das drei- bzw. mit Sonderschule viergliedrige Schulsystem. Die diesem bildungspolitischen Leitbild zu Grunde liegenden pädagogischen Gedanken sind den gesellschaftspolitischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts entnommen. Sie sind mit einem zusammenwachsenden Europa weder kompatibel noch zukunftsträchtig. Sie stehen im Widerspruch zu den Ergebnissen der modernen pädagogischen Wissenschaft.
- Dieser Gesetzentwurf führt zum Abbau von Beteiligung, Mitwirkung und Partizipation und zur Stärkung von Hierarchien. Auch das kritisiert die GEW BERLIN als rückschrittlich. Eine Dezentralisierung von Entscheidungen kann nicht erfolgreich sein, wenn gleichzeitig in den Schulen die Entscheidungen hierarchisiert werden. Die Verlagerung von Kompetenzen zwischen den Gremien dient dem Ziel, die SchulleiterIn zur “selbstständigen UnternehmensleiterIn” hochzustilisieren. Die GEW BERLIN lehnt diese Änderung entschieden ab.
- Bei der konkreten Auseinandersetzung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf begrüßt die GEW Berlin, dass wesentliche Grundsätze für ein demokratisches Schulwesen in den §§ 1 – 5 in expliziter Form festgeschrieben sind. Dies kann unseren KollegInnen am Arbeitsplatz die Möglichkeit eröffnen, sich bei ihren Anstrengungen für eine Weiterentwicklung ihrer Schule, Kita oder Jugendeinrichtung im Sinne eines offenen, demokratischen Schulwesens auf gesetzliche Bestimmungen zu berufen. Allerdings sind bereits in diesem Bereich einschränkende Bemerkungen notwendig:
- Politische Bildung und Erziehung zum politischen Handeln bleiben bei der Beschreibung der Bildungs- und Erziehungsziele sowie der Grundsätze ihrer Verwirklichung ausgespart, was in einer Demokratie befremdet.
- Bei Schülerinnen und Schülern nichtdeutscher Herkunftssprache wird die Pflege der Muttersprache von vornherein ausgeklammert, was das Gewicht der Aussagen zu dem Thema deutlich beeinträchtigt.
Die GEW Berlin stellt außerdem fest, dass in den konkreten gesetzlichen Bestimmungen über die organisatorische Ausgestaltung der Berliner Schule zahlreiche begrüßenswerte Ansätze der §§ 1 – 5 nicht nur nicht aufgenommen, sondern sogar mit dem Ziel der Bewahrung überkommener Schulstrukturen und Verfahrensweisen konterkariert werden.
So wird z.B.- Das grundsätzliche Bekenntnis zum Vorrang der gemeinsamen Erziehung - Integrationspädagogik durch Bestimmungen ausgehebelt, die einen Haushaltsvorbehalt gesetzlich festschreiben, die Schaffung einer neuen Kategorie von Sonderschulen für Verhaltensauffällige vorsehen, "schutzwürdige Belange" (sic!) von Kindern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf als Hinderungsgrund für den gemeinsamen Unterricht festschreiben und eine zieldifferente Integration an berufsbildenden Schulen ausschließen,
- Die Verantwortung der Einzelschule und ihrer Gremien für Schulprogramm und pädagogische Schulentwicklung betont, zugleich aber äußere Leistungsdifferenzierung in den Klassen 5 und 6 der Grundschule als gesetzliche Verpflichtung vorgeschrieben und jede Entscheidungsmöglichkeit der Schulen in einer pädagogisch wichtigen Frage ausgeschlossen,
- Die Durchlässigkeit des Schulwesens gefordert und ein allen Schularten gemeinsamer Mittlerer Bildungsabschluss festgelegt, während zugleich für die verschiedenen Schularten der Sekundarstufe I hierarchisch abgestufte unterschiedliche Bildungsbegriffe gesetzlich festgeschrieben und eine Verbindung von Schularten nur für Haupt- und Realschulen ermöglicht wird.
- Die Kooperation von Schule und Jugendhilfe wird zwar festgelegt, aber gleichzeitig wird die Bedeutung und Aufgabenstellung sozialpädagogischer Arbeit an der Schule völlig unzureichend beschrieben. Schulsozialarbeit wird nicht erfasst als gleichberechtigtes Angebot mit eigenständigem Bildungs- und Erziehungsauftrag.
- Die GEW BERLIN begrüßt,
- die Vorklasse ein Teil der Grundschule ist,
- die sechsjährige Grundschule erhalten bleibt,
- keine generelle Schulzeitverkürzung vorgesehen wird, sondern ein individuelles Überspringen der 11. Klasse in Aussicht genommen wird,
- die Schulzeit in der Sekundarstufe I erhalten bleibt,
- die Schulanfangsphase flexibilisiert wird,
- verbundene Haupt- und Realschulen vorgesehen sind,
- die Kooperation von Schule und Jugendhilfe im Gesetz festgeschrieben wird,
- der Religionsunterricht als freiwilliger Unterricht beibehalten wird,
- Halbjahreszeugnisse entfallen können,
- Doppelt qualifizierende Bildungsgänge im Bereich der Oberstufenzentren eingeführt werden,
- Berufsoberschulen eingeführt werden.
- Die GEW BERLIN lehnt ab:
- Die Möglichkeit der Einrichtung von Schulen besonderer pädagogischer Prägung durch den Schulsenator
- die Festschreibung der äußeren Fachleistungsdifferenzierung im Gesetz,
- Gymnasien und Gesamtschulen ab Klasse 5
- Abschlussprüfungen nach der 10. Klasse (mittlerer Bildungsabschluss),
- den Haushaltsvorbehalt für die gemeinsame Erziehung,
- die Regelung, dass Integration wegen angeblicher Unzumutbarkeit für Kinder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf abgelehnt werden darf,
- die Möglichkeit der Einrichtung von Sonderschulen für Verhaltensauffällige,
- die Ablehnung des gemeinsamen Unterrichts in beruflichen Schulen,
- die Bildungsgangempfehlung als Kriterium für die Aufnahme im Gymnasium,
- nur bis zur 3. Klasse sind Lernentwicklungsberichte möglich,
- vergleichende Schulleistungstests,
- die Einführung von Kopfnoten als mögliche Benotung,
- die Abschaffung der Lernmittelfreiheit für Berufsschüler,
- die Festschreibung von bestimmten Modellversuchen im Gesetz (Religionsunterricht),
- die Teilnahme “gesellschaftlich relevanter Gruppen” an den Rahmenplan-Kommissionen,
- die Aussortierung von Schülerinnen und Schülern nach der 8. Klasse in der Hauptschule,
- die Herausnahme der Koordinatoren und stellvertretenden Abteilungsleitern aus den Funktionsstellen, an denen schulische Gremien zu beteiligen sind,
- die Aufnahme von Werbung und Sponsoring als Einnahmemittel, über die die Schulkonferenz zu entscheiden hat,
- die Aufgabe des Schulleiters als Dienstvorgesetzter,
- dass den schulischen Gremien nur noch die beiden geeignetsten BewerberInnen vorgeschlagen werden,
- das Benennungsrecht an eine 2/3-Entscheidung der Schulkonferenz zu binden, statt es bei der Gesamtkonferenz zu belassen,
- die Verlagerung der Aufgaben von der Gesamtkonferenz auf die Schulkonferenz
- Die GEW BERLIN kritisiert:
- Der Begriff Chancengleichheit wird durch Chancengerechtigkeit ersetzt,
- Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf haben einen Anspruch auf eine ihren persönlichen Möglichkeiten entsprechende schulische Bildung. Dies könnte für eine Sonderschuleinweisung begründend werden.
- Die Schulaufsicht trifft die Feststellung, ob ein Schüler sonderpädagogischen Förderbedarf hat.
- Die Kriterien für den Eingriff des Schulleiters in den Unterricht sind zu schwammig.
- Die Erweitere Schulleitung hat kaum Kompetenzen, ihre Zusammensetzung sollte in den Schulen geklärt werden können und die Rolle des Schulleiters darf nicht zu dominant sein.
- Die Trennung zwischen Aufsicht und Beratung bei der Schulaufsichtsbehörde ist unklar.
- Die Verfügungsgewalt der Schulkonferenz über Mittel ist sehr unklar.
- Das Quorum bei Entscheidungen der Schulkonferenz ist praktisch selten einhaltbar.
- Die Leitung von Fachkonferenzen qua amt statt auf Wahl der Fachkonferenz.
- Schulprogramm, Qualitätssicherung und Evaluation sind in dieser Form ohne die zugehörige Rechtsverordnung nur spekulativ diskutierbar. Jede Form eines öffentlichen Rankings wird eindeutig abgelehnt.
- Ganztagsgrund- und Sonderschulen sind nicht im Gesetz verankert.
- Die Kooperation von Schule und Jugendhilfe wird lediglich den einzelnen Schulen überantwortet. Es fehlt die Organisation des Kooperationsprozesses zwischen dem LSA und dem Landesjugendamt.
- Sozialpädagogischen Fachkräften muss die Möglichkeit gegeben werden, Mitglied der Schulleitung zu werden.
- Es fehlt, dass die Schule einen Beitrag zur Integration und zur Vermittlung interkultureller Kompetenz als Schlüsselqualifikation für alle SchülerInnen leisten muss.
- Die GEW BERLIN kritisiert , dass Jugendlichen, die beim Zuzug älter als 16 Jahre sind, das Recht auf Schulbesuch bei nicht ausreichenden deutschen Sprachkenntnissen entzogen wird.
- Die GEW BERLIN hat in folgenden Punkten noch Diskussionsbedarf:
- die Zusammensetzung der Gesamtschule: nicht mehr als 40 % einer Bildungsgangempfehlung,
- die frühere Schulpflicht,
- die Einführung eines Wahlpflichtangebots in den Klassen 5 und 6,
- die Einführung von verlässlichen Öffnungszeiten in allen Grundschulen,
- nach wie vor existiert kein Recht auf Unterricht nach Stundentafel,
- die Einführung eines berufsorientierten Abschlusses für SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf,
- den Zweck der jährlichen Schulentwicklungsberichte der einzelnen Schule (1.000 Berichte) – Auswertung?
- Schulen sollen eigene Einnahmen erzielen können: wie?
- die erste Fremdsprache schon ab der 3. Klasse eingeführt werden soll,
- ein einheitlicher Bildungsbegriff sollte definiert werden unter Einbeziehung der frühen Kindheit (Tageseinrichtungen für Kinder).