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Weiterentwicklung der gemeinsamen Erziehung und des gemeinsamen Unterrichts von Kindern mit und ohne Beeinträchtigung in der Berliner Schule

  • Die Berliner Schule ist grundsätzlich eine integrative Schule, in der gemeinsames Lernen aller Kinder stattfindet.
  • Damit Schulen integrativ arbeiten können, ist jede Schule mit einem zusätzlichen Stundenpool zu versorgen, über den sie eigenverantwortlich verfügen kann. Bei besonderen Bedarfslagen (z. B. schwere Beeinträchtigung von Kindern, besondere Verhaltensprobleme,...) werden der Schule auf Antrag zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt. Diesem Antrag muss eine Empfehlung des Förderausschusses zu Grunde liegen. Die Höchstfrequenz für integrative Klassen beträgt 20 Schüler.
  • Für die gemeinsame Erziehung müssen auch im sozialpädagogischen Bereich von Schule Ressourcen (mindestens entsprechend den Regelungen für Kindertagesstätten) bereitgestellt werden.
  • In jedem Bezirk wird ein eigenständiges Beratungszentrum für gemeinsame Erziehung eingerichtet. Diese Einrichtung dient sowohl der Vernetzung der Dienste als auch der Beratung der Eltern vor Einschulung ihres Kindes und während der Schulzeit (einschließlich Übergänge), der Beratung der Lehrerinnen und Lehrer und der sozialpädagogischen Fachkräfte im Sinne eines Kompetenztransfers, der zeitlich begrenzten Förderung von Kindern bei speziellen Erfordernissen sowie der Beratung der Schule.
  • Ab Schuljahr 2000/01 werden als erster Schritt in mindestens drei Berliner Bezirken an "Schulen für Lernbehinderte" und "Schulen für Sprachbehinderte" nur integrative Regelklassen eingerichtet. Dadurch werden Sonderschulen sukzessive in integrative Schulen umgewandelt. Dieses Verfahren soll schrittweise in den kommenden Jahren in allen anderen Bezirken eingeführt werden.
  • Die Rahmenpläne werden auf zieldifferentes Lernen ausgerichtet. Integrationspädagogische Prinzipien werden aufgenommen. Eine Verpflichtung auf die Rahmenpläne der Sonderschulen (L und G) für zieldifferente Integration in der allgemeinen Schule entfällt damit.
  • Integrationspädagogik muss als obligatorischer Studieninhalt der Erziehungswissenschaften, der Fachdidaktiken und der Grundschulpädagogik in den Prüfungs- und Studienordnungen sowie in der zweiten Ausbildungsphase verankert werden.
  • Spezielle Kenntnisse im Hinblick auf Kinder mit sprachlicher, körperlicher, geistiger oder Sinnesbeeinträchtigung können durch ein Wahlfachstudium im Rahmen des allgemeinen Lehrerstudiums sowie durch eine institutionalisierte integrationspädagogische Lehrerweiterbildung erworben werden. Die sozialpädagogischen Fachkräfte erhalten die Möglichkeit zu einer integrationspädagogischen Weiterbildung auf Fachhochschulniveau.
  • Allen Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen und Lehrern müssen theorie-praxis-bezogene integrationspädagogische Fortbildungsmaßnahmen angeboten werden. Für Lehrerinnen und Lehrer bzw. Erzieherinnen und Erzieher ohne Integrationserfahrung ist die Teilnahme verbindlich.
     

Begründung/Erläuterungen:

Zu Punkt 1:

Seit fast 25 Jahren werden in Berliner Kindertagesstätten und Schulen Kinder mit Beeinträchtigungen integriert. Die Leistungsentwicklung der Schülerinnen und Schüler mit Behinderung verläuft meist sehr positiv, sie lernen häufig mehr als an Sonderschulen; auch ihre soziale und psychische Entwicklung führt zu stabilen Kompetenzen, sie lernen sich durchzusetzen, in Krisen zu behaupten und eigene Interessen und Bedürfnisse durch sprachliches Handeln zu artikulieren. Ihre gleichaltrigen Mitschülerinnen und Mitschüler ohne Behinderung lernen, sie bei ihren Tätigkeiten zu unterstützen. Durch vielfältige Kontakte wird die Herausbildung von Vorurteilen und negativen Einstellungen verhindert. Damit leistet Integration einen wichtigen Beitrag zur Gewaltprophylaxe.
Integrative Erziehung hat zu einer tiefgreifenden Reform der Grundschul- und Fachdidaktik geführt: Die Öffnung des Unterrichts mit Freier Arbeit, Arbeit nach Tages- und Wochenplänen, Individualisierung der Lernanforderungen, fächerübergreifender Unterricht in Vorhaben und Projekten prägen den Schulalltag stärker als früher. Nicht die Homogenisierung der Lerngruppen hat diese Effekte hervorgebracht, sondern ihre Heterogenität.

Auch die äußeren Rahmenbedingungen schulischer Arbeit konnten durch die gemeinsame Erziehung verbessert werden: kleinere Lerngruppen, Teamteaching durch ein Mehrpädagogensystem, Innovation durch sonderpädagogische Kompetenz in den allgemeinbildenden Schulen, gesetzliche Regelung durch Einführung des Wahlrechts der Eltern - uneingeschränkt in der Grundschule, eingeschränkt in der Oberschule, da bei so genannter "Lernbehinderung" und "geistiger Behinderung" die Einwilligung und Zustimmung der Lehrerinnen und Lehrer erfolgen muss. Hier ist eine Änderung dringend erforderlich, da immer mehr Eltern den gemeinsamen Unterricht für ihre Kinder auch an Oberschulen wünschen.

Der Unterschied zwischen Grund- und Oberschulen drückt sich auch in den Anteilen von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung aus. Während die Grundschulen bereits von 35 % aller Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Grundschulalter besucht werden, beträgt der Anteil im Sekundarbereich erst 9 %.

Zu Punkt 2:

Im Grundsatz sollte jede Grundschule (und jede integrativ arbeitende Oberschule) eine solche personelle Ausstattung bekommen, die es ihr möglich macht, alle Kinder ihres Einzugsbereiches unabhängig davon, ob sie beeinträchtigt sind oder nicht, aufzunehmen und zu beschulen.
Die dafür notwendigen zusätzlichen Personalmittel lassen sich aus dem Durchschnitt aller in der Berliner Schule unterrichteten Kinder mit so genanntem sonderpädagogischem Förderbedarf eines Jahrgangs berechnen und sollten der Einzelschule zur eigenverantwortlichen Verteilung zur Verfügung gestellt werden.
Der Stundenpool sollte ausreichen, Schüler und Schülerinnen mit Lernschwierigkeiten und leichteren Beeinträchtigungen integrativ zu unterrichten, ohne sie mit einem "Etikett" zu versehen, um Ressourcen für ihre notwendige Förderung zu erhalten. Die spezielle Lernsituation dieser Schüler könnte dann besser berücksichtigt werden. Durch mehr Zuwendung und bessere Förderung würden Schulversagen und die Manifestierung dauerhaften Lernversagens reduziert werden. Die Chancen, die durch die im Grundschulreformprogramm einzuführende Schuleingangsphase mit der Möglichkeit längerer Verweildauer eines Kindes im Anfangsunterricht, eröffnet werden, sollten in diesem Sinne genutzt werden.
Die Einrichtung eines Stundenpools für die gemeinsame Erziehung würde die Zahl der Förderausschüsse bei der Einschulung erheblich verringern und die Notwendigkeit, über fünf- und sechsjährige Kinder prognostische Aussagen hinsichtlich ihres schulischen Lernens zu machen, die für dieses Alter in der Regel ohnehin nur vage formuliert werden können, aufheben.
Darüber hinausgehend müssen für die spezielle Förderung von Schülern und Schülerinnen mit starken Beeinträchtigungen im Lernen oder der sozialen und emotionalen Entwicklung sowie für Kinder mit schweren Sinnes- und Körperbehinderungen in der allgemeinen Schule auf Antrag zusätzliche Mittel bereitstehen.
Diese Fördermaßnahmen müssen entweder vor Einschulung eines Kindes oder beim Auftauchen von Problemen, für die die Mittel aus dem der Schule zur Verfügung stehenden Stundenpool für gemeinsame Erziehung nicht ausreichen, wie bisher durch einen multiprofessionell zusammengesetzten Förderausschuß festgestellt, begründet und beantragt werden.
Für Schulen in sozialen Brennpunkten und/oder mit hohem Anteil von Schülerinnen und Schülern nichtdeutscher Herkunftssprache müssen unabhängig vom Stundenpool für gemeinsame Erziehung weiterhin zusätzliche Mittel aus den Strukturmaßnahmen zur Verfügung stehen.

Zu Punkt 3:

Bisher werden zusätzliche Personalmittel für die Förderung von Kindern mit Beeinträchtigung der allgemeinen Schule ausschließlich für den Unterricht zur Verfügung gestellt. Für die Betreuung dieser Schülerinnen und Schüler im sozialpädagogischen Bereich der Sekundarstufe I der Gesamtschule kann jedoch ebenfalls Bedarf bestehen, wenn z. B. bei schweren Körper- oder Sinnesbeeinträchtigungen Unterstützung bei außerunterrichtlichen Aktivitäten notwendig wird bzw. Schüler und Schülerinnen mit Störungen in der emotionalen oder psychischen Entwicklung zusätzliche Hilfe bei der Eingliederung in Gruppen erforderlich machen. Auch in Grundschulen mit offenem Ganztagsbetrieb und in den geplanten Grundschulen mit verlässlichen Öffnungszeiten werden Kinder mit Beeinträchtigung eventuell zusätzliche Unterstützungsmaßnahmen benötigen, damit sie an allen gemeinsamen Aktivitäten ihrer Gruppe teilnehmen können. Erzieherinnen und Sozialpädagoginnen müssen diese notwendige und wichtige Arbeit, Kinder und Jugendliche auch über den Unterricht hinaus sozial zu integrieren und die Gemeinschaft aller zu fördern, z. Z. ohne zusätzliche Hilfe leisten, was auf Dauer nicht vertretbar ist. Dort, wo dieses nicht leistbar ist, können solche Kinder und Jugendliche die Angebote, die über den Unterricht hinausgehen, nicht oder nur zum Teil wahrnehmen. Dann aber reduziert sich "Integration" auf gemeinsamen Unterricht und verfehlt die Aufgabe, zur gemeinsamen Erziehung beizutragen.

Zu Punkt 4:

Für Eltern, Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer sowie für die Schulleitungen in der allgemeinen Schule entsteht durch die Ausweitung der gemeinsamen Erziehung ein umfassender Bedarf nach Beratung und Unterstützung.
Es ist daher nicht sinnvoll, wenn sich in einem Bezirk mehrere, verschiedene Sonderschulen "Sonderpädagogisches Förderzentrum" nennen, nebeneinander arbeiten und unkoordinierte Hilfe bieten, zumal Beeinträchtigungen und Störungen mehrdimensional sind und sich nicht eindimensional den klassischen Kategorien zuordnen lassen.
Diesem Beratungsbedarf kann effektiver durch multiprofessionelle Teams in einem eigenständigen Beratungszentrum entsprochen werden. Alle Beteiligten fänden hier nur noch einen Ansprechpartner, der eng mit dem Schulpsychologischen Dienst zusammenarbeitet und die Kooperation mit den verschiedensten Diensten und Kompetenzen im Bezirk gewährleistet und koordiniert.

Zu Punkt 5:

Wenn Integration künftig den Regelfall und Sonderschule die Ausnahme darstellt, dann ist es weder pädagogisch noch finanzpolitisch länger vertretbar, neben den allgemeinen integrativen Schulen ein voll ausgebautes Sonderschulsystem zu unterhalten. Deshalb lautet unsere Forderung: Ausbau des gemeinsamen Lernens und gleichzeitig Abbau von Sonderschulen.

Dies ist jedoch nicht gleichbedeutend mit der Streichung von zusätzlichen Lehrerstunden. Diese müssen den Schülerinnen und Schülern in integrativen Schulen ebenso zu Gute kommen, wie andere durch den Wegfall von Sonderschulen eingesparte Ressourcen und zwar als pauschale Zuwendungen an allgemeine Schulen, um so die Vorselektion, Kategorisierung und Behinderungszuschreibung von Kindern zu vermeiden.
Mit der jahrgangsweisen Umwandlung von Sonderschulen in allgemeine Schulen sollte aus wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Gründen zunächst bei den Schulen für Lernbehinderte und Sprachbehinderte begonnen werden.
Alle Untersuchungen zur Effizienz der Schule für Lernbehinderte kommen zu dem Ergebnis, dass die als lernbehindert geltenden Schülerinnen und Schüler in der Sonderschule nicht besser gefördert werden können als in der allgemeinen Schule. Die Anforderungen an sie werden reduziert, eine besondere Didaktik und Methodik für die Lernbehindertenschule gibt es nicht. Gleichzeitig fehlt den Schülern und Schülerinnen, die die Schule für Lernbehinderte besuchen ebenso wie denen in der Schule für Sprachbehinderte die Anregung durch die heterogene Lerngruppe.

Für Kinder mit Sprachproblemen, die an der Sonderschule für Sprachbehinderte nach dem Rahmenplan der allgemeinen Schule unterrichtet werden, ist es besonders wichtig, sich auch an positiven Sprachvorbildern anderer Kinder orientieren zu können. Daneben ist der Einsatz von Lehrern mit sprachtherapeutischer Zusatzqualifikation zur Förderung dieser Schüler und Schülerinnen auch in der Regelschule notwendig.

Gleichzeitig mit dem Umbau dieser Sonderschulen muss einerseits durch Bereitstellung von Ressourcen für die Förderung der Kinder mit Beeinträchtigungen (und nicht durch ihre Einsparung, wie man auf Grund des Entwurfs für ein neues Berliner Schulgesetz vermuten könnte) und andererseits durch Stärkung binnendifferenzierender sowie fächerübergreifender und projektorientierender Arbeitsformen die Integrationsfähigkeit der allgemeinen Schule verbessert werden. (Siehe hierzu auch Erläuterungen zu den Punkten 1 - 3.) Die Beschulung von Schülern mit Lernproblemen in Sonderschulen als "Entlastung" der allgemeinen Schule fällt damit weg.

Solange Sonderschulen noch existieren, können Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf Elternwunsch auch in Sonderschulen unterrichtet werden.

Im Schuljahr 1997/98 wurde die Sonderschule für Lernbehinderte von ca. 50 % der insgesamt 13.572 Sonderschüler besucht, ca. 80 - 90 % dieser Schülerinnen und Schüler kommen aus sozial randständigen oder ausländischen Familien. Sie machen je nach Bezirk ca. 2 bis 5 % aller Schüler aus, so dass sich vor allem in Grund-, Haupt- und Gesamtschulen die Heterogenität durch die zusätzliche Aufnahme dieser Kinder um diesen Anteil erhöht, wenn die Sonderschule für Lernbehinderte in einigen Jahren als Schulform nicht mehr existiert.

In sozial stark belasteten Bezirken sollten deshalb Schulsozialarbeiter eingesetzt werden.

Zu Punkt 6:

Die Revision der Rahmenpläne sollte Themen vorgeben, die von allen Kindern auf unterschiedliche Weise bearbeitet werden können. Die Themen könnten bereits ausgearbeitet sein, in der Form, dass eine Sammlung des Wissensstandes den LehrerInnen zur Verfügung steht. Diese können dann in Form von Handreichungen (wie in Hamburg) ausliegen. Vorteilhaft für die Handreichungen ist, dass neue Erkenntnisse zu Themen schneller eingearbeitet werden können.
Das zieldifferente Lernen bezieht sich auf die Förderung von Schülerinnen und Schülern, bei denen eine Beeinträchtigung des Lernens vorliegt. Maßstab für die Lern- und Leistungsentwicklung ist nicht ein vorgegebener Sollzustand (Rahmenplan), sondern das Individuum. Je nach Stand des Leistungs- und Entwicklungsniveaus des Kindes wird der nächste Lernschritt aufgebaut. Um den Lernprozess so weit wie möglich zu optimieren, müssen dem Individuum geeignete pädagogische Maßnahmen als Lernhilfen angeboten werden. So findet an einem gemeinsamen Lerninhalt individuelle Förderung und damit zieldifferentes Lernen statt. Ein soziales Lernziel der Integrationspädagogik ist u. a. die gegenseitige Rücksichtnahme sowie das Akzeptieren und Respektieren unterschiedlicher Aneignungsprozesse und Leistungsniveaus.

Zu Punkt 7:

Obwohl es in Berlin seit mehr als 15 Jahren Integrationsschulen gibt und inzwischen ca. 2/3 aller Grundschulen integrativ arbeiten, hat sich diese Entwicklung bisher nicht in der Ausbildung von Lehrern niedergeschlagen. Dies ist völlig unverständlich, zumal seit der Änderung des Schulgesetzes 1990 das gemeinsame Lernen Aufgabe jeder Schule ist und eine so weit reichende Schulreform eigentlich mit einer Veränderung der Lehrerausbildung hätte beginnen müssen. Maßnahmen zur Lehrerfortbildung reichen dafür keinesfalls aus.
In dem neuen Lehrerbildungsgesetz ist für alle Lehramtsstudierenden ein Pflichtschein im Bereich der Integrationspädagogik vorgesehen. Aus Sicht der GEW ist es, bezogen auf die komplexe Aufgabenstellung des gemeinsamen Lernens, jedoch notwendig, in allen Ausbildungsbereichen, ob in der Erziehungswissenschaft oder der Fachdidaktik, den Blick auf diese pädagogischen Anforderungen ständig zu richten und sie nicht auf die Behandlung in einem Seminar zu reduzieren. Wir halten es für dringend erforderlich, dass Integrationspädagogik zum Bestandteil einer jeden Lehrerausbildung wird. Diese Forderung läuft auch darauf hinaus, in noch stärkerem Maße als bisher der Didaktik der inneren Differenzierung in der Ausbildung Rechnung zu tragen.
Wir unterstützen die Position der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, die in ihren "Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern" von 1997 u. a. "Erkenntnisse über das gemeinsame Lernen" sowie die "Kompetenz zur Integration von Behinderten" als notwendige Qualifikation gefordert hat. In den Studien- und Prüfungsordnungen muss deshalb Integrationspädagogik als obligatorischer Studieninhalt verankert werden.

Zu Punkt 8:

Mit der sukzessiven Umwandlung von Sonderschulen in integrative Schulen muss auch das bisherige sonderpädagogische Studium mit dem Ziel "Lehrer an Sonderschulen" abgelöst werden; ebenso die damit verbundenen Aussonderungsbegriffe der traditionellen Sonderpädagogik. Sie widersprechen den Intentionen der Integration. Es ist jedoch notwendig, dass Lehrerinnen und Lehrer spezielle Kenntnisse im Hinblick auf Kinder mit sprachlichen, körperlichen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigungen erwerben können. Diese sollten künftig als 1. oder 2. Fach innerhalb der allgemeinen Lehrerausbildung angeboten werden. Die so ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrer können in allen Schulformen und -stufen eingesetzt werden. Die herkömmlichen sonderpädagogischen Fachrichtungen entfallen. Kompetenzen im Hinblick auf Lern- und Verhaltensprobleme werden im Rahmen des allgemeinen Lehrerstudiums vermittelt.
Darüber hinaus muss für eine Übergangszeit für bereits ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer die Möglichkeit geschaffen werden, sich durch ein universitäres Zusatzstudium integrationspädagogisch weiterqualifizieren zu können. Für Sozialpädagogen wird diese Qualifizierungsmaßnahme im Rahmen eines Fachhochschulstudiums angeboten.

Zu Punkt 9:

Zur Weiterentwicklung gemeinsamer Bildung und Erziehung in der Berliner Schule gehört eine effektive Fort- und Weiterbildung der Lehrerinnen und Lehrer, insbesondere für den Sekundarbereich und für viele Schulen im Ostteil der Stadt. Bewährt haben sich die intensiven Theorie-Praxis-Seminare; das sind Fortbildungsgruppen aus den Teams einzelner Klassen und Schulen, die sich regelmäßig treffen und nach einem eigenen Programm didaktische Fragen behandeln, Unterrichtsthemen gemeinsam planen und realisieren, Probleme einzelner Schülerinnen und Schüler besprechen und Lösungen diskutieren, Fragen der Leistungsbeurteilung, der Zusammenarbeit mit Eltern usw. behandeln. Als günstig hat sich erwiesen, wenn sich die Gruppen auf ein- und dieselbe Klassenstufe beziehen. Da der Arbeitseinsatz relativ hoch ist, sind hierfür Ermäßigungsstunden unerlässlich, vor allem für Kolleginnen und Kollegen, die zum ersten Mal in einer Integrationsklasse unterrichten. Neuerdings ist ein Trend von der Fortbildung in Gruppen zur Schulprogrammentwicklung ganzer Schulen zu beobachten. Auch daran sollte sich das Berliner Institut für Lehrerfort- und -weiterbildung und Schulentwicklung (BIL) beteiligen.


(Anmerkung: der zugrundeliegende Antrag war von der Frühjahrs-LDV der GEW BERLIN am 3./4. Mai 1999 an den Landesvorstand zur Beratung und Beschlussfassung überwiesen worden.)
 


 

 

Material

Integratives Lernen als notwendiger Schritt zu einer Erziehungs- und Schulreform an der Schwelle zum 21. Jahrhundert

Gemeinsame Erziehung und gemeinsamen Unterricht gibt es in Berlin seit mehr als 20 Jahren. Besonders zu Beginn der 80er Jahre sowie durch die Änderung des Schulgesetzes 1990 erhielt das gemeinsame Lernen wichtige Impulse.

Mittlerweile kommt die integrative Entwicklung jedoch nur langsam voran, insbesondere durch die seit vielen Jahren verbreitete Auffassung, integrative Erziehung und integrativer Unterricht seien teurer als Sonderbetreuung und -beschulung. Aufgrund einer erziehungswissenschaftlichen und volkswirtschaftlichen Studie, die jetzt abgeschlossen wurde, wissen wir jedoch, daß integratives Lernen, wenn man nicht nur die Erzieher- und Lehrerstunden zugrunde legt, keineswegs teurer ist, als das sehr kostspielige Sonderschulwesen.

Hinzu kommt, dass für die Betroffenen, Kinder und Eltern, die "Aussonderung" mit vielfältigen Benachteiligungen verbunden ist und zu Etikettierung und Diskriminierung führt. Viele Kinder leiden unter dem Stigma "behindert". Deshalb setzen sich die Betroffenen selbst, vor allem die Behindertenorganisationen und -verbände, vehement für Integration ein.

Aus vergleichenden Untersuchungen wissen wir, daß die kognitive und soziale Entwicklung von Kindern mit Beeinträchtigung in integrativen Einrichtungen günstiger verläuft als in Sondereinrichtungen, da in letzteren das Lernen an einem breiten Spektrum positiver Modelle von Mitschülerverhalten fehlt. Durch ein Zusammenfassen gleichartig "Behinderter" haben die Kinder stark reduzierte Lern- und Entwicklungschancen. Man denke z. B. an die eingeschränkten Verhaltensmuster und Lernanreize in einer Klasse mit nur Sprachbehinderten, mit nur Geistigbehinderten oder mit nur Verhaltensgestörten. Aber auch Kindern ohne erkennbare Beeinträchtigung wird die Erfahrung mit eingeschränkten Möglichkeiten der Wahrnehmung, der Bewegung oder der Kommunikation und daraus folgende alternative Formen der menschlichen Begegnung vorenthalten. Auch wird ihnen die Entfaltung sozialer Kompetenz im Hinblick auf von der Norm abweichenden Formen der Lebensbewältigung nicht ermöglicht.

Ulrich Bleidick, einer der bedeutendsten Sonderpädagogen in Deutschland, hat deshalb schon vor 20 Jahren selbstkritisch über die von ihm entwickelte "Pädagogik der Behinderten" geschrieben, die Zeit sei reif für eine kritische Revision und er wisse jetzt, daß diese Pädagogik einer vergangenen Phase der Wissenschaft angehöre.

Eine Vielzahl von Elternbefragungen, die in der Zeit zwischen 1980 und 1995 durchgeführt wurden, belegen, daß die Einstellungen der Eltern sowohl behinderter wie auch nichtbehinderter Kinder zur integrativen Beschulung mit einer Zustimmungsquote von über 90 % durchweg sehr positiv waren. Aufgrund der seit mehreren Jahren sich rapide verschlechternden Rahmenbedingungen für integratives Lernen nimmt diese hohe Akzeptanz jedoch immer mehr ab. So ist heute wieder eine zunehmende Aussonderung zu beobachten. Diese Entwicklung steht im Widerspruch zu den vorliegenden integrationspädagogischen Erfahrungen und Erkenntnissen sowie zu wichtigen nationalen und internationalen Beschlüssen und Stellungnahmen der letzten Jahre zur Integration.

Am Ende dieses Jahrhunderts stellt sich deshalb der Schul- und Bildungspolitik die Aufgabe, der Weiterentwicklung integrativen Lernens durch politische Entscheidungen neue Anstöße zu geben. Sie hat sich dabei an dem Grundsatz zu orientieren, daß es normal ist, verschieden zu sein und daß die Gemeinsamkeit Voraussetzung ist, um Verschiedenheit akzeptieren zu können.

Die UNESCO-Weltkonferenz "Zur Pädagogik für besondere Bedürfnisse", die 1994 in Salamanca/Spanien stattfand, hat z. B. alle Länder der Welt aufgerufen, "unabhängig von individuellen Schwierigkeiten das Prinzip integrativer Pädagogik anzuerkennen".

Und die EU hat in ihrem Leitfaden "Auf dem Weg zur Chancengleichheit für behinderte Menschen" (1996) u. a. den Grundsatz aufgestellt, daß den Regelschullehrern die Hauptverantwortung zukommt, Kinder mit Behinderungen zu unterrichten. "Damit die Lehrer für alle Schüler Verantwortung übernehmen können, auch für Schüler mit besonderen Bildungsbedürfnissen, sind umfassende Einführungs-, Spezial- und berufsbegleitende Ausbildungsprogramme nötig."

Auch die Kultusminister-Konferenz (KMK) stellt in ihren "Empfehlungen zur Arbeit in der Grundschule" (1994) fest: "Grundschule und Sonderschule sollen dafür Sorge tragen, daß behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsame Erfahrungen machen können".

Der Bundestag hat 1994 Menschen mit Behinderung ausdrücklich in den Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes einbezogen und den Satz 2 aufgenommen: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden". Dieses Grundrecht ist 1995 in die Berliner Verfassung, Art. 11, übernommen und durch den Satz ergänzt worden: "Das Land ist verpflichtet, für die gleichwertigen Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne Behinderung zu sorgen." Dies bedeutet pädagogisch und schulpolitisch, daß Kinder mit Beeinträchtigungen nicht gegen ihren Willen oder den ihrer Erziehungsberechtigten in eine Sondereinrichtung eingewiesen werden dürfen. Ordnet die Schulbehörde trotzdem die Überweisung in eine Sonderschule an, so muß sie nach Darlegung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) substantiiert begründen, warum die organisatorischen, personellen oder sächlichen Schwierigkeiten für eine integrative Beschulung im konkreten Fall nicht überwunden werden können.

Auf der Grundlage des neuen Art. 3 GG stellte das BVerfG in seinem Integrationsbeschluß vom 8.10.97 aufgrund der Verfassungsbeschwerde einer Schülerin mit Körperbehinderung gegen ihre Sonderschuleinweisung fest: "Integrative Beschulung wird von der pädagogischen Wissenschaft wie von maßgeblichen politischen Gremien überwiegend positiv beurteilt und als verstärkt realisierungswürdige Alternative zur Erziehung und Unterrichtung in Sonder- und Förderschulen befürwortet."

Berücksichtigt man außerdem, daß im europäischen Vergleich die Integrationsquote z. B. in Norwegen und Italien bereits bei 100 % liegt, in Portugal bei 70 %, in Spanien bei 50 %, in Schweden, Dänemark, Luxemburg, Großbritannien und Österreich bei 30 %, in der Bundesrepublik aber nur bei 5 %, dann wird deutlich, daß hier eine wichtige schul- und gesellschaftspolitische Aufgabe liegt. Es stünde der Bundeshauptstadt Berlin gut an, diesbezüglich eine Vorreiterrolle zu übernehmen und neue Schritte zur Überwindung von individueller und sozialer Benachteiligung zu unternehmen.

Kosmetische Korrekturen sind nach 20 Jahren positiver Integrationserfahrungen in Berlin sowie nach dem Beschluß des Bundestages von 1994 und der Entscheidung des BVerfG von 1997 nicht mehr zu rechtfertigen. Was jetzt notwendig ist, ist die schulrechtliche Durchsetzung von integrativer Erziehung und integrativem Unterricht als Regelfall und im Zusammenhang damit eine deutliche Verbesserung der personellen und materiellen Voraussetzungen. Integration darf nicht zu einer "Billig-Variante" verkommen.

Deshalb kann es nicht das Ziel aller Schulen sein, wie es im Diskussionsentwurf zum neuen Berliner Schulgesetz vom 29.10.98 im Teil 1, § 2 (5), S. 7 heißt, an der Integration "mitzuwirken", sondern das Ziel muß sein, Schule strukturell so zu verändern, daß Aussonderung nicht mehr erforderlich ist. Das Ziel muß also eine integrationsfähige Schule sein, und nicht wie bisher, integrationsfähige Schüler.

Dies wird aber von der Schulverwaltung offensichtlich so nicht angestrebt, denn in dem Leitfaden zum neuen Berliner Schulgesetz vom 12.11.98, S. 12, wird der Grundsatz vertreten, daß in einer Klasse keine "ungeeigneten Schüler" sein dürfen, "um die geeigneten Schüler in ihrer Entwicklung nicht zu behindern". Solche Forderungen erhöhen das Spannungsverhältnis und die widersprüchlichen Anforderungen zwischen der Wettbewerbs- und Leistungsorientierung auf der einen und der Integration auf der anderen Seite, statt sie durch ein Bekenntnis zu zieldifferentem Lernen und Abschlüssen mit unterschiedlichen Profilen zu entschärfen. Hier werden auch Untersuchungen zur Effizienz integrativer Beschulung ignoriert, die allesamt belegen, daß im gemeinsamen Unterricht mit Binnendifferenzierung leistungsstärkere Schüler in ihrem Lernfortschritt nicht gehemmt werden, sondern, im Gegenteil, auch ihre "besonderen" Bedürfnisse entsprechende Berücksichtigung finden.