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Tendenzen

40 Jahre Humanistische Lebenskunde

Mit über 73.000 Schüler*innen in Berlin hat sich das Konzept in den letzten Jahrzehnten vom Nischenfach zum Erfolgsmodell entwickelt.

Foto: IMAGO

Kleine Gruppen, freiwilliger Unterricht, ohne Noten, offener Lehrplan, weltlich-humanistische Grundlagen – Lebenskundelehrer gesucht« – so in etwa lautete die kleine Anzeige in einer Ausgabe der damaligen »Berliner Lehrerzeitung« (blz) der GEW im Jahr 1984. Und sie traf bei mir den richtigen Punkt. Denn als engagierter Gesamtschullehrer war ich vom »Praxisschock« im sozialen Brennpunkt Neukölln doch recht gebeutelt und suchte nach pädagogischen Alternativen. Also meldete ich mich beim damaligen Deutschen Freidenker-Verband (DFV), aus dem 1993 der Humanistische Verband Deutschlands, Landesverband Berlin, hervorging, um der erste staatliche Lebenskundelehrer in der Sekundarstufe zu werden. 

Das Fach war gerade erst von der katholischen Schulsenatorin Hanna-Renate Laurien (CDU) nach einem zweijährigen Schulversuch an einer Neuköllner Grundschule unter der Trägerschaft der Freidenker zugelassen worden. Und das Kollegium bestand aus einer einzigen hauptamtlichen Lehrkraft und einer Handvoll staatlicher Grundschulkolleg*innen. Die Schüler*innenzahl überstieg kaum die Einhundert. 

Genau 40 Jahre später ist aus dieser kleinen pädagogischen Nische das größte Fach im Bereich des Religions- und Weltanschauungsunterrichtes in Berlin geworden. Im aktuellen Schuljahr 2024/25 ist der Humanistische Verband mit über 73.000 Schüler*innen und über 400 hauptamtlichen Lehrkräften mit dem Schwerpunkt öffentliche Grundschulen der größte Anbieter.

 

Den kleinen und großen Fragen auf der Spur

 

Die Gründe sind vielfältig. Ein ausgesprochen kritisch denkendes Umfeld in Berlin, zunehmende Säkularisierung und Individualisierung sowie kulturelle Vielfalt begünstigen das Interesse nach humanistischer Orientierung. Vor allem ist es das attraktive Konzept der Lebenskunde selbst, wie es schon in eingangs erwähnter Anzeige formuliert ist. Auf dieser Grundlage den kleinen und großen Fragen des Lebens aus einer weltlich-humanistischen Sicht in vielfältiger Weise auf der Spur zu sein – das trifft auf das große Interesse von Eltern und Kindern. 

Eine weitere wichtige Voraussetzung ist die weitgehende Trennung von Kirche/Weltanschauung und Staat in der Schule, die hier seit Ende des zweiten Weltkrieges fest verankert ist – und damit die absolute Freiwilligkeit sowie Autonomie der Träger. Zwar hatten christlich-konservative Kräfte vor gut 15 Jahren versucht, im Rahmen ihrer »Pro-Reli«-Kampagne diese Trennung aufzuheben und damit zugleich auch das allgemeinverbindliche Fach Ethik auszuhöhlen. Doch ging der entsprechende Volksentscheid 2009 nach hinten los: Nur 14 Prozent der Wahlberechtigten stimmten für »Pro-Reli«. Wie sehr den christlich-konservativen Kräften dieses ausgesprochen progressive »Berliner Modell« ein Dorn im Auge ist, zeigt sich nicht zuletzt an den aktuellen Bemühungen des CDU-geführten Schulsenats, den Religionsunterricht doch noch im Rahmen eines Wahlpflicht-Modells quasi durch die Hintertür zu einem »ordentlichen Schulfach« zu machen.

Mit der Wiedervereinigung im Jahr 1990 erweiterte sich auch der Zuständigkeitsbereich der damaligen West-Berliner Freidenker*innen auf den weitgehend konfessionsfreien Ostteil der Stadt. Neben Jugend-FEIERN, Schwangerschaftskonflikt-Beratung, Jugend- und Sozialarbeit wurde vor allem der Lebenskundeunterricht der Freidenker*innen in Ost-Berlin sehr schnell bekannt und attraktiv. 

Und genau das war den Konservativen ein Dorn im Auge. So versuchte der CDU-geführte Kultursenat im Jahr 1994 die Förderung für den Lebenskundeunterricht in Ost-Berlin im Vergleich zum Religionsunterricht mit der Begründung zu halbieren, die Kirchen hätten ja viel mehr Mitglieder. 

Aber eine starke Protestwelle und vor allem eine erfolgreiche Klage vor dem Oberverwaltungsgericht konnten für eine faire Gleichbehandlung sorgen. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Argumentation der Richter des OVG in Berlin, die sich explizit auf die aus der Weimarer Reichsverfassung übernommenen Grundgesetzartikel zum Staats-Kirchenrecht beriefen, wonach »Weltanschauungsgemeinschaften« wie der HVD den Religionsgemeinschaften gleichzustellen sind. Dieser historische Artikel konnte 1919 erst durch das massive Auftreten von freidenkerischen und sozialliberalen Politikern der katholischen Zentrumspartei abgerungen werden. 

 

»Westberlin finanziert Gottlosenpropaganda«

 

Mit anderen Worten – die Lebenskundelehrkräfte des Jahres 1995 profitierten mit ihrem Engagement direkt vom erfolgreichen Kampf ihrer Vorreiter*innen in der Novemberrevolution und frühen Weimarer Republik. Ein ähnlicher Erfolg konnte im gleichen Jahr beim Lehrerbildungsgesetz erreicht werden, als es gelang, die Lebenskunde erstmals darin zu verankern. »Einem Antrag der FDP zur Einführung der atheistischen Lebenskunde in die Berliner Lehrer*innenbildung hat heute die Vereinigte Linke aus SPD/Grüne/PDS über die parlamentarische Hürde geholfen«, kommentierte die CDU bissig ihre Niederlage.

Diese Reaktion erinnerte in fataler Weise an das Echo auf die Initiative des damaligen Regierenden Bürgermeisters und späteren Bundeskanzlers Willy Brandt, als dieser 1959 im Abgeordnetenhaus den Beschluss durchboxte, den Lebenskundeunterricht finanziell zu fördern. »Unglaublich: 90.000 DM bereitgestellt. Westberlin finanziert Gottlosenpropaganda!«, kommentierte die katholische Wochenzeitung Neue Bildpost. Leider ebbte das Interesse an diesem Fach in der Nachkriegszeit bald ab, bis es 1984 wieder eingeführt wurde.

Die heutige Humanistische Lebenskunde steht mit ihrem spezifischen Ansatz in einer langen reformpädagogischen Tradition. So konnten in der Weimarer Republik in den Zentren der Arbeiter*innenbewegung in den sogenannten »weltlichen Schulen« erstmals der Religionsunterricht durch eine »Lebenskunde« ersetzt werden – deutschlandweit erstmals 1920 in Treptow – an der heutigen Anna-Seghers-Gemeinschaftsschule, wo eine Tafel im Eingangsbereich daran erinnert. 

Auffällig sind dabei die ganz ähnlichen didaktischen Schwerpunkte wie heute: Selbstbestimmung, Verantwortung, Solidarität und kritisch-wissenschaftliches Denken wurden methodisch gepaart mit Gruppenarbeit und Projekten. Protagonist*innen waren zumeist sozialistisch orientierte Pädagogen*innen und Schulpolitiker*innen wie Fritz Karsen oder Kurt Löwenstein in Neukölln. 1933 zerschlugen die Nazis diese Schulen und das Fach Lebenskunde.

 

Lehrer*innen werden besonders qualifiziert

 

Die Schüler*innen mussten wieder zurück in den christlichen Religionsunterricht gehen, der während der gesamten Nazizeit in keiner Weise beeinträchtigt wurde. Und es waren wiederum Rektor*innen und Schüler*innen dieser Schulen, die im Widerstand vielen Juden*Jüdinnen halfen. So wurde die spätere Schriftstellerin Inge Deutschkron (Autobiografie »Ich trug den gelben Stern«, Bühnenadaption »Ab heute heißt du Sarah«) unter anderem vom ehemaligen Rektor der 208. Weltlichen Schule in Berlin-Wedding, Walter Rieck, versteckt und konnte so überleben. Rieck wurde 1946 Bürgermeister von Berlin-Wilmersdorf und 1971 in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als »Gerechter unter den Völkern« geehrt. Auf diese Tradition kann die Humanistische Lebenskunde sehr stolz sein.

Die besondere Herangehensweise erfordert aufseiten der Lehrer*innen auch besondere Qualifikationen. Neben den klassischen Bezugsfächern wie Philosophie, vergleichende Religionswissenschaft und allgemeine Pädagogik gibt es spezielle Kursangebote wie Supervision und psychoanalytische Pädagogik. Bis vor kurzem wurden die Lehrkräfte am HVD-eigenen Ausbildungsinstitut ausgebildet. Nun findet die Ausbildung an der 2021 gegründeten ersten Humanistischen Hochschule Deutschlands in Berlin im Rahmen eines Masterstudienganges statt.

Mittlerweile wird das »Berliner Modell« mit seiner Trennung von Kirche und Staat und der Existenz einer weltlich-humanistischen Alternative in Form der Humanistischen Lebenskunde auch in anderen Bundesländern mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und könnte damit auch kultur- und bildungspolitisch Vorbild auf Bundesebene werden.

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Privat:  030 / 219993-46