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Schwerpunkt „Deine Arbeitszeit ist messbar“

64 Prozent der Berliner Lehrkräfte arbeiten zu viel

Die Ergebnisse der Berliner Arbeitszeitstudie belegen, was viele Lehrkräfte schon ahnten: Eine große Mehrheit arbeitet zu viel und ist einem hohen Gesundheitsrisiko ausgesetzt.

FOTO: BETSI SCHUMACHER, VERFREMDUNG BLEIFREI

Die tatsächlich benötigte Arbeitszeit der Berliner Lehrkräfte weicht in hohem Maße von den Vorgaben der Arbeitszeitregelungen ab. Hinzu kommen Verstöße gegen Arbeitsschutzgesetze, was einmal mehr verdeutlicht, dass die Rahmenbedingungen für Lehrkräfte substantiell verbessert werden müssen. Offenkundig ist das Aufgabenvolumen von dem vorhandenen Personal nicht hinreichend zu bewältigen. Angesichts neuer Höchststände sind durchgreifende Entlastungsmaßnahmen erforderlich.

Der Dank des Studienteams gilt allen teilnehmenden Lehrkräften, nicht zuletzt, weil wir wissen, wie aufwendig die differenzierte Zeiterfassung war. Dennoch kam ein Auswertungssample mit 1.217 Arbeitszeitbilanzen in hoher Eintragsqualität zusammen, im Mittel wurden 48 Wochen vollständig und differenziert dokumentiert. Wenig verwunderlich, dass vor allem viele Vollzeitkräfte nicht das gesamte Schuljahr durchhalten konnten.

Nach einem Jahr Arbeitszeitdokumentation, umfassenden wissenschaftlichen Qualitätsprüfungen und Auswertungsarbeiten liegt jetzt eine verlässliche Datenbasis für die Entwicklung evidenzbasierter Lösungen für das Berliner Schulsystem vor. 

 

94 Stunden Mehrarbeit pro Jahr

 

Für das Schuljahr 2023/2024 beträgt der Umfang der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit in den Schulformen Grundschule, Integrierte Sekundar- und Gemeinschaftsschule sowie Gymnasium 1.888 Stunden. Gegenüber der Normvorgabe von 1.772 zu leistenden Jahresstunden ergeben sich daraus im Mittel 116 Stunden Mehrarbeit für ein Vollzeitlehreräquivalent (normiert auf 100 Prozent-Stellen). Teilzeitkräfte setzen dafür mehr unvergütete private Zeit ein und bringen deshalb proportional auch mehr Mehrarbeit als Vollzeitkräfte ein. Aufgrund ihres Übergewichts unter den Studienteilnehmer*innen entsteht eine Verzerrung in der Stichprobe (Bias). Wenn man diesen Bias ausgleicht, indem die Arbeitszeitwerte nach der Struktur der Grundgesamtheit der Lehrkräfte gewichtet werden, ergibt sich eine strukturelle Mehrarbeit von 94 Stunden pro Jahr. 

Aufgrund der Besonderheiten der Lehrkräftearbeit kann die Wochenarbeitszeit aber nicht einfach in einem Wert angegeben werden. Hier gibt es drei Orientierungswerte (siehe Abbildung 1), bei denen die Jahresarbeitszeit auf Wochen umgerechnet wird:

Im Deputatsystem werden üblicherweise kalkulatorische Durchschnittswochen angegeben, bei denen alle anfallenden Arbeitszeiten auf die circa 38 Schulwochen bezogen werden. Hier ergeben sich im Sample beachtliche 50:21 Stunden. Ganzheitlich umfasst eine Durchschnittswoche alle Arbeitszeiten, egal ob sie an Schultagen, Wochenenden, Feier- oder Ferientagen geleistet wurden. Beim Abgleich mit der in der KMK üblichen Erwartungsgröße, sprich den zu leistenden Arbeitsstunden in einer Normwoche von 47:15 Stunden (SOLL), kommt so eine kalkulatorische Mehrarbeit von 03:06 Stunden pro Woche zustande. Bezogen auf die Verteilung der circa 30.000 Lehrkräfte in den vier Schulformen ergibt sich eine korrigierte Durchschnittswoche von 49:45 Stunden. Der Saldenüberschuss, also die zu viel geleistete Arbeitszeit, reduziert sich auf 02:30 Stunden.

Für einen Vergleich mit anderen Landesbediensteten und Branchen, die typischerweise circa 44 Arbeitswochen bei 40 Stunden arbeiten, wäre eine damit vergleichbare Arbeitswoche zu ermitteln. Diese Orientierungsgröße beträgt gewichtet 42:14 Stunden und ergibt eine wöchentliche Mehrarbeit von 02:14 Stunden. Oder anders gesagt: Berliner Lehrkräfte leisten mehr als 50.000 Stunden Mehrarbeit pro Woche.

Betrachtet man nur die Arbeitszeit, die real in der Schulzeit, also nicht an Ferien- und Feiertagen, geleistet wird (Schulzeitwoche), kann man unter Berücksichtigung des Bias von mindestens 46:40 Stunden Arbeitszeit im Durchschnitt ausgehen. Die Schulzeitwoche ist deshalb interessant, weil so bestimmt werden kann, wann Lehrkräfte die gesetzlich festgelegte Höchstarbeitszeit von 48 Stunden pro Woche überschreiten. 

 

Lehrkräfte arbeiten abends, nachts und am Wochenende

 

Im Längsschnitt scheint es einen Trend zu höherer Arbeitszeit im Schulsystem zu geben. Im Vergleich mit der methodisch nahezu identischen ganzjährigen niedersächsischen Zeiterfassung im Schuljahr 2015/16 ergibt sich ein Plus von eineinhalb bis zwei Stunden pro Woche in Berlin. Arbeitszeitwerte anderer Studien gehen in die gleiche Richtung, und auch weitere Berliner Befunde stützen die Interpretation einer aus dem Ruder laufenden Arbeitszeit, die den Beruf einer Lehrkraft in dieser Form zunehmend unattraktiv macht. 

Insgesamt leistet ein sehr hoher Anteil von 64 Prozent der Berliner Lehrkräfte Mehrarbeit und 30 Prozent der Vollzeitkräfte arbeiten sogar länger als 48 Stunden in einer Schulwoche (siehe Abbildung 2). Bereits der Umfang der Arbeitszeit und seine Konzentration auf circa 38 Schulwochen setzen Lehrkräfte einem höheren Gesundheitsrisiko aus. Verstärkt werden die Risiken durch eine Entgrenzung der Arbeitszeit ohne ausreichende Erholungsmöglichkeiten. Lehrkräfte bringen abends, nachts und auch am Wochenende substantielle Zeitanteile ein. Im Jahresverlauf treten immer wieder mehrwöchige Phasen besonders hoher Belastung auf. 

 

Teilzeit- und Gymnasiallehrkräfte arbeiten besonders viel

 

Es gibt große Unterschiede bei der Mehrarbeit: Alle Teilzeitkräfte zusammen haben pro Durchschnittswoche eine um 03:24 Stunden höhere IST-SOLL-Differenz als Vollzeitkräfte. Da sie insbesondere viel mehr Unterrichtsvor- und -nachbereitung sowie Korrekturen und Kommunikation einbringen, unterscheidet sich auch ihre Tätigkeitsstruktur bei 52:02 Stunden signifikant (siehe Abbildung 3 auf der nächsten Seite). Vollzeitkräfte bringen im Mittel 48:38 Stunden und damit 01:23 Stunden mehr Arbeitszeit als die geforderte Normwoche von 47:15 Stunden ein. Auch mit der Übernahme von Schulleitungsaufgaben geht schulformübergreifend eine um 03:11 Stunden höhere Arbeitszeitbelastung einher. Zudem bestätigt sich der schon traditionelle Befund, dass Lehrkräfte am Gymnasium mit 04:35 Stunden die höchsten Mehrarbeitsanteile einbringen. 

Treiber der Mehrarbeit scheinen dabei neue und zusätzliche Aufgaben zu sein, die mit der Digitalisierung, dem Personalmangel und der gewachsenen Vielfalt der pädagogischen Anforderungen, wie Inklusion, Migration und psychischen Belastungen, in Verbindung stehen. So zeigt die Veränderung der Struktur der Tätigkeiten ein weiteres Anwachsen der nicht auf den Unterricht und damit nicht auf die Kernaufgabe von Lehrkräften bezogenen Arbeitszeit (siehe Abbildung 4 auf der übernächsten Seite). Der strukturelle historische Trend der Zunahme sogenannter außerunterrichtlicher Aufgaben bei gleichzeitigem Schrumpfen von Unterrichts- sowie Vor- und Nachbereitungsanteilen ist ungebrochen.

 

Pausen auslassen und schneller arbeiten

 

Mit Blick auf ausgesprochen hohe Belastungswerte und alarmierende Ergebnisse zu Lehrkräften mit erhöhten Gesundheitsrisiken in den im Rahmen der Studie durchgeführten Belastungsumfragen ist zu vermuten, dass der Arbeitsdruck von vielen Lehrkräften nicht (nur) mit einer Verlängerung der Arbeitszeit beantwortet wird, sondern mit einer ebenfalls selbstschädigenden Strategie der Leistungsintensivierung. Sie lassen dann beispielsweise Pausen aus, arbeiten schneller oder bearbeiten verschiedene Aufgaben gleichzeitig. Dies gilt vor allem für Vollzeitkräfte, die Schwierigkeiten haben, ihre Arbeitszeit zu verlängern. Entsprechend schlägt sich dies auch nicht unbedingt in quantitativen Arbeitszeitbilanzen nieder, sondern beispielsweise in den hohen Werten für psychische Erschöpfung (Burnout) und sorgt langfristig für Ausfälle durch Krankheit oder vorzeitige Pensionierungen. 

Aus der Perspektive des Arbeits- und Gesundheitsschutzes bedarf es deshalb einer Reduzierung der Leistungsanforderungen für Lehrkräfte und zum Ausgleich eine deutlich verbesserte Personalausstattung an den Schulen. Dies klingt geradezu utopisch angesichts des Lehrkräftemangels besonders, aber nicht nur in Berlin. Doch die aktuellen Arbeitsbedingungen für Lehrkräfte machen den Beruf unattraktiv, wahrscheinlich werden sich ohne die Aussicht auf eine nachdrückliche Verbesserung weiterhin zu wenig Menschen für ein Lehramtsstudium und die Arbeit in den Schulen entscheiden. Quintessenz ist: Zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen muss unbedingt nach Wegen der Entlastung gesucht werden. 

 

Andere Berufsgruppen könnten Lehrkräfte entlasten

 

Bei der Suche nach Unterstützung ist nicht nur der Quer- und Seiteneinstieg in den Lehrberuf zu erleichtern, es sollte auch dafür gesorgt werden, dass andere Berufsgruppen zusätzlich eingestellt werden und sie Lehrkräfte auch tatsächlich entlasten. Vorbehalte gegenüber nicht klassisch ausgebildeten Kräften in der Schule sind angesichts der Lage unangebracht. 

Alles in allem ist in den Schulen eine Stärkung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes erforderlich, bei der vorgenommene Maßnahmen systematisch daraufhin geprüft werden müssen, ob und inwieweit sie auch zur Entlastung von Lehrkräften beitragen können. Insbesondere wäre es ein schwerwiegender Fehler, als Reaktion auf den Lehrkräftemangel die Möglichkeiten der Teilzeitarbeit einzuschränken, wie es in dem Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der KMK 2023 vorgeschlagen worden ist. Lehrkräfte nutzen die Teilzeitarbeit als Möglichkeit, ihre Belastung zu regulieren und eine dauerhafte Überforderung zu vermeiden. Dies gelingt mehr schlecht als recht, was daran zu erkennen ist, dass Teilzeitkräfte durchaus nicht über eine bessere Gesundheitssituation verfügen als Vollzeitkräfte. Teilzeitarbeit hat zudem eine wichtige Funktion, weil sie die Bildungsqualität sichert, weil Teilzeitkräfte mehr Zeit für die Vor- und Nachbereitung ihres Unterrichts aufbringen (können) und relativ mehr Mehrarbeit leisten. Insofern stärkt Teilzeitarbeit geradezu die Resilienz von Lehrkräften – und in einem übertragenen Sinne so auch die Resilienz des Schulsystems. Eine Einschränkung der Möglichkeiten zur Teilzeit würde statt »Beschäftigungsreserven« zu heben, wahrscheinlich mittelfristig eher das Gegenteil erreichen, nämlich erhöhte Krankenstände, vorzeitiges Ausscheiden aus dem Beruf oder einen Berufswechsel.

 

Das Deputatsystem ist überfordert

 

In der Breite dokumentieren die Ergebnisse der Studie die quantitativen und qualitativen Dimensionen einer schul- und arbeitspolitischen Herausforderung. Sie werfen die Frage auf, wie die großen Abweichungen von Arbeitszeitvorgaben und tatsächlichem Zeitverbrauch vermieden werden können. Wie können die identifizierten Treiber der Mehrarbeit begrenzt und die Gesundheit der verschiedenen Lehrkräftegruppen, die sich durch besonders hohe Mehrarbeitsanteile auszeichnen, besser geschützt werden? Die Studienergebnisse legen die Schlussfolgerung nahe, dass das Deputatsystem damit überfordert ist, die Aufgabenverteilung und Arbeitszeit im Schulsystem zu regeln. Kurz gesagt: Es ist nicht mehr zeitgemäß, Strukturreformen sind notwendig.

Bildungs- und Arbeitspolitik sollten sich besinnen und neu priorisieren. Zu den Zielen eines Reformmodells muss eine Hinwendung zu den pädagogischen Kerntätigkeiten gehören, was zwingend mit einer Umkehr des strukturellen Trends der Zunahme der sogenannten außerunterrichtlichen Aufgaben verbunden sein sollte. Lehrkräfte müssen genügend Zeit bekommen, ihre Kernaufgaben im Unterricht in hoher pädagogischer Qualität zu erfüllen. Außerdem müssen sie sich auch angemessen an den allgemeinen pädagogischen Aufgaben in ihrer Schule, wie beispielsweise Inklusion, digitale Lehr- und Lernformate und Schulentwicklung, beteiligen können. Um Mehrbedarfe zu berücksichtigen und Saldenungleichgewichte auszugleichen, könnte mit Hilfe einer verbindlichen, pragmatischen Arbeitszeitdokumentation ein Mechanismus installiert werden, um die knappen Ressourcen gezielter zu steuern und in den Schulen für individuelle und zeitnahe Entlastung zu sorgen. 

 

Ausführliche Informationen zu der Arbeitszeitstudie sowie zu den Belastungsumfragen unter: kooperationsstelle.uni-goettingen.de/projekte/arbeitszeit-arbeitsbelastung-berlin