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Schwerpunkt "Aufruhr im Hörsaal"

95 Thesen gegen Zeitvertäge

Es begann mit einem Hashtag und entwickelte sich zu einer erfolgreichen Online-Kampagne gegen die Befristung von Arbeitsverträgen in der Wissenschaft.

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Foto: Bertolt Prächt

Alles begann als Witz in einem sozialen Online-Netzwerk. Eine Wissenschaftlerin twitterte an Halloween, sie wolle als Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) gehen. Dieses Gesetz verschafft den Universitäten ein Sonderbefristungsrecht und führt dazu, dass viele Beschäftigte über Jahre nur befristet angestellt werden und somit keine dauerhafte soziale Absicherung erhalten. Wenn die Beschäftigten es in einer bestimmten Zeit nicht schaffen, eine der wenigen Professuren oder Dauerstellen zu ergattern, müssen sie sich oft endgültig von der Universität verabschieden.

Vom Hashtag zum Trend

Sebastian Kubon griff den Impuls auf und schlug vor, stattdessen lieber den Reformationstag zu begehen und 95 Thesen gegen das Wissenschaftszeitvertragsgesetz zu sammeln. Nachdem die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Amrei Bahr und Kristin Eichhorn die ersten Thesen geliefert hatten, war der Hashtag #95vsWissZeitVG schnell etabliert und bald sogar in den Twitter-Trends zu finden. Noch über Monate sammelten mehrere Hundert Wissenschaftler*innen auf Twitter Argumente für eine Abschaffung des WissZeitVG. Aus diesen Beiträgen ist eine Internetseite entstanden, auf der die 95 Thesen nachgelesen werden können.

Die Diskussion wurde noch einmal durch einen Tweet angeheizt, den das Bundesministerium für Bildung und Forschung etwa einen Monat später absetzte. In diesem Tweet wurde das Gesetz dafür gepriesen, dass es den wissenschaftlichen Institutionen »a certain degree of flexibility« verschaffe. Diese Flexibilität freilich geht auf Kosten der Arbeitnehmer*innen in der Wissenschaft, die sich Jahr um Jahr von einer befristeten Stelle zur nächsten hangeln, dazwischen regelmäßig Phasen der Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen und Gelder für ihre Weiterbeschäftigung erst selbst einwerben müssen. Entsprechend fühlten sich die Wissenschaftler*innen von der Darstellung des Ministeriums geradezu in ihren Nöten verhöhnt. Bis heute sind auf Twitter Nachrichten zu lesen, in denen Wissenschaftler*innen ihre Wut über die Aktion des Ministeriums zum Ausdruck bringen.

Ein Gesetz mit desaströsen Folgen

Die derzeitige Lage – das wird aus den Thesen deutlich – ist nicht nur eine Belastung für einzelne Wissenschaftler*innen, sondern geht auf Kosten von Wissenschaft und Gesellschaft. Durch die ständigen Neueinstellungen werden horrende Summen an Steuergeldern verschleudert und der Verwaltungsaufwand steigt ins Unermessliche. Den Studierenden fehlen kontinuierliche Ansprechpartner*innen und Betreuer*innen für ihre Abschlussarbeiten, weil die Lehrenden, bei denen sie studiert haben, nach wenigen Jahren die Universitäten verlassen müssen. Wissenschaft und Lehre sind an kurzfristigen Projekte orientiert, statt auf den Aufbau langfristiger und in der Breite wirkender Strukturen.

Wissenschaftler*innen schreiben Bewerbungen, statt zu lehren und zu forschen. Sie leiden psychisch unter Existenzsorgen und dem ständigen Bewährungsdruck. Unbezahlte Mehrarbeit von durchschnittlich 13 beziehungsweise 10 Stunden vor und nach der Promotion pro Woche sind die Regel, weil die Beschäftigten ständig um ihre Vertragsverlängerung bangen und folglich selten das Risiko eingehen, die Einhaltung des geltenden Arbeitsrechts einzuklagen.

An die Stelle riskanter Forschungsvorhaben treten Bemühungen um karrieredienliche und antragsfähige Projekte sowie unsichtbare Zuarbeit für Vorgesetzte, die zum Teil formal als Antragssteller*innen fungieren, obwohl sie zum Antragstext oft nur wenig, mitunter sogar überhaupt nichts beigetragen haben.

Dass Wissenschaftler*innen überdies immer wieder auf Unterstützung aus den Sozialkassen angewiesen sind und ihre Arbeit auf Arbeitslosengeld I und II fortführen, um noch eine Chance auf spätere Wiedereinstellung zu haben, ist gängige Praxis, führt aber zu geringeren Einzahlungen in die Sozialversicherungen, etwa in die Rentenkasse. Altersarmut ist damit vorprogrammiert.

Folglich ist Wissenschaft in Deutschland nicht zuletzt wegen des WissZeitVG etwas für die, die sich die Arbeit unter derart prekären Bedingungen leisten können – was die von Karrierestufe zu Karrierestufe abnehmende Diversität des Personals erklärt. Die Betreuung von Kindern und andere Care-Aufgaben sind mit der wissenschaftlichen Karriere unter den derzeitigen Bedingungen schwer vereinbar. Da Wissenschaftler*innen lange keinen festen Lebensmittelpunkt haben und oft mehrere hundert Kilometer zu ihrem Dienstort pendeln, weil sich ein Umzug für wenige Jahre nicht lohnt, wird das eigentlich solide Gehalt im öffentlichen Dienst zudem selbst auf vollen Stellen schnell aufgezehrt.

Die Politik muss jetzt reagieren

Der Erfolg der Aktion #95vsWissZeitVG zeigt die Frustration, die sich inzwischen in Bezug auf die Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft bei den meisten Beschäftigten aufgestaut hat. Das WissZeitVG ist sicher nicht die einzige Stellschraube, an der zu drehen wäre, steht aber stellvertretend für eine Befristungspraxis, die in Deutschland ihresgleichen sucht. Dank dieses Sonderbefristungsrechts sind laut dem aktuellen »Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs« immer noch 92 Prozent aller Wissenschaftler*innen unter 45 Jahren an Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen befristet angestellt – während der Anteil der Befristungen gesamtgesellschaftlich dagegen marginal ist und sogar immer weiter sinkt.

Von einem Normalarbeitsverhältnis – der vollen unbefristeten Stelle – können die meisten Wissenschaftler*innen in der Regel nur träumen. Endet die wissenschaftliche Karriere dann nach 12 Jahren, weil das WissZeitVG eine darüber hinaus gehende Befristung (mit Ausnahme weniger Sonderregelungen) strikt verbietet und unbefristete Stellen rar sind, so war die über Jahre investierte (Mehr-)Arbeit in der Hoffnung auf eine Dauerperspektive in der Wissenschaft umsonst.

Der Zuspruch zur Aktion #95vsWissZeitVG macht aber deutlich, dass ein Mentalitätswandel eingesetzt hat. Immer weniger junge Forschende sind bereit, diese oft desaströsen Zustände weiterhin als normales Erfordernis auf dem Weg zur Entfristung hinzunehmen, insbesondere wenn der außerakademische Arbeitsmarkt je nach Fach bessere Chancen bietet. Die Wissenschaftspolitik ist am Zug und muss reagieren, will sie eine innovative und qualitativ hochwertige Forschung in Deutschland halten beziehungsweise überhaupt erst etablieren. Das wird nur gelingen, wenn auch Forschenden jenseits der Professur endlich akzeptable Arbeitsbedingungen geboten werden.      

Während der Vorbereitung dieses Titels hat sich in den sozialen Medien ein neuer Protest gegen das Wissenschaftszeitvertragsgesetz formiert. Unter dem Hashtag #ichbinhanna kritisieren junge Wissenschaftler*innen erneut die Befristungspraxis an deutschen Universitäten.

Die Internetseite zur Kampagne: https://95vswisszeitvg.wordpress.com/

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Privat:  030 / 219993-46