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Schule

97 ist die neue 100

Durch Zahlentricks und mehr Stühle versuchen der Senat und das Bezirksamt Neukölln vergeblich, die Krise an den Neuköllner Schulen zu entschärfen.

ILLUSTRATIONEN: ADOBE STOCK/DZMITRY (ESEL), ANATOLIR (SÄCKE)

Nach einem Jahr Sabbatical kam ich im letzten August voller Energie und Inspiration nach Berlin zurück. Jetzt kann es wieder richtig losgehen, dachte ich. Ich fand aber ein müdes und resigniertes Kollegium vor – die Motivation im Sinkflug. Was hatte man ihnen angetan? Sind die Sommerferien in Berlin dieses Jahr ausgefallen? Nach ein paar Schulwochen habe ich auch das Gefühl, in einem Paralleluniversum gelandet zu sein. In einem Universum, in welchem eine alternative Realität herrscht. Langsam fange ich an zu ahnen, dass, während ich mich ein Jahr lang im Süden entspannte, in Berlin etwas äußerst Unentspanntes passiert sein musste.

Ein tschechisches Sprichwort kommt mir tagtäglich immer wieder in den Sinn: Stokrát nic, umořilo osla. »Viele kleine Säcke sind des Esels Tod.«

Und da erwartete uns »kein normales Schuljahr«, wie es die Bildungssenatorin vor dem Schulstart formuliert, denn die Rekordschüler*innenzahlen, der Fachkräftemangel, Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg und Energiesparmaßnahmen spitzen die Krise weiter zu.

 

Ein guter Plan fehlt

 

Wie reagiert denn die Bildungsverwaltung auf diese Herausforderungen? Sie hat natürlich einen strategischen Plan, oder? Aber ja, ich verpasste im Sabbatical die Berliner arithmetische Revolution oder eher den Berliner Quantensprung: 97 Prozent sind jetzt die neuen 100 Prozent. So einfach kann’s gehen, ein kleiner Zahlentrick und das Problem der personellen Unterausstattung an Schulen gelöst. Ein kleiner großer Sack für den Esel: 97 Prozent gleich 100 Prozent.

Kapiere ich nicht. Wie soll es funktionieren, wenn hundert Prozent schon nicht funktionierten? Habe ich in meinem Sabbatical zu viel Sonne abgekriegt oder leidet der Senat unter Realitätsverlust? Als Englischlehrerin kommt mir sofort Orwells 1984 in den Sinn »Wenn die Partei sagt, dass 2+2=5 ist, dann ist es so.« Welche Wertschätzung für uns und unsere Arbeit! Die schöne neue Welt heißt jetzt 97 Prozent, kommt klar… Ein weiterer Sack für den Esel: keine Wertschätzung.

OK! Wie soll das aber praktisch aussehen? Es wird uns erklärt: Es seien genug Lehrkräfte im System, die Stundentafel sei nicht in Gefahr. Stattdessen sollten die Schulen bei den übrigen Angeboten streichen. Es könne etwa ein Teil der Förderangebote sein.

What? Ausgerechnet nach der Pandemie? Sind wir tatsächlich so »Stark trotz Corona«? Alle Studien, die ich kenne, kommen zum gleichen Ergebnis: Der Distanzunterricht habe große Lerndefizite und einen deutlichen Anstieg von Depressionen bei Kindern und Jugendlichen hinterlassen. Verhaltensauffälligkeiten, emotionale Probleme, Hyperaktivität, Probleme im sozialen Umgang. Vor allem seien Kinder aus sozial schwachen Familien betroffen. Wir sprechen sogar schon von einer verlorenen Generation. Alle diese Defizite müssen aufgearbeitet werden. Ein weiterer Sack für den Esel: Corona.

Was bietet der Senat dieser »verlorenen« Generation an? Die Streichung von Förder- und Unterstützungsangeboten. So der geniale Plan. Und wieder Orwell: »Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Hass ist Liebe.« Man dreht’s, wie es einem passt. Kinder brauchen mehr Unterstützung? Streichen wir die Unterstützungsangebote! Ich fasse es nicht. Wie tickt der Senat? Wieder ein Sack für den geplagten Esel: Streichung der Förderangebote.

 

Mehr Stühle lösen keine Probleme

 

Flüchtlingskinder aus der Ukraine ohne Schulplatz? Da gäbe es doch auch eine simple Lösung: Stellen wir ein paar Stühle mehr in den Klassenraum. Muss doch gehen, lautet der Vorschlag unserer Bildungssenatorin. Wenn man überhaupt so viele zusätzliche und funktionstüchtige Stühle für jeden Klassenraum finden würde, war da nicht etwas mit Chancengleichheit? Mit Inklusion? Die scheint endgültig vom Tisch zu sein. Wir leisten uns jahrelang einen Inklusionsbeirat und kiek mal an! Ein paar Stühle mehr pro Klasse. Problem gelöst. Ohne Worte.

»Ich mach mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt!« Naturgesetze definiert jetzt die Bildungsverwaltung. Und dann ist der Esel irgendwann tot.

Bisher haben wir nur die Rechenfehler des Senats angesprochen. Das Bezirksamt Neukölln trägt aber auch dazu bei, dass zu viele Säcke auf unseren Rücken gepackt werden.

Seit Jahren steigt der Bedarf an Mittagessen, ergänzende Förderung und Betreuung in Neukölln. Seit Jahren steigt also der Bedarf an Räumen. Seit Jahren ist dieses Problem bekannt. Mittagessen in Schichten von 11 bis 15 Uhr und kalte Lunchpakete sind keine Lösung. Alte Horträume vollstopfen und die Aufsichtspflicht ignorieren ist keine Lösung.

Die Lösung ist mehr Räume für Mittag und Ganztagsbetreuung, und hier ist das Bezirksamt Neukölln klar in der Verantwortung! Also kommt noch ein Sack darauf: Raummangel.

Neukölln wächst. Obwohl wir jahrelang die Klassen klein halten konnten, werden sie jetzt aufgefüllt. Wir wissen alle: 27 Kinder sind zu viele für eine Grundschulklasse. So werden wir keinem Kind gerecht und das Gleiche gilt für die Oberschulen.

Neukölln braucht dringend entweder mehr Schulen oder größere Schulen. Hier ist ebenfalls das Bezirksamt klar in der Verantwortung. Also kommt noch ein Sack darauf: Klassengröße.

Zuletzt: Unsere Räume, für Unterricht und für die Ganztagsbetreuung, sind nicht sauber. In dreckigen Räumen lernen Kinder und Jugendliche schlecht. Die Bezirksverordnetenversammlung hat bereits beschlossen, dass eine Rekommunalisierung der Schulreinigung stattfinden muss. Das Bezirksamt Neukölln muss handeln. Und noch ein Sack: Dreck.

In anderen Worten: Wir brauchen Entlastung! Wir brauchen mehr Räume, mehr Schulen und eine schnellere Sanierung! Wir brauchen saubere Schulen. Senat und Bezirksamt haben Jahre gehabt, den Fachkräfte- und Raummangel anzugehen. Was passiert ist, ist zu wenig und zu spät. Too little, too late! Das schadet unserer Gesundheit.

Wir, die Esel der Bildung, haben lange genug gelitten! Wenn viele kleine Säcke des Esels Tod sind, dann brauchen wir weniger Säcke und mehr Esel!

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46