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bbz 07-08 / 2018

Ab fünf Tagen wird es ernst

Die Senatsbildungsverwaltung verschärft zum Sommer die Regeln zum Umgang mit Schulversäumnis. Was nützt eine solche Maßnahme und welche Mehrarbeit kommt dadurch auf die Pädagog*innen zu?

Hauptstadt der Schwänzer« titelte die Zitty Anfang März. Provokant, aber angesichts der nackten Zahlen richtig. In keinem anderen Bundesland schwänzen so viele Kinder und Jugendliche die Schule wie in Berlin. In der zweiten Hälfte des Schuljahres 2016/17 kamen so 182.400 unentschuldigte Tage bei den Siebt- bis Zehntklässler*innen zusammen. Dabei liegt die tatsächliche Zahl wohl um einiges höher, weil die Schulen selbst die Daten erheben und weitermelden. Und da diese dann im Schulportal veröffentlicht werden, hat kein*e Schulleiter*in ein Interesse, hohe Quoten der Schwänzer*innen rechtfertigen zu müssen. Zumal eine »Schwänzerschule« eher gemieden als angewählt wird.

Schuldistantes Verhalten ist kein neues Phänomen. Die Ursachen sind vielfältig. Daher müssen die Interventionsmaßnahmen auch mehr leisten als lediglich Sanktion und Strafe. Dabei zeigt sich, dass jede Schule anders mit Schuldistanz umgeht, obgleich für alle die »Ausführungsvorschrift Schulbesuchspflicht« gleichermaßen verbindlich ist. Diese hat bisher geregelt, dass ab fünf unentschuldigten Fehltagen pro Halbjahr eine sogenannte Schulveräumnisanzeige (SVA) beim zuständigen Bezirksamt zu erstatten sei. Doch eine Abfrage bei den Bezirken ergab, dass diese Verpflichtung höchst unterschiedlich wahrgenommen wird. In Mitte, Neukölln und Reinickendorf wurden in 2016/17 die meisten SVA gestellt, in Pankow, Tempelhof-Schöneberg und Charlottenburg-Wilmersdorf die wenigsten. Dies hat vor allem mit der unterschiedlichen Praxis in den Bezirken zu tun. Damit ist jedoch offensichtlich, dass das wahre Ausmaß berlinweit deutlich größer ist.

Schulversäumnis bedeutet zusätzliche Belastung für die Klassenleitungen

Was nützt also die SVA, wenn sie nicht konsequent eingesetzt wird? Zunächst einmal hat die SVA den Zweck, auf Schwänzen zu reagieren. Zum neuen Schuljahr werden auch einzelne Fehlstunden addiert. Kommen dadurch ebenfalls fünf Fehltage zusammen (sechs Schulstunden ergeben einen Fehltag), ist ebenfalls eine SVA auf den Weg zu bringen. Und zwar »unverzüglich«. Auch das ist neu. Bislang vergingen oft Wochen, in Einzelfällen Monate, bis reagiert wurde. Diese Verschärfung macht daher Sinn, denn die Karrieren der Schwänzer*innen beginnen oft schleichend mit einzelnen Stunden. Je länger man es »laufen« lässt, desto schwieriger ist der Weg zurück zur Normalität und je drängender wird die Frage, was tun die Schüler*innen in der Zeit, in der sie eigentlich in der Schule sein sollten. Wo halten sie sich auf? Allerdings bringt die neue Regelung für die verantwortlichen Klassenleitungen auch einen erheblichen Mehraufwand mit sich, insbesondere an Schulen im sozialen Brennpunkt, an denen die Fehlzeiten tendenziell erheblich höher als im Durchschnitt sind. Wenn in einer Klasse gleich mehrere Schüler*innen häufiger Schwänzen, wächst der außerunterrichtliche zeitliche Aufwand für die betroffene Klassenlehrkraft massiv an. Denn damit eine SVA bearbeitet wird, erwartet das bezirkliche Schulamt im Vorfeld weitreichende Maßnahmen seitens der Schule. Neben Telefonaten und persönlichen Gesprächen mit den Eltern auch einen Hausbesuch, eine Schulhilfekonferenz (SHK) und eine Beratung durch das SIBUZ. Wer weiß, wie schwierig die Terminierung einer SHK ist und dass es nicht selten Wochen dauert, oft weil das Jugendamt völlig überlastet ist, macht sich zu recht wenig Hoffnung auf eine schnelle und wirksame Intervention. Dies wird auch dadurch verstärkt, dass es in vielen Fällen Monate dauert, bis die Schule eine Rückmeldung vom Bezirk erhält, zu welchen Konsequenzen die SVA geführt hat. Oft ist in der Zwischenzeit bereits eine zweite oder gar dritte Folgemeldung zum*r selben Schüler*in erfolgt.

Die geforderte Einschaltung des sozialpädagogischen Dienstes kann für Pädagog*innen ein zeit- und nervenaufreibendes Unterfangen sein, das mit einer Klassenleitungsstunde insbesondere an Schulen im sozialen Brennpunkt völlig unzureichend ausgeglichen wird. Die Jugendämter und ihre regionalen sozialen Dienste (RSD) sind bekanntermaßen notorisch un-terbesetzt. Ständig wechseln die Zuständigkeiten. Die Fallzahlen und auch die Schwere der Fälle sind so gelagert, dass wegen eines einfachen, mehrtägigen Schulversäumnisses keine Ressourcen da sind. Schulsozialarbeiter*innen, die inzwischen an allen Brennpunktschulen im Einsatz sind, können die Lehrkräfte zwar meist wirksam unterstützen. Aber auch sie kommen bei mehreren Dutzend Schwänzer*innen schulweit rasch an ihre Grenzen, wenn sie auch noch andere wichtige Bereiche ihrers Aufgabenspektrums abdecken möchten.

Ist eine SVA beim Bezirk angekommen, werden die Eltern beziehungsweise Personensorgeberechtigten vom zuständigen Bezirksamt angeschrieben und zur Stellungnahme aufgefordert. Außerdem werden sie darauf hingewiesen, dass Schulversäumnis eine Ordnungswidrigkeit darstellt, die mit einem Bußgeld belegt werden kann. Eine Kopie des Schreibens geht an die Schulpsychologie und den zuständigen RSD des bezirklichen Jugendamtes. Danach wird von Fall zu Fall entschieden. Eine (gegebenenfalls weitere) SHK ist in der Regel der nächste Schritt. Ob und in welcher Höhe ein Bußgeld verhängt wird oder es gar zur polizeilichen Zuführung kommt, hängt wiederum sehr stark vom jeweils zuständigen Bezirksamt ab.

Möglich ist ein Bußgeld von bis zu 2.500 Euro. Die Bezirke Neukölln (447), Steglitz-Zehlendorf (101), Mitte (86), Reinickendorf (82) und Pankow (41) stellten 2016/17 die meisten Bußgeldbescheide aus. Friedrichshain-Kreuzberg und Trep-tow--Köpe-nick verzichteten hingegen völlig auf diese Maßnahme.

Zeit, um sich um schuldistante Schüler*innen kümmern zu können

Schulversäumnis hat Folgen, in erster Linie für die betroffenen Schüler*innen, letztendlich aber für die gesamte Gesellschaft. Denn notorische Schulschwänzer*innen machen oft keine oder nur schlechte Abschlüsse und sind später auf soziale Transferleistungen angewiesen. Die Verwaltung springt also viel zu kurz, wenn sie nunmehr lediglich die Maßnahme SVA verschärft und somit einseitig den ohnehin bereits überbelasteten Pädagog*innen an den Brennpunktschulen noch zusätzliche Aufgaben und Verantwortlichkeiten ohne zeitlichen Ausgleich überträgt. Dies ist mit aller Entschiedenheit abzulehnen!

Die GEW BERLIN fordert daher bereits seit langem, Klassenleiter*innen an Brennpunktschulen insgesamt mit mindestens zwei Abminderungsstunden zu entlasten. Parallel dazu muss es an diesen Schulen je hundert Schüler*innen eine volle Stelle Schulsozialarbeit geben. An den betroffenen Grundschulen ist analog auch der Betreuungsschlüssel zu erhöhen. Nur so ergeben sich zusätzliche Zeitbudgets, mit welchen sich die Pädagog*innen vor Ort in multiprofessionellen Teams effektiv und nachhaltig um schuldistante Schüler*innen kümmern können. Dass daneben natürlich endlich der Personalengpass bei den Jugendämtern abgebaut und die Fallzahlen deutlich heruntergedreht werden müssen, versteht sich von selbst. Ferner müssen bereits erfolgreiche, evaluierte Schuldistanzprojekte in allen Bezirken verstetigt und finanziell abgesichert werden. Alleine nur die Verwaltungsvorschrift zu ändern, ist Symbolpolitik. Ohne weitergehende Maßnahmen und Investitionen in Personal und Entlastungsstunden wird sich die Zahl der Schulschwänzer*innen nicht signifikant verringern. Für die gesamtgesellschaftlichen Folgen trägt die zuständige Landesregierung die Verantwortung.


Schulhilfekonferenz (SHK)
Die SHK dient zur Koordination der Zusammenarbeit der verschiedenen Unterstützungssysteme und der Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses der Situation der betroffenen Schüler*innen. An einer SHK nehmen neben der Klassenleitung, einem Mitglied der Schulleitung, der Schulsozialarbeit, der Sonderpädagogik und der Schulpsychologie auch eine*e Vertreter*in des Kinder und Jugendpsychatrischen Dienstes und des Regionalen Sozialen Dienstes teil.