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Tendenzen

Als Clanangehöriger abgestempelt

Mohamed Ahmad Chahrour ist Komponist, Autor und Schauspieler. Im Interview spricht er darüber, welchen rassistischen Zuschreibungen er in der Schule allein wegen seines Namens ausgesetzt war.

Foto: Sven Serkis

Rosa Fava: Wieso beschäftigen Sie sich mit Clans?

 

Mohamed Chahrour: Eigene Betroffenheit. Als ich mich dazu entschlossen hatte, ein Buch zu schreiben, Ende 2018, hatten Clans Hochkonjunktur. Die Serie »4 Blocks«, der Raub der 100-Kilo-Goldmünze aus dem Bodemuseum, im »Spiegel« ständig Artikel und das selten schlechte Buch »Arabische Clans: Die unterschätzte Gefahr«. Alles kann über Clans erzählt werden: »Knast macht Männer ist ein geflügeltes Wort« und so weiter. Eines Nachts strahlte mir ein jahrelanger Bekannter meines Vaters aus dem Fernseher entgegen, angeblich als größter Verbrecher aller Zeiten, kurz davor, die gesellschaftlichen Grundlagen zu zerstören!

 

Warum wollten Sie an die Öffentlichkeit?

 

Chahrour: Es war Zeit, eine andere Perspektive zu zeigen. Aber ein Buch schreibt sich nicht, indem man mit der ersten Seite anfängt und der letzten aufhört, und »Exposé« musste ich erst einmal googlen. Schließlich habe ich den Autor Marcus Staiger, den ich kannte, gefragt, ob er mir Tipps gibt. So begann eine lange Reise: Kein Clan ist gleich dem anderen, und schließlich mussten wir 700 Seiten runterkürzen.

 

Was waren Reaktionen?

 

Chahrour: Aus meiner Familie habe ich wie eine Mauer Rückhalt bekommen. Verwandte an der Kasse mit dem Schild »Frau Chahrour« sind blöd angequatscht worden, andere hatten, als einzige im Haus, Flyer vom III. Weg im Briefkasten. Aber alle sagten »wir sind stark, wir stehen hinter dir«. Von Rechten habe ich Morddrohungen erhalten.

 

Woran haben Sie in der Schule Ihre Zugehörigkeit zu einem Clan als Besonderheit bemerkt?

 

Chahrour: Nach der Einschulung kamen Sechstklässler zu mir und haben gefragt »wie heißt du, aus welcher Familie kommst du?« Auf »Chahrour« wurde es erst ganz ruhig und dann waren alle meine Beschützer! Haben Hilfe angeboten, weil sie einige Cousins von mir kannten. Dieses eher positive Empfinden hat sich auf der Oberschule geändert. Ich wurde zu einer Mutprobe für andere. Selbst habe ich meine Zugehörigkeit nie erwähnt. Es verlangt einem immer ab, sich zu kloppen und sich den Namen gewissermaßen zu verdienen. Es gab eine Art Neid.

 

Inwiefern?

 

Chahrour: Man wird von der Polizei härter kontrolliert, schon mit 14. Ich wurde ganz anders behandelt, mir wurde die Mütze runtergehauen, in den Schritt gefasst. Die anderen glauben, man fühlt sich deshalb als echter Gangster. Sie wissen natürlich, das ist kacke, denken aber: Wenn man einen Chahrour besiegt, erniedrigt, ist das wie ein Ritterschlag.

 

Wie erlebten Sie Lehrer*innen?

 

Chahrour: Auf meine Schulen kamen Lehrer von der Rütlischule, die Kontakte mit meinem Clan gehabt hatten. Sie waren erst mal nicht negativ. Aber irgendwann wurde man härter angepackt, weil sie zeigen wollten, dass sie sich von uns nichts sagen lassen. Ich war aber auch frech und ein Stressmacher.

 

Also selbst schuld?

 

Chahrour: Es gab Rassismus, und mein Verhalten hat das gespiegelt. Ich wurde frisch nach 9/11 eingeschult, und eine Lehrerin hat mich nach vorne geholt und gesagt »die waren alle auch nur arbeiten wie dein Vater, die haben euch nichts getan«. Insgesamt wurde man vor allem als Libanese, Araber, Muslim angegangen, egal, was die Zeichenfolge hinter dem Vornamen war. Eine Deutschlehrerin wollte uns immer erklären, im Koran würden Frauen als Gegenstände dargestellt. Als ich widersprochen habe, wurde ich eine Woche suspendiert. Meinem Vater mit Akzent wurde nicht zugehört. Mit meinem Bruder in Bundeswehruniform wurde gebrochen Deutsch gesprochen. Man fühlt sich ohnmächtig, und so habe ich auch ausgeteilt.

 

Gibt es spezifische Erfahrungen als Clanmitglied?

 

Chahrour: Als ein Bekannter das Abitur angefangen hat, hat ein Lehrer ihn vor die Tür genommen und gesagt: »Hör zu, wenn es Stress gibt, rufst du nicht deine Familie! Wir machen das untereinander aus.« Einem Cousin von mir sagte ein Lehrer: »Ich weiß über deine Familie Bescheid, du brauchst diese Filme bei mir gar nicht machen.« Mein Sportlehrer kam, als ich breitbeinig auf der Bank saß, zu mir, stellte sich fast mit Körperkontakt vor mich und sagte: »Bist du auch so ein Chahrour, willst du auch diesen Weg gehen? Ihr kommt hierher und denkt, ihr könnt euch benehmen, wie ihr wollt!« Funktioniert gut bei einem 15-Jährigen.

 

Wie erklären Sie sich dieses Verhalten?

 

Chahrour: Warum Personen mit Abitur, Studium und Referendariat sich von einem Clanmitglied bedroht fühlen und in den Autoritätskampf gehen, verstehe ich nicht. Oft sind es Jugendliche, die Autorität nur negativ und sanktionierend kennen. Das hat mehr mit Armut und dem Sozialstatus zu tun, den Chahrours in Zehlendorf geht es anders als denen in Neukölln. Kriminalität als Männerproblem sieht in einem reichen Viertel anders aus als in einem Arbeiterviertel, hier muss die Polizei öfters raus und ein 6-Jähriger sieht auch mal den Vater an die Heizung gefesselt oder bekommt selbst eine Maschinenpistole ins Gesicht. Ausländerbehörde, Jobcenter – jede Autorität ist repressiver gegenüber Menschen, bei denen Armut und nichtdeutsche Herkunft zusammenfallen.

 

Clan-Bekämpfung als Kriminalitätsbekämpfung?

 

Chahrour: Es ist ein Stellvertreterkrieg gegen die gesamte muslimische Community, indem gegen konkrete Gruppen vorgegangen wird, die erst einmal als Problem konstruiert werden. Jetzt wird in Bezug auf Syrer auf die Clans der 1980er geguckt, die angeblich mit ihrer Kriminalität die Gesellschaft auseinandergenommen hätten. Nun sei das Problem paradoxerweise, dass sie in der Legalität angekommen seien. Und gleichzeitig gibt es das Konstrukt einer »Paralleljustiz«, als Ausdruck von Rückständigkeit und Tribalismus. Wenn Leute also untereinander Streitfälle klären, etwa wenn jemand einem ins Auto gefahren ist, soll das gegen das deutsche Rechtssystem gerichtet sein. Mediations- und Befriedungsprozesse sind nach unserer Auffassung erforderlich, um die Emotionen einzuhegen. Leider tragen viele andere Muslime und Migranten die Zuschreibung von Kriminalität mit. Natürlich gibt es auch Jugendliche, die sich mit dem Mythos identifizieren, unerträglich sind, und Elternhäuser, die sich nicht kümmern – wie bei anderen auch.

 

Was sind Bilder von Mädchen und Frauen?

 

Chahrour: Es gibt in Medien und Polizeidokumenten den Vorwurf, Frauen wären grundsätzlich in die Kriminalität ihrer Männer involviert, auch aus Konsumsucht, als würden sonst Frauen nicht zu ihren Ehemännern stehen. Ich weiß von Frauen, die sich von problematischem Verhalten abgrenzen und das nicht als Vorbild für die Kinder akzeptieren. »Gebärmaschinen«. Frühes Heiraten wird problematisiert. Aber es gibt die Eltern, die Anwärtern klarmachen, dass ihre Tochter die Schule beenden will und die Heirat erst danach stattfinden kann. 

 

Was können Lehrer*innen tun, um Stigmatisierungen zu vermeiden?

 

Chahrour: Behandelt die Kinder genauso wie die anderen. Sie sind nicht homogen, monolithisch, sie sind individuell. Hört auf, die Clanzugehörigkeit zum Thema zu machen. Lest mein Buch.

 

Der Clanbegriff wird oft abgelehnt: Hiesige Familiennetzwerke seien die Folge von Diskriminierung, keine ursprüngliche Organisationsform. Wie sehen Sie das?

 

Chahrour: Passender als »Clan« ist »aschira«, das erweiterte Familiennetzwerk. Die Verwandten im Libanon betonen, dass man zur aschira gehört. Einem Clan nicht angehören zu wollen, muss man sich leisten können. Wenn man die Großfamilie nicht braucht, den Cousin, der als KFZ-Mechaniker einen guten Preis macht, oder den Anwalt, der einen Brief aufsetzt, damit die Eltern ein Aufenthaltsrecht bekommen. Ich nehme mir das Wort zurück. Wenn man den Leuten den Rücken zukehrt, ist man kein Vorbild mehr. Wenn man, sobald man einen guten Ruf hat, mit Clans nichts mehr zu tun haben will, wer zeigt dann den Kids, dass es anders geht, man nicht scheinbar vorgegebenen Wegen folgen muss?

 

Mohamed A. Chahrour hat zusammen mit Marcus Staiger das Buch »Dakhil – Inside Arabische Clans« verfasst, das beim Ghost Verlag erschienen ist.