Schule
Am Anfang war die Lebenskunde
In den 1920er Jahren entstanden die »weltlichen Schulen«, die als Wegbereiterinnen des gemeinsamen Lernens und des Zweiten Bildungswegs gelten. Ein Festakt und eine Ausstellung würdigten die Anfänge der Reformpädagogik vor 100 Jahren.
Gemeinschaftsschule, Projektunterricht, Schulautonomie, Humanistische Lebenskunde und vieles andere mehr stehen in Berlin für eine Schulpolitik, wie sie kaum ein anderes Bundesland kennt. Was jedoch wenig bekannt ist – all das hat hier eine lange Tradition. Die Wurzeln reichen bis weit in die Weimarer Republik und davor zurück. Vieles davon wurde bereits vor 1933 an zahlreichen weltlichen Reformschulen Berlins sowie anderer Städte ausprobiert. Im Mai 1920 wurde in Adlershof – zu diesem Zeitpunkt noch eine Berliner Vorortgemeinde – die erste weltliche Schule gegründet. Gegen Ende der Weimarer Republik gab es in Berlin circa fünfzig dieser »weltlichen Schulen«, an denen die Schüler*innen zusammengefasst waren, die vom Religionsunterricht abgemeldet waren und stattdessen »Lebenskunde« erhielten. Im Unterschied zu heute gehörte dieses säkulare Angebot damals noch zum staatlichen Fächerkanon. Heute ist der Träger der Humanistische Verband.
Im letzten Jahr sollten mehrere Veranstaltungen zum 100-jährigen Jubiläum stattfinden, mussten jedoch wegen der Pandemie abgesagt werden. Ende Mai 2021 fand im Ernst-Abbe-Gymnasium in Berlin--Neukölln, der damaligen Karl-Marx--Reform--schule, ein digitaler Festakt statt. Veranstalter*innen waren der Schulsenat unter Beteiligung von Senatorin Scheeres, das Bezirksamt Neukölln, die Schule selbst und der Humanistische Verband. Letzterer eröffnete parallel eine – ebenfalls digitale und interaktive – Ausstellung zu dieser großen Reformtradition.
Zentren der Reformpädagogik
Der Begriff »Reformpädagogik« umfasst eine Vielzahl von Strömungen. In den Zentren der Arbeiterbewegung der Weimarer Republik war dies vor allem jener Ansatz, der sich der Emanzipation von Arbeiterkindern widmete. Zahlreiche weltliche Schulen gerade in Berlin hatten damals offiziell den Status von sehr freien Versuchsschulen. Das galt insbesondere für die »Lebensgemeinschaftsschulen«. Lebenskunde als ethische Reflexion wurde hier bisweilen sogar zum allgemeinen »Unterrichtsprinzip« erhoben. Überhaupt ist bei der Einschätzung der geradezu visionären Bedeutung dieser Schulen zu berücksichtigen, wie der »normale« Schulbetrieb an den meisten Volksschulen Preußens aussah: Trennung nach Jungen und Mädchen, Trennung nach Konfessionen, tägliches Schulgebet, große Klassen mit meist mehr als dreißig Kindern, autoritärer Frontalunterricht, Auswendiglernen und Prügelstrafe prägten vielfach den Alltag.
Demgegenüber mutete das Schulleben an vielen weltlichen Schulen geradezu paradiesisch an: partnerschaftliches Verhältnis aller, oft wurden auch die Lehrkräfte geduzt, Öffnung der Schulen für Kunst, Kultur und in das soziale Umfeld, Gruppen- und Projektunterricht, alternative Formen der Leistungsmessung wie individuelle Entwicklungsberichte, Mitbestimmung der Schüler*innen und Eltern sowie sexuelle Aufklärung. Strukturiert wurde das Schuljahr durch zahlreiche weltliche Fest- und Feiertage wie den 1. Mai, den Weltfrauentag, die Feiern zur Sonnenwende oder die Jugendweihen in der 8. Klasse. Hinzu kamen Zeltlager, Wandertage in die Natur, die für die meisten Arbeiterkinder aus den tristen Mietskasernen geradezu eine Erholung bedeuteten.
In kurzer Zeit führte der Ruf solcher Schulen dazu, dass sich immer mehr reformorientierte Lehrkräfte dort sammelten und von den Linksparteien in den Parlamenten unterstützt wurden. Besonders deutlich wird das am Berliner Arbeiterbezirk Neukölln, wo SPD, USPD und KPD bis 1933 über eine Zweidrittelmehrheit verfügten. Vor allem wurde das Schulamt von einem auch reichsweit anerkannten Bildungsreformer angeführt: dem SPD-Stadtrat und Mitglied des Reichstages Kurt Löwenstein, der unter anderem auch Reichsvorsitzender der sozialistischen Kinder- und Jugendorganisation »Die Falken« war. Im Ergebnis konnten gegen Ende der Weimarer Republik in Neukölln ein Viertel aller Schüler*innen auf weltliche Schulen gehen. Zum Vergleich: In Berlin waren es etwa zehn Prozent und in ganz Preußen gerade einmal ein Prozent.
Förderung kritischen Denkens
Nach ihrer erstmaligen Einführung als staatlichem Alternativfach zum Religionsunterricht gab es für die Lebenskunde während der ganzen Weimarer Zeit jedoch kaum offizielle Rahmenplanvorgaben. Die Ausrichtung war stark vom Geist der jeweiligen Schule und ihren Protagonist*innen abhängig. Vielfalt war prägend. Einigkeit aber herrschte in Bezug auf die grundlegenden Postulate kritischen Denkens und der Diesseitigkeit, Selbstbestimmung und sozialer Verantwortung. Ein anschauliches Bild des damaligen Lebenskundeunterrichts schildert der Bericht des Zeitzeugen und Schriftstellers Wolfdietrich Schnurre (1920 – 1989) in einem Brief von 1985 an den damaligen Deutschen Freidenker-Verband: »In Lebenskunde, die wir statt Religion hatten, haben wir mit unserem Klassenlehrer die politische Lage besprochen. Wir gingen immer von irgendeiner Zeitungsschlagzeile aus … Die aktuelle Politik war aber nur ein Teil des Lebenskundeunterrichts. Alles, was wir fragten, was wichtig war – die Arbeitslosigkeit zum Beispiel – wurde besprochen. Auch ob es human sei, wenn man ein Dienstmädchen habe (…) Auch die Filme, die wir gesehen hatten, wurden besprochen. Ich erinnere mich an den ›Schimmelreiter‹, an Chaplin-Filme, an Buster Keaton und Harald Lloyd. Unser Klassenlehrer machte uns in Lebenskunde klar, dass das nicht nur Unterhaltungsfilme waren, sondern Filme, die eine soziale Stoßrichtung hatten, die die Kapitalisten aufs Horn nahm. (…) Alles zusammengefasst, hatte eigentlich jedes Thema in Lebenskunde Platz. Wir mochten Lebenskunde immer ungeheuer gern … Bis 33 jedenfalls; dann war es aus.«
Die starke Verankerung im sozialkulturellen Netzwerk der Arbeiterbewegung und ihre ausgesprochen liberale Pädagogik lies die weltlichen Schulen schon früh in das Feuer der nationalistischen sowie kirchlich-konservativen Kräfte kommen: In diesen »Bolschewistenschulen«, wie sie bisweilen abschätzig genannt wurden, werde durch »Gottlosenpropaganda« eine allgemeine »Sittenlosigkeit« gefördert.
Erste Gemeinschaftsschule Deutschlands
Ein damals reichsweit bekannter »Leuchtturm« dieser Reformbewegung war das Kaiser-Friedrich-Realgymnasium in Neukölln, das heutige Ernst-Abbe-Gymnasium. Die Schule wurde 1931 in »Karl-Marx-Schule« umbenannt und gilt als die »Mutter aller Gemeinschafts- beziehungsweise Gesamtschulen«. Bereits 1921 wurde der Reformpädagoge Fritz Karsen neuer Rektor und baute die Schule so um, dass auch Arbeiterkinder nach der 7. Klasse die Chance hatten, in Aufbaukursen und mit einer modernen Pädagogik Abitur zu machen. Dazu kooperierte er eng mit umliegenden weltlichen Volksschulen und führte zusätzlich sogenannte »Arbeiter-Abiturienten-Kurse« für schon Berufstätige ein. Wie alle weltlichen Schulen wurde auch die Neuköllner Karl-Marx-Schule 1933 aufgelöst und ihr Leiter entlassen. Lebenskunde wurde verboten und der Religionsunterricht wieder eingeführt. Das Zentralorgan der NSDAP, der »Völkische Beobachter«, jubelte am 22. Februar 1933 entsprechend: »Die Hochburg der marxistischen Unkultur gesäubert.« 1948 wurde, wiederum in Berlin-Neukölln, die erste Gemeinschaftsschule Deutschlands gegründet – die Fritz-Karsen-Schule, wo die Schüler*innen von der 1. Klasse bis zum Abitur zusammen sind. Heute gibt es in Berlin 26 solcher Gemeinschaftsschulen. Und an allen gibt es natürlich die Humanistische Lebenskunde. Mit den Veranstaltungen zum 100. Gründungstag der ersten weltlichen Schule im Berliner Raum wurde auf die große Tradition von Einheitlichkeit, Durchlässigkeit und Weltlichkeit aufmerksam gemacht.