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Schule

Auf die Uhr geschaut

Eine neue wissenschaftliche Studie zur Arbeitszeit von Berliner Lehrkräften wird im Schuljahr 2023/24 die Arbeitsbedingungen aus Sicht von Lehrkräften in den Blick nehmen.

Lehrkräfte in Deutschland werden im Rahmen von Arbeitszeitordnungen für eine bestimmte Anzahl von Pflichtstunden bezahlt. Dieser erste Teil der Arbeitszeit setzt sich aus Unterricht, Funktionstätigkeiten und verpflichtenden Präsenzzeiten zusammen. Lehrkräfte müssen darüber hinaus eine Vielzahl weiterer Aufgaben erledigen, deren Aufwand weitgehend unbestimmt bleibt beziehungsweise von einschlägigen Regelungen nicht abgedeckt wird. So zum Beispiel Koordinationsaufgaben im Rahmen des Ganztags, Zusammenarbeit mit Jugendämtern und anderen Behörden, Inklusionsaufgaben, Förderpläne erstellen, Vergleichsarbeiten, Lernstandserhebungen, analoge in digitale Unterrichtsmaterialien überführen, Hygienepläne umsetzen, vermehrt digital mit Schüler*innen sowie Eltern kommunizieren, diverse Dokumentationspflichten erfüllen und so weiter und so fort.

 

Unterricht macht nur ein Drittel der Arbeitszeit aus

 

Die Schulpolitik konnte sich bisher darauf verlassen, dass Lehrkräfte und Schulbeschäftigte bei Bedarf mit großem Engagement auch einen erheblichen Mehraufwand leisten, um »ihre« Schüler*innen zu unterstützen. Das geht seit Jahren so. Wie in anderen Bundesländern regelt Berlin in schulformspezifischen Arbeitszeitverordnungen nur den ersten, den determinierten Teil der Arbeitszeit von Lehrkräften, das so genannte Deputat. Den anderen, obligaten Teil der Arbeitszeit wird den Lehrkräften zur selbständigen Organisation in eigener professioneller Verantwortung überlassen. Bei neuen Anforderungen an das Schulsystem kommt damit den Lehrkräften meist allein die Verantwortung zu, individuell zu entscheiden, welchen Zeitaufwand sie ihren zahlreichen Aufgaben beimessen können. In aller Regel müssen sie entweder Aufgaben oder Qualität reduzieren, ihre Arbeitszeit ausdehnen oder eine Mischung aus allem. Schulbeschäftigte berichten immer wieder, dass sie sich angesichts drängender schul- und bildungspolitischer Herausforderungen dabei allein gelassen fühlen. Wir wissen derzeit viel zu wenig darüber, wie groß der Zeitaufwand für die einzelnen Aufgaben eigentlich ist und wie Lehrkräfte die Regelung und Steuerung ihrer Arbeitsaufgaben meistern. Welche pragmatischen Lösungen finden sie und wie kann darauf hingewirkt werden, dass die notwendigen Priorisierungen möglichst nicht zu Lasten der Bildungsqualität gehen?

 

Die Berliner Situation ist besonders

 

Von Seiten der Länder wird der zweite, obligate Teil der Arbeitszeit als nahezu beliebig variabel behandelt. Folgerichtig sind die Deputatsvorgaben in Deutschland trotz großer Arbeitszeitverkürzungen in anderen Branchen und Berufen trotz aller Kritik seit über einhundert Jahren fast gleichgeblieben. Seit langem beklagen Lehrkräfte, dass ihr Bildungs- und Arbeitsauftrag die Einhaltung einer 40-Stunden-Woche in der Praxis nicht ermöglicht, sondern systematisch Mehrarbeit erforderlich mache, um alle dienstlichen Verpflichtungen und pädagogischen Anforderungen zu erfüllen. Solche Beschwerden wurden regelmäßig mit dem Argument zurückgewiesen, dass es keine Möglichkeiten gebe, Arbeitszeiten angemessen zu bestimmen. Die Arbeitszeit von Lehrkräften wurde jahrzehntelang für unbestimmbar gehalten.

Dies hat sich geändert. Durch eine Reihe von Methodenfortschritten kann die Arbeitszeit von Lehrkräften heute normenkonform erfasst werden. An der Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften der Georg-August-Universität Göttingen haben wir seit einem Jahrzehnt eine Reihe von Studien erfolgreich durchgeführt.

Die Berliner Situation ist recht spezifisch, empirische Befunde aus anderen Bundesländern lassen sich nicht einfach übertragen, um die Arbeitsbedingungen verlässlich abzubilden. Dazu wird eine aktuelle eigenständige Berliner Datenbasis benötigt. Zum Beispiel unterscheidet sich die Verteilung verbeamteter und tarifangestellter Lehrkräfte ebenso von der Situation in anderen Bundesländern, wie der Anteil und die Herausforderungen von Quereingestiegenen. Auch führen die historische Entwicklung tarifvertraglicher Lösungen, eigene Berliner Entlastungsregelungen und die besonderen großstädtischen Herausforderungen einer Metropolregion in statistischer Hinsicht zu sich stark unterscheidenden Merkmalszusammensetzungen.

Bisher leidet die Debatte zur Arbeitszeit und -belastung sehr stark unter Vorstellungen von einer Schulwirklichkeit, die keineswegs von der empirischen Wirklichkeit gedeckt sind. Hier braucht es mehr Fakten und mehr Evidenz.

Aus diesen Gründen bereitet die Kooperationsstelle der Universität Göttingen für das nächste Schuljahr gefördert durch die Max-Traeger-Stiftung und mit Unterstützung der GEW eine eigenständige Studie für Berliner Schulen in öffentlicher Trägerschaft vor. Ziel ist es, die konkreten aktuellen Herausforderungen für Schulbeschäftigte und die Auswirkungen auf ihre Arbeitsbedingungen in den Blick zu nehmen. Im Zentrum steht eine einjährige Erfassung der tatsächlichen Arbeitszeit auf verlässlicher individueller Basis. Dies wird vergleichsweise einfach mit einem bewährten digitalen Tool per Smartphone, Tablet, Desktop, aber auch mit Laufzettel möglich sein. Nur so können quantitativ die reale Arbeitszeit und die Verteilung der diversen Tätigkeiten verlässlich nachgewiesen werden. Außerdem soll mithilfe eines Online-Fragebogens qualitativ den typischen Beanspruchungen nachgegangen werden.

Wie ist der aktuelle Stand der Arbeitsbedingungen von Lehrkräften in Berlin? Mit welchen (neuen) Anforderungen sind Lehrkräfte konfrontiert? Welche Möglichkeiten sehen Lehrkräfte ihre Arbeitszeitbelastung zu regulieren und durch welche Maßnahmen können sie sich arbeitszeitlich und hinsichtlich ihrer Arbeitsbelastungen gezielt entlasten? Welche Rahmenbedingungen benötigen sie dazu? Welche Chancen und Risiken kommen auf Lehrkräfte im Zuge zunehmend digitalisierter Unterrichtsformate und Arbeitsformen zu? Welche spezifischen Beanspruchungen ergeben sich in Schulen mit besonderen sozialen Herausforderungen? Durch aktuelle empirische Befunde und eine Bilanzierung der arbeitspolitischen Fragestellungen soll ein Beitrag zu drängenden schulpolitischen Fragen sowie zur Gestaltung der Arbeitsbedingungen von Lehrkräften in Berlin geleistet werden.

 

Multiplikator*innen und teilnehmende Lehrkräfte gesucht

 

Teilnehmen können alle Lehrkräfte an Grundschulen, Integrierten Sekundarschulen, Gemeinschaftsschulen, Gymnasien und Berufsbildenden Schulen in öffentlicher Trägerschaft Berlins.

Die Teilnahme an der wissenschaftlichen Studie erfolgt auf freiwilliger Basis, auf Voranmeldung und in der Freizeit. Angestrebt wird eine für Berlin repräsentative Samplegröße von landesweit mehr als fünf Prozent, gerne zehn Prozent der Lehrkräfte und Schulleitungen in den untersuchten Schulformen. Je größer die Beteiligung ausfällt, desto eher wird auch eine repräsentative Verteilung relevanter Schulmerkmale erreicht. Außerdem wird angestrebt, dass sich auch Pädagogische Unterrichtshilfen sowie Lehrkräfte für Fachpraxis an beruflichen Schulen beteiligen können. Insgesamt werden rund 5.000 Teilnehmende gesucht.

Die GEW BERLIN unterstützt die Studiendurchführung. Damit die Studie durchgeführt werden kann, werden zunächst 300 bis 500 Multiplikator*innen gesucht, die zur Unterstützung teilnehmender Kolleg-*innen als Ansprechpartner*innen an ihren Schulen zur Verfügung stehen. Um Rückfragen beantworten zu können, werden sie zuvor in einer Nachmittagsveranstaltung auch praktisch im Umgang mit dem Zeiterfassungstool geschult. Auch alle anderen Fragen rund um das Projekt werden dort geklärt. In zwei alternativen Eingewöhnungsphasen entweder kurz vor der Sommerpause oder am Ende der Sommerferien diesen Jahres können sich alle Beteiligten mit der Zeiterfassung vertraut machen. Die Zeiterfassung selbst startet dann mit dem neuen Schuljahr am 28. August 2023.

Weitere Informationen zur Arbeitszeitstudie hier und unter: www.arbeitszeitstudie.de

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46