Zum Inhalt springen

bbz 04-05 / 2017

Bekenntnissen müssen Taten folgen

Längst hat sich unsere Gesellschaft zu einer Migrationsgesellschaft entwickelt. Die Institutionen haben sich darauf noch nicht eingestellt. Handlungserfordernisse formuliert der GEW-Fachtag »Schule in der Migrationsgesellschaft«

Deutschland ist neben den USA das zweitbeliebteste Einwanderungsland der Welt geworden. Einwanderung nach Deutschland, auch in großem Maße, ist nichts Neues. Einwanderung, ebenso wie Auswanderung, gehören zu den Erfahrungen unserer modernen Gesellschaften und werden von diesen geprägt. Die Bundesregierung verzeichnete 2011 bis 2014 im Jahresdurchschnitt über eine Million Zuzüge bei gleichzeitig sechshunderttausend Fortzügen. Menschen leben im Laufe ihres Lebens in vier, fünf, sechs verschiedenen Ländern oder jahrelang gleichzeitig an mehreren Orten. Die gesellschaftliche, soziale und individuelle Wirklichkeit Deutschlands wird also schon längst grundlegend von Migrationsphänomenen geprägt. Deshalb wird in der Forschung auch von einer Migrationsgesellschaft gesprochen.

Rechter Gegenwind und neue Ängste

Obwohl die Migrationsgesellschaft längst eine Tatsache ist, stieg die Zahl der rechtspolitisch motivierten Straftaten erst in jüngster Zeit enorm: Die polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2015 hat ergeben, dass die Zahl rechter Delikte um fast 35 Prozent gestiegen ist. Die viel diskutierte »Mitte-Studie« der Universität Leipzig zeigt unter anderem, dass die Hälfte der Deutschen der Aussage zustimmen, dass sie sich durch die Muslime »fremd im eigenen Land fühlen«. Die Aussage des Ex-Bundespräsidenten Christian Wulff, dass der »Islam zu Deutschland gehört«, hat leider immer noch nicht zu einer breiten Akzeptanz der Religion in der deutschen Gesellschaft geführt. Die Gründe sind vielfältig: Angst vor terro-ristischen Anschlägen durch radikalisierte Islamist*innen bei gleichzeitiger Unkenntnis über die Religion und ihre Traditionen führen zu Ressentiments und gesellschaftlichen Benachteiligungen. Das zeigt, dass die gesellschaftliche Entwicklung hin zur Migrationsgesellschaft nicht im Bewusstsein der Menschen angekommen ist. Der Speiseplan der Deutschen hat sich zwar in den letzten 70 Jahren enorm erweitert, ihre Angst vor dem vermeidlichen Unbekannten der sogenannten »Anderen« ist aber unverändert.

Ein neuer Umgang ist notwendig

An der gesellschaftlichen Benachteiligung im Bildungsbereich wird dies besonders deutlich. Menschen mit sogenannten Migrationserfahrungen erleben dies bei den Zurückstellungen beim Schuleintritt, bei den Chancen für Gymnasialempfehlung, bei der Anzahl der Klassenwiederholungen und schlussendlich bei den erreichten Abschlüssen und Übergängen in eine Berufsausbildung. Bildungsstudien bestätigen diesen besorgniserregenden Selektionsmechanismus, neben fehlender Chancengleichheit auf Grund sozialer Herkunft, im deutschen Bildungssystem regelmäßig. Diese Ergebnisse sind auf eine falsche integrative Bildungspolitik seit dem Zuzug der ersten sogenannten »Gastarbeiterfamilien« zurück zu führen. Im Zusammenhang mit der Diskussion um die Bildungsintegration der neu zugewanderten Kinder und Jugendlichen wurden deswegen schnell mahnende Stimmen laut, dieselben Fehler nicht noch einmal zu begehen. Ein neuer Umgang mit Diversität ist gefordert. Der Aufruf für eine solidarische Migrationspädagogik, initiiert durch Paul Mecheril, verdeutlichte schließlich den dringenden Handlungsbedarf.

Was das genau für das bundesdeutsche Bildungssystem bedeutet, versuchte der Bundesvorstand der GEW bereits Ende 2015 zu beantworten. Die GEW BERLIN hat auf ihrem Fachtag Migration folgende Bereiche festgestellt, in denen dringender Handlungsbedarf besteht:

• Übergänge von »Willkommensklassen« in die »Regelklassen« besser gestalten
Die Schüler*innen der sogenannten Willkommensklassen müssen ein Recht auf Verbleib in den Schulen erhalten, um die soziale Integration nicht zu unterbrechen. Dafür müssen entsprechend Schulplätze an den Schulen freigehalten werden. Außerdem brauchen die Regelklassen mehr Ressourcen, vor allem für die kontinuierliche Sprachbildung, aber auch für die außerschulischen Unterstützungssysteme. Eine effektive Sprachbildung benötigt auch ein eigenes DAZ/DAF Curriculum, um die Kinder und Jugendlichen gezielter fördern zu können. Der Koalitionsvertrag verspricht eine wissenschaftliche Auswertung der Erfahrungen der letzten zwei Jahre. Dieses Versprechen muss unbedingt eingehalten und die Erkenntnisse daraus auch umgesetzt werden.

• Mehrsprachigkeit braucht Sprachkonzepte
Mehrsprachigkeit muss als positive Lernvoraussetzung für die formale Bildung anerkannt und einbezogen werden. Das bedeutet aber nicht, dass Mehrsprachigkeit Zuschreibungen verfestigen soll, nach dem Motto »Ali spricht doch bestimmt Türkisch«. Vielmehr erfordert Mehrsprachigkeit genaue Sprachkonzepte mit entsprechenden Zielformulierungen auf Grundlage geeigneter Unterrichtsmaterialien, welche es so bisher nur teilweise gibt. Entsprechende Sprachstandsfeststellungen, vor allem im Übergang von der Kita zur Grundschule, müssen auf Grundlage der aktuellen Spracherwerbsforschung erhoben werden.

• Interkulturelle und interreligiöse Kompetenzen stärken
Nicht nur Schüler*innen fehlt es oft an Sachkenntnis über den Islam. Wie oft werden auch von Lehrkräften die Begriffe Moslem und Islamist falsch verwendet. Nicht selten wird im Unterricht der Islam nur in Zusammenhang mit Terror präsentiert. So müssen sie ein Gefühl entwickeln können, wo Glauben aufhört und Salafismus beginnt, um Debatten über Gebetsräume oder Ramadan kompetent führen zu können. Im schulischen Alltag gibt es derzeit auch bei Lehrkräften große Unsicherheiten im Umgang mit Kindern und Jugendlichen aus muslimischen Familien. Lehrkräfte müssen durch Fortbildungen oder bereits während der zwei Phasen der Lehrer*innenausbildung ihre interkulturelle Kompetenz stärken, damit sie auch gegenüber diesen Schüler*innen ihrem Bildungsauftrag im Sinne des Kindeswohls nachkommen können.

• Das Schulleben rassismuskritisch gestalten
Schule muss sich als Gesamtorganisation die Frage stellen, wie sie mit Rassismus umgeht, um ihn zu stoppen. Dafür können folgende Fragen relevant sein: Gibt es einen gemeinsam erarbeiteten rassismuskritischen Leitfaden in der Schulordnung? Gibt es Strukturen für den regelmäßigen Austausch von Diskriminierungsvorfällen und sind diese bekannt? Gibt es Möglichkeiten des Empowerments für Schüler*innen, Eltern und/oder Lehrkräfte?

• Diskriminierungsschutz im Landesgesetz implementieren
Diskriminierungserfahrungen gehören für viele Schüler*innen leider im Schulalltag zur Normalität. Eine Anfrage im Landesschulbeirat hat ergeben, dass seit beginn der Arbeit der Antidiskriminierungs-beauftragten im letzten Herbst bereits nach vier Monaten 64 Fälle gemeldet wurden. Der Bedarf, den Diskriminierungsschutz zu erhöhen, ist da. Bisher ist er jedoch noch nicht einmal im Landesgesetz verankert. Dies soll sich in der nächsten Legislaturperiode ändern. Dann kann auch endlich eine unabhängige Beschwerdestelle für Diskriminierungsschutz eingerichtet werden.

• Die Entwicklung eines rassismuskritischen Selbstverständnisses der Lehrer*innenschaft
Rassismus zu verhindern und dafür zu sensibilisieren, muss selbstverständlicher Teil des Bildungsauftrages werden. Bereits in der Lehrkräfteausbildung muss das Thema fest verankert werden, aber auch in Fortbildungen. Zusammenhänge zwischen Mobbing, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Diskriminierung in der eigenen Praxis müssen für alle deutlich nachvollziehbar sein.

• Heterogene Lehrer*innenschaft fördern
Auch Kollegien können die Vielfalt der Schüler*innen widerspiegeln, um Vorbilder und Identifikation zu ermöglichen. Eine Maßnahme könnte sein, zugewanderten Lehrkräften die Möglichkeiten für eine Übernahme in den Schuldienst zu schaffen. Die Anstrengungen des Senats, den Lehramtsberuf für junge Erwachsene mit Migrationserfahrung attraktiv zu machen, müssen verstärkt werden. Auch die Übernahme der Lehrkräfte von Willkommensklassen in den Schuldienst ermöglicht den Regellehrkräften sicherlich neue Anregungen für eine rassismuskritische und diskriminierungssensible Praxis.


Zum Weiterlesen:
• »Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland«. Von Oliver Decker, Johannes Kiess und Elmar Brähler in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der Heinrich-Böll-Stiftung und der Otto-Brenner-Stiftung herausgegebene Erhebung www.rosalux.de/publication/42412/die-enthemmte-mitte.html.
• Aufruf »Für solidarische Bildung in der globalen Migrationsgesellschaft« www.aufruf-fuer-solidarische-bildung.de
.
www.migramentor.de