Schwerpunkt "Verloren im Verwaltungswirrwarr"
Berlin tut sich schwer
Auf dem Papier ist das Bildungs- und Teilhabepaket eine gute Idee, die betreffenden Berliner Familien sind mit der damit verbundenen Bürokratie häufig überfordert.
Das Bildungs- und Teilhabepaket ist für Kinder und Jugendliche beziehungsweise ihre Erziehungsberechtigten entwickelt worden, die mit einem geringen Einkommen und/oder Sozialleistungen auskommen müssen. Der Ansatz ist auf den ersten Blick vielversprechend. Doch das Land Berlin tut sich seit Jahren schwer mit der Umsetzung.
Während andere deutsche Städte und Landkreise auf mehr Beratung, Unterstützung oder leicht verständliche digitale Systeme setzen, bieten Berlins zuständige Behörden Informationen lediglich auf ihren Internetseiten und auf mehrseitigen Erklärungsschreiben an. Diese ellenlangen schriftlichen Informationen sind für Menschen, die sich nicht auskennen, mühsam zu verstehen. Die Texte sind mit Fachbegriffen gespickt und nicht klar. Insbesondere bei den Leistungen für die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben erhalten die Berliner Kinder und Jugendlichen nur selten das, was ihnen zusteht.
Sprachliche und emotionale Hürden
Familien, die mit wenig Geld auskommen müssen, haben oftmals einen niedrigen Bildungsabschluss erworben oder sprechen die deutsche Sprache nur unzureichend. Sie können die deutsche Verwaltungssprache schlecht oder gar nicht verstehen. Diese Familien irren im Behördendschungel umher, kennen sich kaum in den unterschiedlichen Zuständigkeitsbereichen und Rechtsansprüchen aus und schämen sich für die gefühlte Hilflosigkeit. Sie sind teilweise schleppenden Bearbeitungszeiten und Respektlosigkeit ausgesetzt. Sie hegen Groll, oder haben große Angst beim Gang zum Arbeits- oder Sozialamt.
Die schwierige Lebenssituation von Familien mit geringem Einkommen beschäftigt nicht nur die Mitarbeitenden der Behörden. Sie beschäftigt auch Berater*innen in den Beratungsstellen, die Mitarbeitenden in Kitas und Schulen oder die Pädagog*innen in den Familienzentren.
Allerdings sind in den Vorschriften und Gesetzesgrundlagen für das Bildungs- und Teilhabepaket keine finanziellen Mittel vorgesehen, mit denen Beratungsstellen oder Behörden ausgestattet werden könnten, um qualifizierte Unterstützung bei der Antragstellung anzubieten. Es ist derzeit das persönliche Engagement einiger weniger, die sich auskennen und intrinsisch motiviert sind, Beratung zu diesem Thema anzubieten.
In unserem Caritas-Beratungszentrum in Lichtenberg machen wir die Erfahrung, dass es manchmal bis zu einer Stunde dauert, um über alle Fakten des Bildungs- und Teilhabepakets aufzuklären und eine Antragstellung möglich zu machen. Die Familien kommen mit dem vierseitigen Begleitschreiben, dass sie bei der Bewilligung von Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Wohngeld oder Kinderzuschlag erhalten haben. Sie haben große Verständnisprobleme und Fragen nach dessen Inhalt. Sie benötigen Erklärungen, wo der »BerlinPass« zu beantragen ist und wie er sich vom so genannten »BerlinPass-BuT« unterscheidet.
Größte Schwierigkeiten bei Sport- und Kulturangeboten
Am meisten leidet der Bereich der Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben für Kinder und Jugendliche. Vereinsmitgliedschaft oder Musikunterricht muss den Ämtern mitgeteilt werden. Dabei darf eine Mitgliedschaft nicht mehr als 15 Euro pro Monat kosten. Hier fallen also Sportbereiche heraus, deren Mitgliedschaften wesentlich teurer sind.
Auch Musikunterricht lässt sich nicht ohne Weiteres finanzieren. Wer weiß schon, dass man bei der kommunalen Musikschule einen gesonderten Antrag auf Ermäßigung stellen kann? Wer die 24-seitigen Ausführungsvorschriften des Landes Berlin durchliest, findet hier den Hinweis, dass auch eine Einmalzahlung von 150 Euro pro Jahr möglich ist, wenn das Kind an einer Ferienfahrt oder einem Schwimmkurs teilnehmen möchte. Die zusätzlichen 90 Euro jährlich für Sportbekleidung, Instrumente oder Fahrtkosten können separat mit der zuständigen Behörde abgerechnet werden. In der Theorie eine gute Idee, in der Praxis werden leider nicht alle entstandenen Kosten akzeptiert. Wir haben Familien in der Beratung, denen der Baby-Schwimmkurs zwar bewilligt wurde, allerdings nicht die Baby-Schwimmhose, Schwimmwindeln und Schwimmflügel.
Dann kam Corona
Vor der Corona-Pandemie gab es in den Behörden vereinzelt Beratung in der Eingangszone oder so genannte Info-Points. Unter den aktuellen Pandemie-Bedingungen ist der Zugang zu verständlichen Informationen viel schwieriger, weil die Behörden geschlossen haben.
Derzeit sind Fragen wie die folgende häufig zu klären: Wenn die Wohngeldstelle geschlossen ist, wer nimmt dann den Antrag entgegen? Wie ist der BerlinPass zu verlängern? Was ist, wenn der Aufenthaltstitel der Familie abgelaufen ist, ein Termin zur Verlängerung in der Ausländerbehörde erst in zwei Monaten möglich ist und die Familie lediglich eine Bescheinigung über diesen Termin hat? Maßgeblich für die Bewilligung des »BerlinPasses« ist ein aktueller Aufenthaltstitel. Das bedeutet in solchen Fällen, dass die Familie keinen BerlinPass in der Schule vorlegen kann. Somit erhalten die Kinder keine Schulbücher, können nicht am Mittagessen teilnehmen, geschweige denn einen Laptop für das Homeschooling anschaffen.
Zu erwähnen ist auch, dass sich die Familien selten in der Schule als bedürftig oder unfähig offenbaren möchten. Gibt es dort überhaupt die Möglichkeit, um in Ruhe das Problem vortragen zu können? Hat sich das Schulpersonal mit armutssensibler Sprache auseinandergesetzt und hat auch noch die zeitlichen Ressourcen, den Eltern behilflich zu sein? Die vielfältigen Optionen des Bildungs- und Teilhabepakets sind in den Kitas und Schulen nach unseren Erfahrungen eher lückenhaft bekannt oder gänzlich unbekannt.
Bezirk Lichtenberg kämpft gegen Kinderarmut
Der Bezirk Lichtenberg hat sich vor zwei Jahren entschlossen, die wachsende Kinderarmut stärker zu bekämpfen. Von der Bezirksverordnetenversammlung ist eine kommunale Gesamtstrategie zur Kinderarmutsprävention beschlossen worden. Dabei handelt es sich um eine Zusammenarbeit unter Leitung des amtierenden Bürgermeisters. Beteiligt sind zahlreiche Akteur*innen aus Politik, Wirtschaft, Behörden, Bildungsträgern, Gesundheitseinrichtungen und sozialen Trägern.
In vier Arbeitsgruppen wird an konkreten Verbesserungen gearbeitet. Im Fokus stehen dabei die Bereiche soziale Teilhabe, Bildung, Gesundheit und existenzielle Versorgung. Zum ersten Mal sitzen alle Beteiligten an einem Tisch und wollen gemeinsam etwas bewegen – das begrüßen wir als Caritas sehr. Aus unserer praktischen Erfahrung heraus bringen wir Ideen ein, um Antragstellungen zu vereinfachen, mehr Beratungsservice anzubieten und eine Einheitlichkeit der unterschiedlichen Hilfen zu schaffen. Außerdem braucht es mehr Online-Lösungen. Hier liegt noch ein langer Weg vor uns. Doch das gemeinsame Engagement trägt uns und wir hoffen, dass die Ideen umgesetzt werden können.