Schule
Berliner Lehrkräfte haben hohes Gesundheitsrisiko
Durch überfüllte Klassen und digitale Überforderung landen viele im Burnout. Welche Maßnahmen dringend nötig sind.
Lehrkräfte gehören wie beispielsweise auch Pflegekräfte im Gesundheitssystem zu den Berufsgruppen mit besonders hohen psychischen Belastungen. Arbeitgeber sind verpflichtet, die Gesundheitsrisiken durch die Arbeit präventiv zu identifizieren und geeignete Maßnahmen dagegen zu ergreifen. Aber nicht nur profitorientierte Unternehmen tun sich schwer mit einem wirksamen Arbeits- und Gesundheitsschutz, sondern leider auch die öffentliche Hand. Es wurden daher in der Umfrage zur Belastungssituation der Berliner Lehrkräfte der Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften der Universität Göttingen auch Fragen zur Gesundheitssituation gestellt. Das Ergebnis (siehe Abbildung) ist aufgrund seiner Eindeutigkeit erschreckend: Je nach Indikator befinden sich die Hälfte bis zwei Drittel der Berliner Lehrkräfte im Bereich eines erhöhten Gesundheitsrisikos. Nach dem Arbeitsschutzgesetz sind daher geeignete Maßnahmen erforderlich.
In diesem Beitrag soll zunächst die Gesundheitssituation erläutert werden. Dann wird gezeigt, welche Arbeitsbedingungen mit besonders großen Gesundheitsrisiken verbunden sind, um damit mögliche Ansatzpunkte für eine Verbesserung zu benennen.
Hintergrundinformationen zur Umfrage und ein genauerer Ergebnisbericht ist den beiden Arbeitspapieren zu entnehmen, die gerade veröffentlicht worden sind.
Wohlbefinden (Wellbeing) ist ein Indikator für die psychische Gesundheit, der beispielsweise auch im European Working Conditions Survey eingesetzt wird. Während die repräsentativen deutschen Erwerbstätigen einen Mittelwert von 64 der 100 Punkte erreichen, haben Lehrkräfte in Berlin nur einen Mittelwert von 41. Dies bedeutet, dass 44 Prozent im Bereich erhöhten Gesundheitsrisikos liegen und 24 Prozent im Bereich erhöhter Depressionsgefahr. Noch etwas ungünstiger fällt die Bewertung mit dem Indikator für Personal Burnout aus (Copenhagen Burnout Inventory). Während die Beschäftigten in Deutschland 49 von 100 Punkten erreichen, haben Berliner Lehrkräfte mit 60 Punkten ein erhöhtes Risiko. Hier liegen dann 21 Prozent im hohen Risikobereich, 58 Prozent im Bereich eines moderaten Gesundheitsrisikos.
Am günstigsten fällt die Selbsteinschätzung der eigenen Gesundheit aus, 44 Prozent haben einen befriedigenden oder guten Gesundheitszustand. Als dritter Indikator für Gesundheitsrisiken wird der Anstrengungs-Gratifikations-Quotient (Effort-Reward-Imbalance) von Siegrist und anderen verwendet. Dabei werden bestimmte Anstrengungen in einem Beschäftigungsverhältnis ins Verhältnis zu den mit dem Beruf verbundenen Vorteilen (Gratifikationen) gestellt.
Ein knappes Drittel befindet sich in einer Gratifikationskrise
Es wurde festgestellt, dass bei Beschäftigten, bei denen die Anstrengungen die Gratifikationen überwiegen, signifikant häufiger zum Beispiel Herz-Kreislauf- oder psychiatrische Erkrankungen auftreten. Daher sprechen Siegrist und sein Team von einer Gratifikationskrise. Aktuell befinden sich 30 Prozent der Berliner Lehrkräfte in der Gratifikationskrise. Die Gesundheitsrisiken sind bei Lehrkräften in der Grundschule und der Grundstufe der Gemeinschaftsschule höher, dafür werden körperliche Belastungen, eine Verschlechterung der Arbeitssituation in den vergangenen Jahren und weniger empfundene Wertschätzung verantwortlich gemacht.
Die Gesundheit wird nicht nur durch die Arbeitsbedingungen, sondern auch durch individuelle Voraussetzungen, das persönliche Verhalten, die konkreten Lebensbedingungen und die gesellschaftlichen Institutionen wie zum Beispiel die medizinische Versorgung bestimmt. Die Arbeitsbedingungen zu verbessern bietet jedoch den größten Hebel im Arbeits- und Gesundheitsschutz.
Risikofaktoren in den Schulen
Erstens können ein hoher Arbeitsdruck, zu große Klassen und zu viele außerunterrichtliche Aufgaben als Risikofaktoren für die Gesundheit identifiziert werden. Die folgenden Gruppen zeigen besonders hohe Risiken (siehe Kasten).
Diese Ursachen verweisen auf die Notwendigkeit einer allgemein besseren Personalausstattung und eine Reduktion des Arbeitspensums. Klassengrößen könnten verkleinert werden. Lehrkräfte könnten sich stärker auf unterrichtsbezogene Aufgaben konzentrieren, wenn Verwaltungs-, sozialpädagogische oder IT-Aufgaben stärker durch andere Beschäftigtengruppen übernommen würden. Multiprofessionelle Teams könnten verstärkt eingesetzt werden.
Zweitens zeigte sich, dass Lehrkräfte aufgrund des Arbeitsdrucks große Schwierigkeiten bekommen, am sozialen Leben teilzuhaben und eine gesunde Work-Life-Balance zu wahren: 24 Prozent haben keine Zeit mehr für Familie und private Interessen. 16 Prozent der Lehrkräfte haben starke häusliche Konflikte unter anderem wegen der Verteilung der Sorgearbeit. Letzteres betrifft vor allem Vollzeitkräfte, Eltern und stärker die weiblichen Lehrkräfte. Als Maßnahmen könnten hier auch temporäre – unterrichtliche und außerunterrichtliche – Entlastungen bei zu starkem Arbeitsdruck greifen. Dazu müsste die Arbeitszeit von Lehrkräften überhaupt erst einmal erfasst werden, um dann gezielte Entlastungsgespräche mit Lehrkräften führen zu können.
Drittens erhöht auch die Art der Umsetzung des digital unterstützten Lehrens und Lernens die Gesundheitsrisiken: Unter den derzeitigen Rahmenbedingungen empfinden 70 Prozent der Lehrkräfte eine stärkere bzw. sehr starke Zunahme der Belastungen, 54 Prozent erfahren stärkeren oder sehr starken digitalen Stress, unter anderem weil die Technik unzuverlässig und zu wenig IT-Unterstützung verfügbar ist. Die Lösung liegt hier darin, das individuelle Durchwurschteln durch eine gezielte Schulentwicklung zu ersetzen. Hierbei sollte die Digitalisierung in der Schule mit dem Ziel gestaltet werden, sowohl gemeinsame Lösungen zu entwickeln (Medienbildungs- und Unterrichtskonzepte), als auch Arbeitsbelastungen gezielt zu reduzieren. Die genutzte Technik müsste nutzungsfreundlich und verlässlich, IT-Support jederzeit verfügbar und Medienbildungskonzepte müssten integriert sein, dann würde der digitale Stress nachlassen.
Die genannten Lösungsvorschläge sprengen wohl den Rahmen der von Sparzwängen beherrschten Politik. Dies verbindet sich mit einem vierten Risikofaktor für die Gesundheit der Lehrkräfte: Durch die Auswertung zieht sich eine sehr pessimistische Erwartung. Bei der Auswertung zum Anstrengungs-Gratifikations-Quotienten spielen Antworten eine große Rolle, die darauf verweisen, dass weitere Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen und eine Zunahme von Mehrarbeit und Belastungen erwartet werden. Diese fehlende Aussicht auf eine Verbesserung erhöht ebenfalls das Gesundheitsrisiko der Lehrkräfte. Es droht ein Teufelskreis aus pessimistischer Erwartung, Verlust von Fachkräften und weiteren Verschlechterungen. Dagegen helfen kann nur eine Politik, die die Herausforderungen im Schulsystem endlich anpackt und nachhaltige Verbesserungsmaßnahmen realisiert. Denn nur bessere Arbeitsbedingungen bieten die Chance auf eine bessere Fachkräfteversorgung und eine zuversichtlichere Stimmung.
Hintergrundinformationen zur Umfrage und ein genauerer Ergebnisbericht:
Arbeitspapier 7 der Berliner Arbeitsbelastungsstudie (2024) – Wohlbefinden und Gesundheit von Berliner Lehrkräften
Arbeitspapier 8 der Berliner Arbeitsbelastungsstudie (2024) – Lehrkräfte in der Gratifikationskrise
Risikogruppen
46 Prozent der Befragten haben zu viele außerunterrichtliche Aufgaben, das sind mehr als in Sachsen 2022 (30 Prozent) und in Frankfurt/Main 2020 (40 Prozent).
31 Prozent der Lehrkräfte erleben einen großen Zeitmangel bei der Vorbereitung digital unterstützten Unterrichts.
38 Prozent der Lehrkräfte sagen, dass sie sich gezwungen sehen, sehr häufig ein un-gesundes Arbeitstempo anzuschlagen.
31 Prozent der Lehrkräfte im Sekundar-bereich haben relativ mehr große Klassen und erleben dadurch ein signifikant höheres Gesundheitsrisiko.
29 Prozent der Lehrkräfte fühlen sich stark vom Personalmangel in den Schulen beansprucht.