Gewerkschaft
Berufliche Bildung nach der Wende
In Ost und West war die berufliche Bildung sehr unterschiedlich aufgestellt. Die Unterschiede trafen ab 1990 aufeinander, leider nicht auf Augenhöhe. Die GEW BERLIN stand vor großen Herausforderungen.
Die Berufsausbildung war in der DDR war viel enger als im Westen mit den Betrieben verknüpft, die ihre »Lehrlinge« etwa zu zwei Dritteln »berufspraktisch« und zu einem Drittel »theoretisch« in der betrieblichen Berufsschule ausbildeten. Damit gab es im Vergleich mit dem dualen System der Berufsausbildung in der BRD keine so starke Trennung zwischen der Praxis im Betrieb und der Theorie in der Schule. In Ostberlin gab es rund 30 Betriebsberufsschulen und 27 kommunale Berufsschulen.
Ganz anders der Westen: Im Jahr 1979 wurden in Westberlin die ersten Oberstufenzentren (OSZ) eröffnet, unter deren Dach die Bildungsgänge von der Berufsausbildungsvorbereitung über das duale System der Berufsschulen bis zu den Bildungsgängen mit Hochschulzugangsberechtigung zusammengeführt wurden. Das sollte dazu beitragen, die Verzahnung der beruflichen und allgemeinen Bildung voranzubringen und die Gleichwertigkeit allgemeiner und beruflicher Bildung verdeutlichen.
Bis 1989 waren im Westteil Berlins 18 Oberstufenzentren neu gebaut oder in bestehenden Altbauten errichtet worden. Im Gegensatz zu den Betriebsberufsschulen im Ostteil Berlins waren die Oberstufenzentren berufsfeldrein. Ein gewerbliches OSZ bildete zum Beispiel nur in Metallberufen aus und nicht auch in der Elektrotechnik oder für den kaufmännischen Bedarf der Betriebe. Im Wiedervereinigungsjahr 1990 gab es in Westberlin nur noch sehr wenige berufsbildende Schulen.
Ost-Schulen in Abhängigkeit des Westens
Schon kurz nach dem Mauerfall gingen die strukturellen Veränderungen in der beruflichen Bildung des Ostteils der Stadt dann in rasanter Geschwindigkeit voran. In der Westberliner Senatsschulverwaltung wurde eine Projektgruppe eingerichtet, die die zukünftige Struktur des Berufsschulwesens in Berlin ausarbeiten sollte. Es wurde sehr schnell über einen Drei-Stufen-Plan gemunkelt: Erst sollten die Berufsschulen im Ostteil zu »berufsfeldreinen« Einrichtungen »bereinigt« werden. Dann sollten diese Schulen ab dem 1. Februar 1991 filialisiert werden. Der dritte Schritt war die langfristige Neugründung von Oberstufenzentren. Dieser Drei-Stufen-Plan wurde umgesetzt. Die ersten beiden Punkte sehr zügig. Eine Beteiligung der Lehrer*innen aus den berufsbildenden Schulen war bei der Beratung über die zukünftigen Strukturen nicht vorgesehen, obwohl die Frage zukünftiger Schulstrukturen für Lehrer*innen von existenzieller Bedeutung war.
Die Bereinigung der Betriebsberufsschulen zu berufsfeldreinen Einrichtungen führte dazu, dass langjährige Kollegien aufgeteilt wurden, einige mussten die Schule verlassen, neue kamen hinzu. Insbesondere die Filialisierung – die Schulen verloren ihre Eigenständigkeit und wurden von den Leiter*innen der Westberliner OSZ mit »verwaltet« – brachte die Ost-Berliner-Standorte in die Abhängigkeit eines Westberliner OSZ und zementierte eine Vereinigungsmentalität des »Westens«, die mehr auf Kolonisierung und Entmündigung hinauslief als auf Partnerschaft und Zusammenarbeit. Gegen die Filialisierung der beruflichen Schulen im Ostteil der Stadt hatte sich auch die Fachgruppe Kaufmännische Schulen in der GEW BERLIN mit einer Stellungnahme gegenüber der Senatsschulverwaltung positioniert.
Schulwege von vier Stunden waren keine Seltenheit
Die Folgen für die Lehrkräfte und ihre Schüler*innen lassen sich an einem Beispiel zeigen. Das OSZ Bürowirtschaft und Verwaltung mit dem Stammsitz Lichterfelde Süd und einer Filiale am Ostpreußendamm hatte nun auch zwei Filialen in Lichtenberg, mit insgesamt 280 Lehrkräften. Zur Teilnahme an den Konferenzen machten sich entweder die Lehrer*innen aus Lichtenberg auf die Reise nach Lichterfelde oder umgekehrt. Eine Auszubildende im Beruf Verwaltungsfachangestellte fuhr zweimal wöchentlich, bei Blockunterricht täglich, von Marzahn nach Lichterfelde. Eine auszubildende Kauffrau in der Bürokommunikation fuhr zweimal wöchentlich nach Lichtenberg. Schulwege von vier Stunden waren keine Seltenheit.
Viele Lehrkräfte aus dem Ostteil der Stadt hatten eine sogenannte Ein-Fach-Ausbildung. Die damaligen Fachgruppen in der GEW BERLIN setzten sich mit Nachdruck dafür ein, dass diese Kolleg*innen nicht wegen fachlicher Nichteignung gekündigt werden, sondern Angebote zur Fortbildung und insbesondere zur Weiterbildung bekamen.
Bereits mit Beginn des Schuljahres 1990/91 wurden die Westberliner Rahmenlehrpläne auch im Ostteil der Stadt verbindlich. Die Ausbildungsverhältnisse wurden auf die Berufsbilder gemäß Berufsbildungsgesetz umgestellt und die IHK bzw. die Handwerkskammer wurden zur zuständigen Stelle. Es wurden Schulbücher bundesdeutscher Verlage verwendet, West-Berliner Lehrer*innen wurden Dozent*innen und Mentor*innen für die Kolleg*innen an den Berufsschulen im Ostteil der Stadt. Im kaufmännischen Bereich mussten sich die Diplomökonompädagog*innen und die Ökonompädagog*innen in einen für sie komplett neuen Rechtsrahmen, z. B. in das Immobilienrecht, und ein anderes Rechnungswesen einarbeiten.
Im Fokus der GEW stand die Beschäftigungssicherung
Mit Beginn des Jahres 1990 war die Arbeit der GEW BERLIN stark geprägt von dem Bestreben, die Weiterbeschäftigung der Lehrkräfte aus dem Ostteil der Stadt zu sichern, die vorherigen Dienstzeiten anzurechnen und eine den Hochschulabschlüssen adäquate Eingruppierung zu erreichen. Die Lehrkräfte der Betriebsberufsschulen im Ostteil der Stadt, sie waren dort formal Beschäftigte des Betriebs, wurden mit dem 1. September 1990 Beschäftigte des jeweiligen Ostberliner Bezirks. Ab Dezember 1990 wurden die Kolleg*innen nach dem eilig vereinbarten BAT-O vergütet.
Nur in Berlin, wo zwei Tarifgebiete in einem Bundesland aufeinandertrafen, war es vom konkreten Arbeitsort abhängig, ob ein Mensch als Beschäftigter im Öffentlichen Dienst nach dem BAT oder dem BAT-O bezahlt wurde. In Berlin beschäftigte dieses Thema nahezu alle Personalvertretungen, weil die Verwaltung mit Versetzungen über die alten Grenzen hinweg Situationen schaffte, die als ungerecht und willkürlich empfunden wurden.
Die Bezahlung nach dem BAT-O hieß zunächst, dass 60 Prozent vom BAT (West), ab dem 1. Juli 1991, dann 70 Prozent und ab Oktober 1992 80 Prozent bezahlt wurde. In der beruflichen Bildung gab es wie heute Lehrkräftemangel. Während in der Innenverwaltung und bei der Polizei durch Versetzungen eine schnelle Eingliederung in den West-BAT organisiert wurde, wählte die Bildungsverwaltung einen anderen Weg. Es hätte dort auch die Möglichkeit gegeben, Kolleg*innen in einen Westbezirk zu versetzen und sie nach BAT (West) zu bezahlen. Um das zu verhindern, erfolgte in der Regel nur eine Abordnung von der Filiale im Ostteil an das West-OSZ und dieses oftmals auch nur für einige Stunden.
Die Anerkennung von Berufsabschlüssen spielte eine Rolle, als in Berlin die ersten Schritte erfolgten, um die Verbeamtung umzusetzen. Das geschah im März 1991. Das Gesetz sah vor, dass alle Lehrkräfte mit Abschlüssen der DDR vor einer Anerkennung der bisher im Westen geltenden Lehrämter ein Ergänzungsstudium und eine Prüfung oder aber eine Fortbildung ableisten müssen. Das Ergänzungsstudium ermöglichte den Kolleg*innen in der beruflichen Bildung den Aufstieg in die Studienratslaufbahn, wenn sie zuvor schon als Lehrkräfte mit zwei Fächern anerkannt waren. Für die Kolleg*innen, die sich dazu entschlossen, sich verbeamten zu lassen, wurde es ein weiter Weg. Zunächst mussten sie eine dreijährige Bewährungszeit absolvieren. Es folgte die beamtenrechtliche Probezeit mit dreijähriger Dauer, in der Regel verbunden mit der Auflage für zusätzliche Fortbildungen.
Streik gegen die Erhöhung der Pflichtstunden 1992
Nicht unerwähnt bleiben darf an dieser Stelle der Streik der Lehrkräfte gegen die lineare Erhöhung der Pflichtstunden im Jahr 1992. Noch im Sommer 1991 wurden für das Berliner Schulwesen Kündigungen mangels Bedarfs nicht ausgeschlossen. 1.500 Stellen sollten durch die Erhöhung der Pflichtstunden, Stundentafelkürzungen und die Streichung von Ermäßigungstatbeständen eingespart werden. Die GEW BERLIN berechnete bei diesen Maßnahmen eine Erhöhung des Überhangs auf 3.500 Stellen.
Die damals streikenden Lehrkräfte – erstmals sehr viele Beamt*innen – waren zu Recht enttäuscht darüber, dass der Streik im Hinblick auf die Pflichtstunden erfolglos blieb. Ein Erfolg war aber die Vereinbarung mit dem damaligen Schulsenator Klemann, die für die gesamte Legislaturperiode bis 1995 Kündigungen ausschloss. Der Überhang wurde auf Grundlage der Vereinbarung für Qualifikation und Schulentwicklung verwendet. Es war die erste koalitionsrechtliche Vereinbarung, die die GEW mit der Senatsbildungsverwaltung abschloss, in der Regelungen über Arbeitsbedingungen enthalten waren. Bis 1998 wurden weitere sechs Vereinbarungen mit entsprechenden Inhalten abgeschlossen.
In der Fachgruppenarbeit der Kaufleute in der GEW BERLIN standen in den beginnenden 90er Jahren Bildungsweg- und schulstrukturpolitische Debatten hinter den Fragen zur Arbeitsplatzsicherung für die Kolleg*innen zurück. Vor November 1989 beschäftigte uns die Einführung von computergestützten Lehr- und Lernformen und die Einführung einer verpflichtenden Fremdsprache an kaufmännischen Schulen. Danach entdeckten wir ein weiteres bildungspolitisches Thema: die vierjährige Berufsausbildung mit Abitur, einen Bildungsgang in der DDR. Vielleicht haben wir für dessen Erhalt zu wenig Energie aufgebracht oder aber die Bildungspolitiker*innen im Westen wollten absolut nichts von dem erhalten, was aus der DDR kam. Der Bildungsgang verschwand.
Übrigens: Seit einiger Zeit kann man ihn in einigen OSZ wiederentdecken. Jetzt heißt er allerdings Berufsabitur.