Gesellschaftspolitik
Berufsverbote in West-Berlin
Die Historiker*innen Julia Hörath und Jan-Henrik Friedrichs arbeiten seit letztem Jahr am Forschungsprojekt »Der Radikalenerlass in Westberlin: Entstehung – Wirkung – Folgen« - das ungekürzte Gespräch
Seit Januar 2024 arbeiten die beiden Historiker*innen Dr. Julia Hörath (FU) und Dr. Jan-Henrik Friedrichs (HU) an dem Forschungsprojekt „Der Radikalenerlasses in Westberlin: Entstehung – Wirkung – Folgen“. Das Projekt geht zurück auf einen Beschluss des Abgeordnetenhauses im Jahr 2021 (siehe bbz 09-10 2024).
Julia Hörath hat in London und Berlin mit einer Studie promoviert, die sich mit den frühen nationalsozialistischen Konzentrationslagern (1933–39) beschäftigt. Sie arbeitete freiberuflich für verschiedene KZ-Gedenkstätten und war Lehrbeauftragte am Institut für Geschichtswissenschaften der HU. Vor dem gegenwärtigen Projekt zum Radikalenerlass hat sie am Hamburger Institut für Sozialforschung gearbeitet und sich dort unter anderem mit der Neuen Linken und mit den Protesten gegen Datenerfassung durch Sicherheitsbehörden beschäftigt.
Jan-Henrik Friedrichs hat vor allem zu Kultur- und Bewegungsgeschichte nach 1968 geforscht. Promoviert hat er an der University of British Columbia zu Hausbesetzungen und Drogenszenen in West-Berlin und Zürich in den achtziger Jahren. Danach hat er lange in einem Forschungsprojekt zur Sexualitätsgeschichte ab den sechziger Jahren gearbeitet. Zuletzt verfolgte er ein eigenes, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der Uni Hildesheim gefördertes Forschungsprojekt „Zu den Auswirkungen des Radikalenerlasses im Feld Schule“.
Das Gespräch wurde am 14.10.2024 von Ewald Leppin für die AG Berufsverbote und Christoph Wälz für die bbz-Redaktion geführt.
Christoph Wälz: Mit welchen Leitfragen seid ihr an die Forschung zu den Folgen des Radikalenerlasses nach 1972 herangegangen?
Friedrichs: Die übergreifenden Fragen beziehen sich zum einen auf die Akteur*innen, die bei der Umsetzung des Radikalenerlasses beteiligt waren, sprich Behördenvertreter*innen und verantwortliche Politiker*innen. Zum anderen geht es um die Betroffenen und die Strategien der Proteste gegen den Radikalenerlass. Unser Projekt ist das erste – vorher gab es bereits Untersuchungen für Hamburg, Baden-Württemberg und Niedersachsen– das den Fokus auf die individuellen Folgen für die Betroffenen legt. Das ist maßgeblich auf die Arbeit der GEW-AG Berufsverbote zurückzuführen. Zudem geht es um die Frage, was in West-Berlin besonders war, und um die gesamtgesellschaftliche Verortung, also um die Bedeutung der Berufsverbote für die Geschichte West-Berlins und der Bundesrepublik insgesamt.
Wälz: Konntet ihr die Forschungsfragen selbst bestimmen oder waren diese vorgegeben?
Friedrichs: Die Forschungsfragen ergeben sich zum Großteil aus dem Projektantrag der Projektleiter*innen Paul Nolte (FU), Gabriele Metzler (HU) und Martin Sabrow (ZZF Potsdam). Zugleich ergeben sich neue Fragen im Forschungsprozess.
Wälz: Wie sieht dieser Forschungsprozess aus? Wie geht ihr vor?
Hörath: Wir sind gerade in der Phase der Datenerhebung zu den beiden von Jan genannten Schwerpunkten. Da geht es zum einen um Interviews mit den vom Radikalenerlass Betroffenen. Sehr hilfreich waren dazu die in der bbz 3/4 2024 und der E&W 3/2024 veröffentlichten Aufrufe an Zeitzeug*innen. Zum anderen geht es um die Recherche in den Archiven, vor allem im Landesarchiv Berlin, im Bundesarchiv, in den Archiven von Freier und Technischer Universität und beim Hamburger Institut für Sozialforschung. Wir werden auch noch in Freien Archiven und in sogenannten Bewegungsarchiven suchen. Dabei erfassen wir Quellen wie behördliche Schriftwechsel, Dienstverordnungen, Verwaltungsrichtlinien und Gerichtsentscheidungen sowie Anhörungsprotokolle und andere Dokumente zu den politischen Überprüfungsverfahren.
Ewald Leppin: Die Umsetzung des Radikalenerlasses lief in West-Berlin zumeist in den Bezirken. Sind die Dokumente dazu inzwischen im Landesarchiv verfügbar?
Hörath: Die Bezirke sind laut Landesarchiv-Gesetz verpflichtet, Schriftgut nach einer bestimmten Aufbewahrungsfrist ans Landesarchiv abzugeben. Aber da es überwiegend um sensible Personendaten geht, ist einiges wegen einzuhaltender Schutzfristen noch nicht zugänglich, ein Phänomen, mit dem zeithistorische Projekte immer zu tun haben. Wir können zwar auf Antrag auch Quellen einsehen, die noch der Schutzfrist unterliegen, aber für die Auswertung sind uns dann enge Grenzen gesetzt.
Wälz: Bei dieser schwierigen Quellenlage wird es in absehbarer Zeit kaum möglich sein zu sagen: Wir haben alles Nötige erforscht, oder?
Hörath: Das berührt grundsätzlichere Fragen danach, was Forschung überhaupt leisten kann. Es geht immer nur um einen fließenden Prozess. Endgültig abgeschlossenes gibt es nicht. Die Fragen, die wir Historiker*innen an die Vergangenheit stellen, haben etwas mit unseren Gegenwartsbezügen zu tun: Was finden wir gegenwärtig relevant? Solide Forschung muss aus meiner Sicht auch transparent machen, wo die Lücken und Grenzen des Erarbeiteten sind und sie sollte weiterführende Fragen aufwerfen, an die künftige Forschung anschließen kann. Aber natürlich werden wir am Ende ein Projektergebnis präsentieren, das unsere zentralen Fragen adressiert und zudem den gegenwärtigen Forschungsstand und die Quellenlage präzise beschreibt.
Leppin: Ich habe noch eine Frage zur Aktenlage. In Hamburg führte die Behörde auch illegale „schwarze“ Akten. Zum Beispiel waren dort Stellungnahmen von Schulleitungen festgehalten, die für die Betroffenen nachteilig, aber ihnen nie vorgelegt worden waren. Gab es so etwas auch in West-Berlin?
Hörath: Das ist mir nicht bekannt. Die Überlieferung enthält durchaus auch die Berichte, die der Verfassungsschutz auf Anfrage an die Einstellungsbehörden übermittelte. Auch Anhörungsprotokolle und schriftliche Stellungnahmen von Betroffenen finden sich in den Akten. Die Quellenlage macht den Ablauf der politischen Überprüfungsverfahren gut nachvollziehbar.
Friedrichs: Für West-Berlin fällt auf, dass gerade in den ersten Jahren in den Bezirken recht unterschiedlich verfahren wurde. Es gab auch Anweisungen, den Bewerber*innen politische Ablehnungsgründe nicht zu nennen, um den Klageweg zu vermeiden. Stattdessen sollte auf die Bedarfslage verwiesen werden.
Hörath: Später wurden die Verfahren vereinheitlicht in Richtung von mehr Transparenz und um sie in Ablehnungsfällen „gerichtsfest“ zu machen. Den Betroffenen wurden in der Regel die Erkenntnisse des Verfassungsschutzes bzw. die Gründe für die Ablehnung ihrer Bewerbung mitgeteilt und mit Einrichtung der Landeskommission hatten sie ab Anfang 1977 ausdrücklich das Recht, die Aufnahme der Verfassungsschutzerkenntnisse, ihrer schriftlichen Stellungnahme bzw. ggf. des Anhörungsprotokolls in ihre Personalakte zu beantragen. Ohne einen solchen Antrag waren diese Dokumente zum Schutze der Betroffenen nicht Teil der Personalakte.
Wälz: Ihr seid jetzt 9 von geplanten 24 Monaten an diesem Forschungsprojekt dran. Gibt es schon Teilergebnisse?
Hörath: Für meinen Bereich kann ich nach den ersten Sichtungen feststellen, dass es fünf Entwicklungsphasen im Kontext des Radikalenerlasses gegeben hat: eine Frühphase 1969 bis 72 im Gefolge der 68er-Studierendenbewegung, die zweite Phase nach dem Beschluss der Ministerpräsidenten vom 28.1.1972 bis etwa 1975, die Hochphase 1975 bis 77 nach den Abgeordnetenhaus-Wahlen 1975 mit behördlichen Verschärfungen einerseits und einer Ausweitung der Protestbewegung an Hochschulen und Schulen andererseits, schließlich die vierte Phase von 1977 bis 79 mit der Einrichtung einer Landeskommission zur Vereinheitlichung der Verfahren und die letzte Phase, die mit der Aufhebung der Regelanfrage beim Verfassungsschutz 1979 begann, in der es nur noch vereinzelt Ablehnungen aus politischen Gründen gab.
Wälz: Gab es denn nach Abschaffung der Regelanfrage eine Wiedereinstellung der vorher abgelehnten Bewerber*innen?
Hörath: Nein, es gab keine Rehabilitierung. Aber man konnte sich natürlich neu bewerben.
Wälz: Sind dann ehemals Betroffene auch eingestellt worden?
Friedrichs: Zum Teil ja. Aber inzwischen, um 1980, gab es Lehrkräftearbeitslosigkeit, und bei Neubewerbungen im Bildungsbereich spielte dann eher der Bedarf eine Rolle. Im Ergebnis meiner bisherigen Recherchen kann man sagen, dass es relativ vielen betroffenen Lehrkräften gelungen ist, auf Umwegen doch in die Schulen zu kommen, zum Beispiel durch gewonnene Arbeitsgerichtsprozesse oder durch die Bewerbung an konfessionellen Schulen. Für Andere bedeuteten die Verfahren teils erhebliche Brüche in ihren Erwerbsbiografien. Einige verließen Berlin und bewarben sich in anderen Bundesländern. Andere schulten um in den gewerblichen Bereich; einem Zeitzeugen gelang daraufhin Ende der achtziger Jahre der Wechsel an eine Berufsschule.
Ich gehe nochmal zurück in die siebziger Jahre. Ob bei Zweifeln des Verfassungsschutzes ein*e Bewerber*in abgelehnt oder eingestellt wurde, war ziemlich willkürlich. Es hing vor allem von dem zuständigen Bezirksstadtrat ab. Aber auch die persönliche Strategie der Betroffenen in den Anhörungen konnte eine Rolle spielen, wenn etwa ein Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins (SEW) die Frage nach der Parteizugehörigkeit als verfassungswidrig zurückwies oder ein Mitglied des Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW) als Antwort ein politisches Pamphlet verlas. Für die Betroffenen war es ein Abwägen zwischen ihren politischen Überzeugungen und dem Wunsch, die eigene berufliche Zukunft zu sichern. Letztlich waren sie in einer solchen Situation allein.
Leppin: Konntest du herausfinden, welches emotionale Verhältnis die Betroffenen heute zu den Vorgängen von damals haben? Wie haben sie das verarbeitet? Wie reden sie heute über ihr eigenes Berufsverbot?
Friedrichs: Das ist individuell sehr unterschiedlich. Allen gemeinsam ist, dass sie nicht als Opfer gesehen werden wollen, sondern als Handelnde, die sich gegen staatliche Repression gewehrt haben. Andererseits war auch der individuelle Druck sehr unterschiedlich. Und der heutige Blick auf das frühere politische Engagement färbt das Sprechen über Berufsverbote ebenfalls. Da müssen wir noch weiter forschen.
Leppin: Zum Radikalenerlass hat es bereits erste Untersuchungen in anderen Bundesländern – Hamburg, Niedersachsen, Baden-Württemberg – gegeben. Was war in West-Berlin anders?
Friedrichs: Die These, dass es in Berlin eine besonders scharfe Umsetzung des Radikalenerlasses gab, scheint sich zumindest für die Anfangsjahre zu bestätigen. In der „Frontstadt“ Berlin spielte die Auseinandersetzung mit der DDR eine größere Rolle als in Westdeutschland. Bereits nach dem 17. Juni 1953 und dann nach dem Mauerbau gab es sogar gewerkschaftliche Versuche, Kommunist*innen aus den Betrieben zu entfernen. Diese Tradition wirkte nach, als es in den siebziger Jahren um die Einstellung in den öffentlichen Dienst ging. Hinzu kam die besondere Stärke der Studierendenbewegung. Während es in den anderen Bundesländern wohl in erster Linie um Organisations- oder Parteimitgliedschaft ging, konnte es in Berlin genügen, für linke Listen bei universitären Gremienwahlen kandidiert zu haben, um eine Ablehnung zu bekommen. Die Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden war an den Berliner Universitäten vergleichsweise hoch und produzierte deshalb auch mehr „Erkenntnisse“.
Hörath: Zwei Besonderheiten für Berlin habe ich schon genannt: Die lange Vorlaufphase von 1969 bis 1972 und die uneinheitliche Vorgehensweise in den Bezirken. Zudem war die Freie Universität (FU) ein besonderer Kristallisationsort der Proteste gegen den Berliner Senat. Auf der Gegenseite bildete sich eine „Notgemeinschaft für eine Freie Universität“ (NoFU), die durch das Anlegen von Schwarzen Listen bundesweit vor linken Absolvent*innen der FU warnte.
Friedrichs: Bisher zeigt sich für mich, dass es keinen monolithischen Block auf der Seite der Administration gab, um Linke aus dem öffentlichen Dienst herauszuhalten. Es gab auch Widersprüche und Brüche innerhalb und zwischen den Institutionen, den Bezirken und der Senatsführung.
Hörath: Aus meinen Recherchen zu den Anhörungen kann ich bestätigen, dass es, abhängig von den beteiligten Akteur*innen, recht unterschiedliche Verläufe gab. Auf der einen Seite bewegte sich das Verhalten der Betroffenen zwischen „widerständig“ und „kooperativ“, auf der anderen Seite gab es unterschiedliche Vorgehensweisen der Anhörungskommissionen. Das reichte von feststehender Vorverurteilung bis zum Bemühen, möglichst viele unterstützende Stellungnahmen aus dem Umfeld der Angehörten zu berücksichtigen. Und es gab zum Teil auch Widersprüche innerhalb der Kommissionen.
Leppin: Der Antrag, den wir als GEW 2020 vorgelegt haben, im Abgeordnetenhaus eingebracht von der Linken, sah auch eine Entschuldigung des Senats und die Möglichkeit einer Entschädigung im Einzelfall vor. Das konnten wir leider nicht durchsetzen. Als Mitakteur und Zeitzeuge habe ich zum Abschluss noch eine persönliche Frage: Wie seht ihr die Chancen, dass es nach Abschluss eurer Arbeiten und der Veröffentlichung der Ergebnisse zu einer erneuten parlamentarischen Runde zum Thema kommen könnte, die eine vollständige Rehabilitierung der Betroffenen zur Folge haben könnte?
Friedrichs: Um etwas über die Möglichkeiten zukünftiger parlamentarischer Vorgänge sagen zu können, bräuchten wir eine Kristallkugel. Zugleich sind wir mitten im Forschungsprozess und können den Ergebnissen nicht vorgreifen. Aber warum sollte nicht auch in Berlin eine ähnliche Lösung wie 2011 in Bremen möglich sein? Dort hat der Bremer Senat eine Entschädigung in Härtefällen angeboten. Einer Handvoll Betroffener wurden daraufhin die fehlenden Rentenpunkte nachbezahlt, also ein sehr überschaubarer finanzieller Aufwand.
Leppin: Wir danken euch für dieses Gespräch und wünschen euch weiterhin gutes Gelingen für eure Arbeit. Wir sind gespannt auf die Ergebnisse und werden am Ende gerne nochmal mit euch zusammenkommen.