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bbz 07-08 / 2018

Bildung ist nicht das Patentrezept

Nur durch eine Umverteilung von Reichtum können wir Armut erfolgreich bekämpfen.

Aufwertungsdruck und Abstiegsangst treffen auf der Reichenberger Straße in Kreuzberg mit Wucht aufeinander. Unser Fotograf Bertolt Prächt hat seine Eindrücke für unsere Titelgeschichte eingefangen.

Wenn es um Armut geht, steht das Verhältnis zur Bildung sehr oft im Mittelpunkt. Sowohl mit Blick auf die Ursachen als auch auf die Bekämpfung von Armut erscheint Bildung als dominanter Faktor. Einerseits wird Armut in Deutschland häufig auf Bildungsmängel zurückgeführt, andererseits konzentrieren sich die Gegenmaßnahmen folgerichtig auf die Verstärkung der Bildungsbemühungen. Durch eine Blickverengung auf (gescheiterte) Bildungsbiografien sozial Benachteiligter wird jedoch von der eigentlichen Wurzel abgelenkt: der sich ständig vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich. Gleichzeitig betreibt man eine Individualisierung, Psychologisierung und Pädagogisierung dieses Kardinalproblems der gesellschaftlichen Entwicklung, dessen erfolgreiche Lösung nur mittels einer Umverteilung der enormen materiellen Ressourcen von oben nach unten möglich ist.

Armut macht dumm, aber Dummheit nicht arm

Wer als Regierungsmitglied, verantwortliche*r Politiker*in oder Repräsentant*in einer etablierten Partei den privaten Reichtum nicht antasten will, verweist gern auf die überragende Rolle von Bildung, ohne dafür mehr Geld bereitzustellen. Symptomatisch war das Jahresgutachten im Jahr 2016/17 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung mit dem Titel »Zeit für Reformen«, welches statt einer Wiedererhebung der Vermögensteuer die Einführung eines verpflichtenden Vorschuljahres empfahl. Bildung ja, Umverteilung nein. Letztere ist jedoch die unabdingbare Voraussetzung für eine bessere Ausstattung der öffentlichen Schulen und eine umfassendere Bildung der Kinder.

Ungewollt verleitet der häufig verwendete Begriff »Bildungsarmut« zu dem Irrglauben, eine gute Schulbildung biete die Gewähr für einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz. Zweifellos verhindern Bildungsdefizite vielfach, dass junge Menschen auf liberalisierten Arbeitsmärkten sofort Fuß fassen. Auch führt die Armut von Familien häufig dazu, dass deren Kinder keine weiterführende Schule besuchen oder sie ohne Abschlusszeugnis wieder verlassen. Armut in der Herkunftsfamilie zieht oftmals Bildungsdefizite der davon betroffenen Kinder nach sich. Der umgekehrte Effekt ist hingegen kaum signifikant, denn ein schlechter oder fehlender Schulabschluss verringert zwar die Erwerbschancen, wirkt sich aber kaum nachteilig auf den Wohlstand einer Person aus, wenn diese vermögend ist oder Kapital besitzt. Armut führt in aller Regel zur Bildungsbenachteiligung der davon Betroffenen, Bildungsbeteiligung aber nicht zu Reichtum. Pointiert formuliert: Armut macht zwar auf die Dauer dumm, Dummheit deshalb jedoch noch lange nicht arm.

Armut und Bildung stehen in einem Wechselverhältnis zueinander, aber nicht in dem Sinne, dass Bildungsdefizite der Eltern die Kinderarmut herbeigeführt hätten. Kinder aus sozial benachteiligten Familien gehören zwar zu den größten Bildungsverlierer*innen, ihre Armut basiert jedoch selten auf falschen oder fehlenden Schulabschlüssen, denn die Letzteren sind höchstens Auslöser und Verstärker, aber nicht Verursacher materieller Not. Bildungsdefizite führen allerdings oft zu einer Verfestigung der Armut, weil die Chancen eines Menschen auf dem Arbeitsmarkt und Berufskarrieren heute immer stärker an Qualifikationen gebunden sind, die man an (Hoch-)Schulen erwirbt.

Wenn man so tut, als führten hauptsächlich mangelnde Bildungsanstrengungen zu materieller Armut, fällt ausgerechnet den Betroffenen im Sinne eines individuellen Versagens (der Eltern) die Verantwortung dafür zu, während ihre gesellschaftlich bedingten Handlungsrestriktionen und die politischen Strukturzusammenhänge aus dem Blick geraten. Bildungsbeteiligung für die einen und Bildungsbenachteiligung für die anderen Kinder ergeben sich aus der Tendenz zur sozialen Polarisierung, die wiederum eine Folge der Globalisierung beziehungsweise der neoliberalen Modernisierung darstellt.

Bessere Bildung erhöht die Konkurrenzfähigkeit, nicht den Reichtum

Was unter günstigen Umständen fraglos zum individuellen beruflichen Aufstieg taugt, versagt als gesellschaftliches Patentrezept. Wenn alle Jugendlichen, nicht bloß jene mit Migrationshintergrund, mehr Bildungsmöglichkeiten bekämen, was ihnen sehr zu wünschen wäre, würden sie um die wenigen Ausbildungs- beziehungsweise Arbeitsplätze womöglich nur auf einem höheren geistigen Niveau, aber nicht mit größeren Chancen konkurrieren. Eine bessere (Aus-)Bildung erhöht die Konkurrenzfähigkeit eines Heranwachsenden auf dem Arbeitsmarkt, ohne die Erwerbslosigkeit und die (Kinder-)Armut zu beseitigen.

Zwar kann ein Individuum durch die Beteiligung an Bildungsprozessen einer prekären Lebenslage entkommen, eine gesamtgesellschaftliche Lösung bietet sie allein nicht. Die bestehenden Ungleichheitsstrukturen werden durch das mehrgliedrige Bildungssystem der Bundesrepublik nicht aufgebrochen, sondern, wie zahlreiche Untersuchungen belegen, reproduziert und zementiert. Nur wer sich der Grenzen einer Strategie bewusst ist, die auf vermehrte Bildungsangebote für Kinder aus sozial benachteiligten Familien setzt, leistet einen Beitrag zur Bekämpfung des Armutsrisikos dieses Personenkreises.

Ohne eine Verbesserung der Bildungseinrichtungen und der Bildungschancen für alle Bürger*innen beziehungsweise ihrer Kinder ist die Armut nicht erfolgreich zu bekämpfen. Aber nur mittels eines Ausbaus im Bildungsbereich lässt sich das Problem ebenso wenig lösen. Vielmehr bedarf es darüber hinaus neben einer Vielzahl anderer Maßnahmen zur Ver-besserung der sozialen Infrastruktur einerseits sowie zur Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen andererseits. Schließlich kann die Pädagogik weder eine gerechte Steuerpolitik noch eine, die Armut konsequent bekämpfende, Sozialpolitik ersetzen.

Es ist heuchlerisch und purer Zynismus, den Armen »Bildet euch, bildet euch, bildet euch!« zu predigen, ihnen jedoch die dafür notwendigen materiellen Ressourcen vorzuenthalten. Liberalkonservative Politiker*innen, die in Sonntagsreden eine bessere Bildung für alle versprechen, erhöhen im Alltag durch Förderung der Privatschulen, Beschneidung der Lernmittelfreiheit und (Wieder-)Einführung von Studiengebühren die Bildungsbarrieren für Kinder aus sozial benachteiligten Familien.

Bildungsbeteiligung ist kein Garant für eine gesicherte materielle Existenz. Andernfalls hätten nicht über zehn Prozent aller Beschäftigten im Niedriglohnsektor einen Hochschulabschluss. So wichtig Bildungs- beziehungsweise Kulturangebote für Kinder sind, so wenig taugen sie als Wunderwaffe im Kampf gegen die Armut. Zwar werden die Armen häufig dumm (gemacht), die Klugen aber deshalb nicht automatisch reich. Bildung ist daher auch nur ein begrenzt taugliches Mittel gegen (Kinder-)Armut, denn sie kann zwar durch soziale Diskriminierung entstandene Partizipationsdefizite junger Menschen mildern, allerdings nicht verhindern, dass materielle Ungleichgewichte auf deren Arbeits- und Lebensbedingungen durchschlagen.


Armutsdefinition
Die relative Einkommensarmut erfasst statistisch jene Menschen, deren Haushaltseinkommen geringer ist als das ihres Umfeldes. Im europäischen Raum gilt als arm, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Netto-Äquivalenzeinkommens zur Verfügung hat. Laut Daten des Mikrozensus 2015 lag die  Armutsschwelle in Deutschland für ein Paar mit einem Kind unter 14 Jahre bei 1.696 Euro, für Alleinerziehende bei 1.225 Euro.


Dieser Artikel ist Teil des bbz-Themenschwerpunkts „Arme Kinder Reiches Land“  [zur gesamten Ausgabe]