"Bausteine gegen Gewalt"
Bildungsauftrag Gewaltprävention
Beim Umgang mit Schüler*innenkonflikten stellt die Verankerung von Gewaltprävention einen unverzichtbaren Baustein dar.
Ahmed hat wieder zugeschlagen, diesmal in der Hofpause gegen zwei Mädchen, die gerade auf der Teller-Seilbahn herumgeschaukelt sind. Die herbeigerufene Lehrerin lässt Ahmed zu sich kommen, stellt ihn zur Rede, befragt einige umstehenden Mitschüler*innen als Zeug*innen und beendet die Pausenaufsicht mit ernsthaften Worten: »Das werden wir noch mal mit eurer Klassenlehrerin nachbesprechen müssen!« Missmutig schlendern alle Schüler-*innen mit dem Abklingeln ins Treppenhaus. Die Lehrerin hinterlegt für die Klassenlehrerin einen Mitteilungszettel über den Vorfall und bittet um einen Vermerk im Klassenbuch, da Ahmed zum wiederholten Male gegen Mädchen aggressiv geworden ist.
Dieser nicht untypische Vorfall lässt offen, ob es wirklich zu einer Nachbesprechung kommen soll, ob sich Klassenlehrerin und Mitschüler*innen gemeinsam um Ahmeds Sozialverhalten kümmern wollen, kurz gesagt, ob es erzieherische Konsequenzen geben wird, wie Elterninformation und zeugnisrelevanten Vermerk im Klassenbuch, oder gar die Anberaumung einer Klassenkonferenz.
Schulstationen sind unerlässlich
Dieser Zwischenfall würde in Schulen, die über eine Schulstation verfügen, durchaus zügig, nachhaltig und kompetent »verhandelt« werden können. Vom Schüler würde in vertrauensvollem Kontakt eine ehrliche Einsicht mit Entschuldigung und möglicherweise eine Wiedergutmachung gegenüber den Geschädigten erwartet werden können. Der Konflikt wäre rasch geschlichtet, weil eine Schulstation dafür zuverlässig zur Verfügung stände.
Doch warum gelingt es im heutigen Schulalltag oftmals nur sehr unzureichend, wenn überhaupt, das wachsende Gewalt- und Konfliktpotential der Berliner Schüler*innenschaft einzudämmen? Liegt es an einer überlasteten Lehrer*innenschaft, die solche kurzfristigen, aber intensiv auftretenden Zwischenfälle nicht lösen kann? Hängt es mit den angestiegenen Schüler*innenzahlen mit Förderstatus, mit überfüllten und beengten Willkommensklassen oder mit rapide gestiegenen Familien in prekären Lebensverhältnissen zusammen? Diese Fragen kann ich aus langjähriger Praxiserfahrung mit einem eindeutigen JA beantworten und mit der Perspektiv-Frage verknüpfen: »Wie sollte unser Schulsystem darauf zielgerichtet und effektiv reagieren, präventiv, intensiv und gut vernetzt mit benachbarten Behörden, Jugendamt und Horteinrichtungen?«
Vorrangige Maßnahme wäre die Implementierung einer Schulstation, regelmäßig geöffnet, ansprechend und kommunikativ ausgestattet für Schüler*innen, Eltern und Lehrkräfte. Hier, in einer umfangreich ausgestatteten Schulstation, werden Einzelkonflikte verhandelt, Gruppengespräche, Telefonate und Protokolle geführt, neue Vereinbarungen und Klassenprojekte gestaltet.
Eine angstfreie Lernatmosphäre schaffen
Gemeinsames pädagogisches Ziel bleibt für alle Beteiligten, eine gewaltfreie und angstfreie Lernatmosphäre zu schaffen, die gerade den schwächeren, »abgehängten« Schüler*innen zugutekommen soll. Dazu müssen diese Kinder in ihrer belasteten Rollenposition innerhalb der Lerngruppe überhaupt erst einmal positiv und offenherzig kontaktiert werden, vertrauensvoll, freundlich, aufgeschlossen.
Gelingt eine solche Eindämmungsstrategie nur unzulänglich oder regressiv, so ist als zweite Strategiestufe, ein sofortiges pädagogisches Krisenteam gefordert, wie es im »Notfallordner für Berliner Schulen« empfohlen wird.
Zum Krisenteam gehören: Schulleitung, Klassenleitung, Erzieher*innen, Vertreter*innen des SIBUZ, sowie Vertrauenslehrer*innen oder eine fachbezogene Lehrkraft. Diese flexible Gruppe befasst sich regelmäßig mit Gewaltvorkommnissen, auch kleineren, oberhalb einer Bagatellschwelle, tauscht sich aus mit bezirklichen und überbezirklichen Fürsorgeeinrichtungen, konzipiert schulinterne Fortbildungen und hält Beratungsangebote bereit.
Bei extremen Gewaltfällen, beispielsweise tätlichen Angriffen auf Lehrkräfte, sollte der Bereich Krisenintervention der Schulpsychologie unbedingt zu Rate gezogen werden.
Der Notfallordner bietet schnelle Hilfe
Der umfangreiche »Notfallordner für Berliner Schulen« ist eine große, systematisch-strukturierte Handreichung für alle denkbaren Gewaltvorfälle. In drei Gefährdungsgraden kategorisiert, werden Gewaltvorfälle analysiert, in erzieherische Handlungsempfehlungen transformiert und an Schulleitung, Kollegium und Horterzieher*innen adressiert. Auch weiterem Schulpersonal bietet der Notfallordner schnelle Hilfe. Dazu gehört auch das ausgefüllte Notfall-Verzeichnis zur sofortigen Erreichbarkeit des Krisenteams einer Schule. Häufig ist der Standort des Ordners unbekannt, was natürlich nachgebessert werden müsste. Dazu gehört auch der Umgang mit dem Melde- und Weiterleitungsverfahren. Das Rückmeldeverfahren sollte in einer schulinternen Fortbildung geübt werden.
Betrachtet man die Berliner Gewaltstatistik über einen längeren Zeitraum, so fallen mehrere Negativtendenzen auf. Zum einen sind in fast allen Bezirken die Zahlen der gemeldeten Vorfälle angestiegen, zum anderen sind die Zahlen der gemeldeten Angriffe auf das Schulpersonal hoch. Hinzu kommen Vorfälle im Bereich »Mobbing/ Beleidigung/ rassistische Bemerkung/ Bedrohung«. Das Fazit ist erschreckend und besorgniserregend, ein Handlungsbedarf dringend geboten.
Ein*e Präventionsbeauftragte*r ist bisher an einigen Schulen im sozialen Brennpunkt funktional in einer festen Schulstation integriert, beziehungsweise übernimmt das inhaltliche Arbeitsfeld einer Schulstation. Auch wenn arbeitsrechtlich eine Schulstation durch einen freien Träger organisiert sein mag, so lässt sich ihre unverzichtbare Tätigkeit, wozu viele notwendigen organisatorischen Absprachen gehören, sofort erkennen, wenn man sich folgenden real erlebten Einzelfall vor Augen hält:
Daniel aus der Klasse 5b hat den Förderstatus »emotional-sozial« und den Förderstatus »Lernen«, damit einen Anspruch auf Förderstunden von maximal sechs Wochenstunden. Nachdem mehrere verdeckte und offene Gewaltvorfälle während des Unterrichts und den Pausen bekannt wurden, sollte Daniel als akuter Notfall auf Beschluss der Schulkonferenz in eine ambulante klinische Abteilung des Bezirks überwiesen werden. Dort sollte er erneut getestet und schulrechtlich weiter beschult werden.
Obwohl die zuständige Tagesklinik, die einzige in Charlottenburg, »hoffnungslos überfüllt, mit langer Warteliste« war, gelang der Leiterin der Schulstation und des Klassenlehrers, diese unausweichliche Maßnahme.
Ohne die enge pädagogische Kooperation zwischen Schulstation, beziehungsweise Präventionsbeauftragter, und Klassenlehrer, mit aktiver Unterstützung durch das SIBUZ und die Schulleitung, wäre eine solche Beschlussmaßnahme zum Scheitern verurteilt gewesen.
Mit perspektivischem Blick plädiere ich für neue Bildungs- und Unterrichtsangebote, die einer stark veränderten Schüler*innenschaft, innovative Lern- und Erfahrungsräume eröffnet. Medienbausteine und Unterrichtsprojekte wie das Buddy-Projekt, das Fairplay-Konzept, das Aktionsbündnis Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage, sind unverzichtbar. Insbesondere im offenen und gebundenen Ganztagsbetrieb braucht es enge und effektive Kooperationen. Der Stellenwert von Gewaltprävention ist unbestritten und es gilt, ihrer gewachsenen Bedeutung im täglichen Unterrichtsgeschehen Geltung zu verschaffen.