blz 09 / 2014
Bildungsgerechte Schule in Kreuzberg
Ein pädagogisches Konzept, aber nicht nur
Aufregendes Kreuzberg: Politisch bewegt. Ethnisch bunt. Künstlerisch alternativ. Kneipen, Cafés, Bars, Kabaretts, Theater, SwingerClubs, Vegan bis Currywurst. Wohnraum der teuerste. Wandel und auch Verdrängung. Unsere Schule mittendrin. Mittendrin im schicken Bergmannkiez. Unsere Kinder kommen überwiegend aus dem alten SO 36. Sie sind stolz auf eine Kiezvergangenheit, die sie gar nicht mehr erlebt haben, auf der Suche nach einer Identität, die Armut und verletzter Ehre etwas entgegenzusetzen hat.
Bildung, Ausbildung, Perspektiven von Eigenständigkeit und Selbstbestimmtheit erwarten sie, wenn sie an unsere Schule kommen. Tapfer sind sie dabei oft ihre eigenen Erzieher.
Die drei Säulen
Am Morgen, wenn unsere Kinder aus den U-Bahnschächten Gneisenaustraße und Mehringdamm aufsteigen und gut gelaunt auf dem Weg in unsere Schule sind, ziehen an ihnen in entgegengesetzter Richtung Scharen von SchülerInnen aus dem schicken Bergmannkiez vorbei in Privatschulen oder Schulen der Nachbarbezirke. Sie könnten genauso gut auch zu uns kommen; denn wir sind eine Schule für alle.
Die drei Säulen – Gemeinschaftsschule, Inklusive Schule, Ganztagsschule – der bildungsgerechten Schule sind unser Tempel. Individuelle Förderung, multiprofessionelle PädagogInnenteams, Binnendifferenzierung, Soziales Lernen, Kunst und Kultur, Wissenschaftliche Evaluation, enormer Lernzuwachs, gute Abschlussquoten. Vieles und mehr könnten unsere Kreuzberger Nachbarschulen ebenso von sich berichten.
Wie ist es möglich, dass angesichts dieser hohen Qualität pädagogischer und lernerfolgsorientierter Instrumente, Einsätze und vor allem bildnerisch und erzieherisch tätiger Menschen so viele Eltern diesem sagenhaften Stadtteil und seinen sagenhaften Schulen ihre Kinder entziehen? Denn so ist es. Jährlich sinken die Anmeldezahlen an den Kreuzberger Integrierten Sekundarschulen. Ein Stadtteil entlässt seine Kinder.
Dabei ist Kreuzberg der historische Nabel Berlins. Da war schon immer alles anders. Da war schon immer alles freier, unangepasster, kontroverser, solidarischer – auch härter. Ein Katalysator der Vielfalt. Die Vielfalt kann man nicht pflegen und kreativ entwickeln, wenn man zur Segregation zurückkehrt. Das aber passiert, wenn sämtliche Kreuzberger Sekundarschulen bis auf eine ohne eine gymnasiale Oberstufe arbeiten, wenn Gebäude des vorletzten Jahrhunderts aus Mangel an Investitionen nicht nur an äußerlicher Attraktivität verlieren, sondern auch den Ansprüchen des modernen Lernens nicht mehr genügen.
Die Finanzpolitik zwingt zudem den Bezirk zu Sparmaßnahmen im Schul-, Jugend- und Bildungsbereich. Denn Haushaltsdefizite werden nach einer Rechnung ermittelt, die Pro-Kopf-Quadratmeterzahlen für Schulen ansetzt und wobei völlig aus dem Blickfeld gerät, dass der Raum der dritte Pädagoge ist.
Die Politik muss die Chance einer gut gebildeten und ausgebildeten wohnortverbundenen Jugend wahrnehmen und darf diese Jugend nicht ein weiteres Mal verletztem Stolz, Armut und Verdrängung überlassen. Für die Lösung von verletztem Stolz, Armut und Verdrängung bedarf es pädagogischer Konzepte, die strukturell nicht nur ausreichend, sondern üppig ausgestattet werden müssen. Zudem muss die Politik die bitteren Einsichten in die Folgen segregativer Bildungssysteme und -einrichtungen in flammende Aufklärung umsetzen und Überzeugungsarbeit leisten. Besonders unter der gentrifizierten Bevölkerung in ihren hippesten Wohngegenden.
Kinder, wenn sie ein ganzheitliches Bild der Welt erwerben sollen, damit sie ein ganzheitlicher Mensch werden können, müssen auch mit den Kindern der ganzen Welt zur Schule gehen. Werden Kinder gesellschaftlich mit den Mitteln der Bildung segregiert, wird niemals nur eine Hälfte unglücklich.
Mit seiner sagenhaften Berühmtheit weit über Berlins, über Deutschlands Grenzen hinaus, mit seiner Berühmtheit aufgrund aufregendster Bewegung und Reibung durch Vielfalt könnte der Bezirk Kreuzberg ein Bildungsleuchtturm statt eines Brennpunktschulendampfkochtopfes werden.
Ein Bildungsleuchtturm für mehr Bildungsgerechtigkeit und all das Glück, das damit einhergeht. Dafür muss man in der Finanzpolitik den Mut zur »ungerechten« Verteilung aufbringen. Mehr dort, wo wenig ist.