Homeschooling
Das Corona-Wunder
Wenn Schüler*innen plötzlich lernen wollen.
Der letzte Schultag vor der Schulschließung: 16. März 2020. Die Klassen meines 9. Jahrgangs sind fast vollständig. Und das im Brennpunkt. Wer hätte das gedacht? Ich hätte in dieser Zeit die Abwesenheit der Schüler*innen mit jeder Art Entschuldigung geschluckt. Corona-Angst. Husten. Fieber. Ohne mit der Wimper zu zucken. Aber so was? Wir haben sonst immer einen ziemlich hohen Fehlzeitenquotienten, also was will uns eine volle Klasse in Corona-Zeiten sagen? Ist die Identifikation der Schüler*innen mit ihrer Schule doch größer als erwartet? Oder ist es nur ein natürlicher Instinkt, die Klasse noch ein letztes Mal sehen zu wollen? Für lange Zeit. Klassenzugehörigkeit, Schulzugehörigkeit – es ist zu spüren, dass diese Begriffe im Moment eine Rolle spielen. Eine unerwartet große Rolle.
Wie häufig spüre ich sonst ihre strikte Ablehnung von allem, was deutsch ist, was vom deutschen Staat kommt. Wie oft höre ich ihren Kommentar: »Was für eine Scheißschule!« Nein, ihre Identität liege woanders, in anderen Ländern, in besseren Ländern. In Ländern, in denen sie höchstens zwei, drei Wochen in den Sommerferien verbracht haben. Aber jetzt sieht’s anders aus. Jetzt, wenn es ums Ganze geht, sitzen wir fast vollständig in der »Scheißschule« und wollen nicht nach Hause. Jede*r kriegt von mir eine Schokopraline zur Corona-Abwehr. Eine symbolische Geste.
Unsere Lernplattform »itslearning« soll uns während der Schulschließung digital verbinden. Alle Lehrkräfte laden dort viele Materialien hoch, die von den Schüler*innen selbstständig bearbeitet werden sollen. Ob das klappt? Alle haben ein Smart- oder iPhone. Aber da hört es bei den meisten Schüler*innen auf. Einen Rechner? Einen Drucker? Bei vielen Fehlanzeige. Von einer E-Mailadresse brauchen wir gar nicht zu reden. Ich stelle mir vor, wie ich zu Hause von meinem Samsung J5 versuche, einen Arbeitsbogen abzuschreiben und dann zu bearbeiten. Oder die Probe-BBR-Arbeiten mit zig Seiten. Mühsam. Sehr mühsam.
Schon in der ersten Woche zu Hause fangen sie an, sich zu melden. Es sind Schüler*innen dabei, von denen ich es nie erwarten hätte. Schüler*innen, die sich vor Lernen immer gedrückt haben. Mit tausenden Ausreden, warum sie keine Hausaufgaben machen oder für die Tests lernen konnten: die Wasserleitung geplatzt, riesengroße Hochzeit mit einer Million Gästen bei ihnen zu Hause, hohes Fieber mit Durchfall und Halsschmerzen und Kopfschmerzen und kotzen musste man auch noch…Meistens mehrere Katastrophen auf einmal. Und jetzt, in den »Corona-Ferien«, rufen sie SOS: »Ich kann nicht lernen. Mein Internet ist alle. Ich kann die Daten nicht herunterladen. Ich hab kein‘ Rechner, kein‘ Drucker…. Aber ich WILL lernen. Tun Sie was!« Nach 13 Jahren im Brennpunkt warte ich lieber ein bisschen ab, ich warte auf die übliche Pointe: »War nur Spaß!« Aber die Pointe kommt dieses Mal nicht. Sie meinen es ernst. Todernst. Es ist ihnen wichtig. »Todeswichtig!«, wie sie selber sagen würden. Es sind nicht alle, aber viele, mehr als die Hälfte der Klasse.
Was macht man in einer solchen Situation? Zurück zum Papier. Zurück zur Post. Nichts digital. Ein paar Kolleg*innen treffen sich in der Schule. 1,5 m Abstand halten. Stundenlang kopieren, sortieren, Briefumschläge holen, die Arbeitsblätter einpacken, Adressen auf die Umschläge aufschreiben, verschicken. Das Gefühl, dass wir gerade etwas sehr Wichtiges geschafft haben. Geht es uns nicht genauso wie unseren Schüler*innen? Im Alltagsstress sehnen wir uns alle nach ein paar freien Tagen, um aufatmen zu können. Vor allem kurz vor den Ferien, wenn wir fix und fertig mit letzten Kräften zu Arbeit kommen. Und jetzt wollen wir lieber den Alltagsstress zurück.
Wir können’s immer noch nicht richtig fassen. Unsere Schüler*innen wollen lernen. Digital geht’s bei den Meisten nicht, deswegen fordern sie uns auf, ihnen das Lernen anders zu ermöglichen. Sie wollen ein Teil davon sein. Sie wollen partizipieren. Wir sind stolz auf sie! Unter den vielen schlechten Nachrichten ein kleines Corona-Wunder!