Erwachsenenbildung
Das Herrenberg-Urteil stellt Selbstständigkeit infrage
Ein Gerichtsurteil hinterfragt die Typisierung von Lehrtätigkeiten und hat weitreichende Folgen für Lehrkräfte und Träger in der Erwachsenenbildung.
Die Erwachsenenbildung ist ein vielfältiger und zersplitterter Bereich, in dem sich Beschäftigte mit unterschiedlichen Rechten und Status befinden. Nach Angaben des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung (DIE) machten Selbstständige im Jahr 2013 fast ein Drittel der Beschäftigten aus.
Musikschullehrerin nicht selbstständig
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat bisher entschieden, dass der Unterricht an allgemeinbildenden Schulen aufgrund der Bindung an Schulordnung, Lehrplan und Weisungen der Schulleitung nicht selbstständig sein kann. Den Unterricht an Volkshochschulen hat das BAG hingegen seit Jahrzehnten grundsätzlich als selbstständig eingestuft. Dies nennt man Typisierung der Arbeit – das bedeutet, dass die Art der Einrichtung und nicht die tatsächlich ausgeübte Tätigkeit bestimmt, ob eine Lehrkraft selbstständig oder angestellt ist. Da kein Weiterbildungsgesetz existiert, spielt die Rechtsprechung bei der Definition der Art der Beschäftigung eine entscheidende Rolle.
Das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG, 28. Juni 2022, B 12 R 3/20 R) zum Fall einer Klavierlehrerin an der städtischen Musikschule Herrenberg hat Bewegung in diese festgefahrene Situation gebracht. Nach diesem Urteil genügt bereits die Eingliederung der Lehrerin in den Betrieb der Musikschule, um eindeutig feststellen zu können, dass sie nicht selbstständig ist. Die Lehrerin musste Unterrichtsausfälle melden und erhielt eine Vergütung, wenn Schüler*innen nicht erschienen. Zudem unterrichtete sie nach den Vorgaben der Schule und hatte keine unternehmerische Freiheit. Eine eigene betriebliche Organisation oder wirtschaftliche Risiken trug sie nicht – die gesamte Planung lag in den Händen der Musikschule. Weder konnte sie eigene Schüler*innen gewinnen noch ihren Unterricht an Dritte übertragen.
Gericht stärkt Einzelfallprüfung
Nach dem Herrenberg-Urteil gab es am 5. November 2024 das Göttingen-Urteil des Bundessozialgerichts (B 12 BA 3/23 R). Auch in diesem Fall legte das oberste Gericht fest, dass die Abgrenzung zwischen Beschäftigung und Selbstständigkeit nicht abstrakt für bestimmte Berufs- und Tätigkeitsbilder vorgenommen werden kann. Es betonte, dass sich die für einen unternehmerischen Spielraum kennzeichnenden Merkmale nur im Einzelfall feststellen lassen. Damit widerspricht dieses Urteil der Typisierung der Beschäftigung nach Art der Einrichtung.
Das Herrenberg-Urteil war nicht das erste derartige Urteil des Bundessozialgerichts. Lange Zeit hatten diese Urteile jedoch keine Auswirkungen, auch weil diejenigen des Bundesarbeitsgerichts in die entgegengesetzte Richtung zeigten. Nach dem Herrenberg-Urteil reagierten die Einrichtungen der Sozialversicherung und legten am 4. Mai 2023 neue Kriterien zur Feststellung einer abhängigen Beschäftigung vor.
Im Laufe des ersten Halbjahres 2024 nahmen die Träger der Erwachsenenbildung die neuen Kriterien allmählich zur Kenntnis. So kam es zu einer Phase der Unsicherheit und der Verwirrung sowohl unter den Lehrkräften als auch unter deren Auftraggeber*innen. Widersprüchliche Informationen und auch Gerüchte machten und machen immer noch die Runde.
Daraufhin fanden mehrere Fachgespräche zwischen Trägern der Erwachsenenbildung, Vertretungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) und der Deutschen Rentenversicherung (DRV) statt, an denen auch Gewerkschafts-vertreter*innen beteiligt waren.
Die Träger waren und sind sehr besorgt, die Sozialversicherungsbeiträge der letzten vier Jahre nachzahlen zu müssen, wenn sie die Lehrkräfte zu Unrecht als selbstständig beschäftigten. Voraussetzung für eine Änderung des Status ist ein »Statusfeststellungsverfahren«; dieses wird auf Initiative der Deutschen Rentenversicherung selbst, der Lehrkräfte oder der Träger von der DRV durchgeführt.
Aus den Gesprächen beim BMAS ging das »Moratorium« hervor, das bis zum 15. Oktober 2024 galt, und nun unter der Benennung »Übergangsregelung« für die kommenden zwei Jahre verlängert wurde. Dies sieht vor, dass keine Betriebsprüfung von der DRV durchgeführt wird und dass Widersprüche zum bestehenden Status von Seiten der Lehrkräfte oder der Träger zwar gestellt werden dürfen, aber bei der DRV ruhend bleiben.
VHS-Verband verteidigt Freiberuflichkeit
Unter den zahlreichen Reaktionen auf das Herrenberg-Urteil ist das Gutachten des Kölner Wirtschaftsforschungsinstituts (IW) zu erwähnen, das auf Antrag des Deutschen VHS-Verbandes durchgeführt wurde. Zwei Drittel der Selbstständigen, die in der Bildung tätig sind, gaben an, »dass sie deshalb als Selbstständige tätig sind, weil ihnen das Modell der Selbstständigkeit mehr zusagt.« Der Deutsche VHS-Verband betont, dass »die vielen engagierten Selbstständigen, in ihrer großen Mehrzahl nebenberuflich tätig, die Aktualität und Vielfalt des VHS-Programms gewährleisten.« Aus der Auswertung des Gutachtens ist nicht ersichtlich, ob die Befragten im Bereich der Erwachsenenbildung neben- oder hauptberuflich tätig sind.
Eindeutig versucht der VHS-Verband, wie andere Träger, zu kaschieren, dass zwar die Lehrkräfte, die nebenberuflich unterrichten, zahlreicher sind, dass aber der Großteil der Unterrichtseinheiten (UE) von Lehrkräften getragen wird, die dies ohne Anstellung, aber faktisch hauptberuflich tun. An den Berliner VHS lehren um die 4000 Personen, aber circa 900 decken zwei Drittel der UE ab. Sie sind überwiegend im Bereich Sprachen beschäftigt, sowohl bei Deutsch als Zweiter Sprache als auch bei Fremdsprachen. Genau unter diesen Kolleg*innen sind diejenigen zahlreich, die nach den Kriterien der DRV angestellt werden sollten. Aber der VHS-Verband will glauben lassen, dass die Gewerkschaften die Freiberuflichkeit an den VHS ganz abgeschafft sehen wollen. Das stimmt nicht und das verlangt das Herrenberg-Urteil auch nicht.
Allerdings sind einige hauptberufliche Kolleg*innen an den VHS sowie bei privaten Trägern der Integrationskurse von der Perspektive der Anstellung nicht begeistert. In den Integrations- und in den Berufsbildungskursen hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in den letzten acht Jahren die Honorare erhöht. Hingegen gibt es bei Anstellungen in der Erwachsenenbildung nur einen Mindestlohnvertrag und – bis jetzt – keinen dem TV-L oder TVöD ähnlichen Tarifvertrag. Der Mindestlohnvertrag legt nur den Mindestlohn fest und sieht weder Eingruppierungen noch Erfahrungsstufen vor. Zudem ist die maximale Anzahl der UE nirgendwo geregelt, so dass die Träger ein Lehrdeputat bis zu 36 und sogar 40 UE verlangen können. Unter solchen Bedingungen ist verständlich, dass die Freiberuflichkeit bevorzugt wird: Es wird mehr verdient trotz Unsicherheit der Weiterbeschäftigung und den Schwierigkeiten besonders bei langen Krankheiten und im Alter.
Wie bekannt, ist das gewerkschaftliche Organisationsgrad in der Erwachsenenbildung sehr niedrig, sodass eine kämpferische Reaktion schwierig ist. Viele Kolleg*innen sind nach dem Herrenberg-Urteil verunsichert und sehen hauptsächlich die Gefahr einer Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen. Dagegen ist es aber möglich zu handeln, um die Chancen zu nutzen, die das Herrenberg-Urteil eröffnet. Das ist die große Aufgabe der Gewerkschaften und der aktiven Kolleg-*innen in den kommenden Monaten.
Übergangsregelungen für Honorarlehrkräfte und Lehrbeauftragte
Am 30.1.2025 hat der Deutsche Bundestag eine Gesetzesänderung beschlossen, mit der ein neuer Paragraf in das Vierte Sozialgesetzbuch eingeführt wurde. Er schafft eine Übergangsregelung zur Sozialversicherungspflicht für Lehrkräfte bis Ende 2026. In dieser Zeit können Honorarlehrkräfte und Lehrbeauftragte als Selbständige weiterbeschäftigt werden, auch wenn bei einer Statusfeststellung der Deutschen Rentenversicherung herauskommt, dass sie scheinselbständig sind. Diese Übergangsregelung ist eine Reaktion auf das so genannte Herrenberg-Urteil des Bundessozialgerichts. Betroffene GEW-Mitglieder können sich an die Landesrechtsschutzstelle wenden.
Weitere Informationen und eine Bewertung aus GEW-Sicht findet ihr auf der GEW-Website