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Schwerpunkt „Perspektiven schaffen – wie weiter nach der zehnten Klasse?“

»Das kann ich, das passt zu mir.«

Berufsorientierungsteams beraten unter anderem zum Übergang nach der 10. Klasse. Unser Autor gibt Einblick in seine Arbeit an einer Integrierten Sekundarschule.

Foto: Bertolt Prächt

Der Übergang von der 10. Klasse in die Oberstufe, in einen Beruf oder in eine berufsorientierende Maßnahme stellt für Schüler*innen, Eltern, Lehrkräfte sowie die Berufsorientierungsteams (kurz: BO-Teams) eine große Herausforderung dar. 

Für die Schüler*innen steht ein neuer Lebensabschnitt an. Ist der Übergang geschafft und die Schüler*innen sind am Oberstufenzentrum (OSZ) angekommen, wird die zuvor erfolgte Berufsorientierung gelobt oder getadelt: »Alex … Kfz-Mechatroniker? Der kann nicht einmal 5*35 rechnen. Was habt ihr euch dabei gedacht?« oder »Pia liebt die Ausbildung zur Dialogkauffrau und bringt super Leistungen. Top Arbeit!« 

Es wird gelegentlich unterstellt, dass an der Integrierten Sekundarschule (ISS) mit den Schüler*innen eine ungenaue anstelle einer wünschenswert »realistischen« und damit auch »passgenauen« Anschlussperspektive nach Klasse 10 erarbeitet wurde. Mangelhafte Berufsorientierung führt, so die Kritiker*innen, zu hohen Ausbildungsabbruchraten. Bestätigt werden sie augenscheinlich, weil laut Ausbildungsreport des DGB von 2024 bundesweit fast 30 Prozent aller Auszubildenden ihre Ausbildung vorzeitig beenden. Abbrecher*innen landen häufiger im Niedriglohnbereich und damit in prekärer Beschäftigung. 

Gleichzeitig hat der »Run« auf das Abitur an Fahrt aufgenommen. Da steht die Kritik im Raum, ob wir in der Berufsorientierung die »Abiturisierung« fördern und bei Schüler*innen mit Zugangsberechtigung zum »Allgemeinen Abitur« nur lustlos zu beruflichen Bildungsgängen und auch zum beruflichen Abitur beraten und damit dem berufsschulischen Bereich die dringend benötigten leistungsstärkeren Schüler*innen vorenthalten, denn in den letzten zehn Jahren ist – trotz steigender Schüler*innenzahlen in den Sekundarstufen der ISS – die Zahl der Ausbildungsplatzbewerber*innen um 23 Prozent zurückgegangen.

 

OSZ-»Botschafter*innen« im BO-Team

 

Seit 2016 arbeite ich als berufsschulische Beratungslehrkraft in einem BO-Team an einer ISS. Es besteht laut dem Landeskonzept Berufliche Orientierung (LKBO) aus jeweils einer Beratungslehrkraft der Jugendberufsagentur und einer Lehrkraft der Beratungsschule sowie an ISS und Gemeinschaftsschulen zusätzlich einer Lehrkraft der beruflichen Schule. Gemeinsam sollen und wollen wir als BO-Team die Schule bei der Umsetzung des LKBO unterstützen. Dazu gehört ein berufsorientiertes Schulkonzept für alle Jahrgänge aufzustellen und verschiedene berufsorientierende Angebote in das schulische Lernen einzubinden.

Wir berufsschulischen Beratungskräfte werden als Expert*innen für alle beruflichen Schulen mit ihren Bildungsangeboten einschließlich ihrer berufsfeldbezogenen Schwerpunkte für einige Stunden pro Woche an eine ISS entsandt. 

Wir müssen auch für Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarfen zu angemessenen Bildungsangeboten an den zur Verfügung stehenden beruflichen Schulen beraten können. Demnächst kommt der Bildungsübergang in IBA Praxis zu unseren Beratungsaufgaben hinzu. 

Zielgruppen für unsere möglichst frühzeitigen Beratungen und Veranstaltungen sind Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern der Sekundarschulen. 

 

Berufswünsche der Schüler*innen akzeptieren 

 

Beratungsgespräche zur beruflichen Orientierung mit Schüler*innen beziehungsweise Eltern gehören zu der Kernaufgabe einer*eines Beraterin*Beraters beruflicher Schulen. Die Gespräche führen wir stets so, dass die Potenziale der Schüler*innen im Einklang mit ihrem Schulabschluss beruflich realistisch berücksichtigt werden, aber auch so, dass die Schüler--*innen selbst und eigenverantwortlich ihre Berufsentscheidung als rational und selbstbestimmt wahrnehmen, nach dem Motto: »Das kann ich, das passt zu mir, diese Möglichkeiten habe ich.« Die bisherige Berufsorientierung an der Schule findet dabei Berücksichtigung. 

Das Schwierige ist, dass die Selbstwahrnehmung der Schüler*innen bezüglich ihres Könnens und Wissens und die Fremdwahrnehmung durch das BO-Team durch Blick in die Notenlage und auf die Praktikumserfahrungen, vorsichtig formuliert, sehr abweichend sein können. Ein Beratungsspagat für das BO-Team. Artikel 12 GG hebt ausdrücklich das Recht hervor, eine Ausbildungsstätte frei zu wählen, und ist damit auch für uns als BO-Team unverhandelbar. Im Kern heißt dies, dass wir die Schüler*innen ihrem Wunsch entsprechend in den OSZ-Bildungsgängen anmelden müssen, sofern die Noten (zum Beispiel beim Übergang in die Fachoberschule) den Vorgaben entsprechend ausreichend sind, obwohl wir als Berufsorientierer*innen das eine oder andere Mal »Bauchschmerzen« haben, weil wir glauben, dass der Bildungsgang für den Jugendlichen zu schwierig sein könnte. Berufsorientierung ist ein Angebot, unsere Empfehlungen stellen für Schüler*innen keine Verpflichtung zur Annahme dar. 

Wichtig ist zu betonen, dass wir als »Beratungsbotschafter*innen« der OSZ unabhängig von Schüler*innenzahlen an der eigenen Beratungsschule beruflich orientieren können. Im Kern heißt dies, dass wir nicht »unter dem Druck stehen«, unbedingt die guten Schüler*innen der 10. Klassen in die eigenen ISS-Oberstufen, wenn diese vorhanden sind, zu überführen, damit die Schüler*innenzahlen »stimmen«. 

Ganz im Gegenteil: Wir zeigen den Schüler*innen aufgrund unseres Beratungsfokus und unserer eigenen beruflichen Erfahrungen regelmäßig alternative Bildungswege außerhalb der allgemeinen Bildung. 

Trotz unseres Neutralitätsgebots in der beruflichen Orientierung sind wir die natürlichen Vertreter*innen der Oberstufenzentren und stehen für das Aufzeigen von beruflichen Wegen. Wir sollten daher auch durch das LKBO und die OSZ gestärkt und befähigt werden, gute Berufsorientierung für die OSZ vor Ort zu erbringen. 

 

Berufliche Berater*innen stärken

 

Aufgrund der vielen Veränderungen in den Bildungsgängen an den beruflichen Schulen wäre es gut für uns, regelmäßig strukturiert »gebrieft« zu werden und Neuigkeiten nicht nur zufällig zu erfahren. Auch die begonnenen Arbeitskreistreffen der BO-Lehrkräfte beruflicher Schulen sind in dem Zusammenhang sinnvoll und hilfreich und sollten verstetigt werden. 

Uns ist es wichtig, dass die Werbung der OSZ professionalisiert wird. Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung sagen 53 Prozent der Schüler*innen, dass es genug Infos zur Berufsorientierung gibt, aber sie sich sehr schwer zurechtfinden. Gleichzeitig ändert sich das Informationsverhalten der Schüler*innen. Das Lesen von Flyern verliert zugunsten digitaler Informationen an Bedeutung. Hilfreich wären Filmclips über Bildungsgänge der Schulen, die über digitale Medien – wie die Berufswahlapp – verschickt oder im Unterricht verwendet werden.

Abschließend möchte ich für die Einführung eines zentralen OSZ-Tages plädieren, an dem sich alle OSZ präsentieren. Diese Vorschläge könnten die Berufsorientierung im Sinne der OSZ voranbringen. 

 

Landeskonzept Berufliche Bildung: hier