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Über Diskriminierung sprechen

Das Klassenzimmer ist kein diskriminierungsfreier Raum

Über die Notwendigkeit einer diskriminierungskritischen Bildung.

Foto: GEW BERLIN

Eine diskriminierungsfreie Bildung gibt es nicht. Die verschiedenen Formen von Diskriminierung, wie Rassismus, Sexismus, Klassismus und Ableismus, wirken jederzeit in Lehr-Lern-Prozesse hinein. Sie haben stets Einfluss auf die Denk- und Handlungsweisen sowie auf das Gefühlserleben aller beteiligten Bildungsakteur*innen. Das betrifft auch die schulische Bildungsarbeit. Deshalb ist es wichtig, nicht davon auszugehen, schulische Bildungsräume schaffen und eine schulische Bildungsarbeit leisten zu können, die vollkommen von Diskriminierung unberührt sind. Das Klassenzimmer ist prinzipiell kein diskriminierungsfreier Raum. Aus diskriminierungskritischer Perspektive ist das auch nicht das Ziel. Es geht vielmehr darum, ein Lernen zu unterstützen, mit dem diskriminierende Wissensbestände hinterfragt und eine diskriminierungskritische Haltung gefördert werden. Das setzt eine bewusste politische Positionierung der Pädagog*innen gegen Diskriminierung voraus.

Es reicht nicht, Vielfalt zu behandeln

Diskriminierungskritische Bildung macht Diskriminierung zum Thema. Um diskriminierende Wissensbestände infrage zu stellen, muss sich Bildungsarbeit bis zu einem gewissen Grad auf sie beziehen. Wir können Ein- und Ausschlüsse nicht entgegentreten, ohne zu benennen, wer ein- und wer ausgeschlossen wird. Dann werden verschiedene Gruppen angesprochen, wie hinsichtlich Rassismus zum Beispiel die Gruppen Schwarze Menschen und Weiße. Damit werden diskriminierungsrelevante Grenzziehungen und Kategorisierungen immer auch wiederholt. Dieses Dilemma ist nicht aufzulösen. Wenn dabei diskriminierende Macht- und Ungleichheitsverhältnisse im Fokus stehen und hinterfragt werden, ist das aber nicht diskriminierend, sondern kann potentiell diskriminierendes Denken und Handeln herausfordern.

Das Ziel ist also nicht, verkürzt, Vielfalt zu behandeln. Dies kann schnell dazu führen, dass Differenzen erneut unnötig festgeschrieben werden und doch wieder auf diskriminierende Stereotype zurückgegriffen wird. Deshalb gilt es immer kritisch zu prüfen, woran angenommene Unterschiede zwischen Gruppen genau festgemacht und ob damit nicht wieder diskriminierende Zuschreibungen wiederholt werden.

Es ist wichtig, Sichtbarkeiten marginalisierter Gruppen herzustellen. Quantität stellt aber keine einfache Lösung dar. Ich kenne zum Beispiel ein Themenheft für den Englischunterricht, das hauptsächlich Schwarze Menschen zeigt, aber das auf durchgehend problematische Art und Weise. Bedeutsam ist also auch, wie die Repräsentation von Gruppen bei der Gestaltung von Lerninhalten ausfällt. Das Ziel ist, dass sie diskriminierenden Denkweisen entgegenwirkt und »Wir«/»Sie«-Unterscheidungen herausfordert. Das geht unter anderem, indem zum Beispiel People of Colour (PoC), Frauen* und behinderte Menschen ganz selbstverständlich sichtbar sind. Umsetzbar ist das, indem beispielsweise in Materialien PoC-Protagonist*innen dabei sind oder eine Familie mit einem behinderten Kind und eine weibliche Politikerin vorkommen, ohne dass dabei diskriminierende Stereotype wiederholt werden und es um Rassismus, Ableismus oder Sexismus geht. Diskriminierungskritische Materialien garantieren aber keinen diskriminierungskritischen Unterricht. Lehrkräfte mit einer mangelhaften diskriminierungskritischen Handlungskompetenz können selbst mit empfehlenswerten Materialien Ausschlüsse reproduzieren.

Mit gutem Beispiel vorangehen und sich selbst in Frage stellen

Ein diskriminierungskritischer Unterricht steht und fällt mit dem Wissen der Lehrkraft über strukturelle Diskriminierung mit ihren vielfältigen Erscheinungsformen und diskriminierungskritische Bildungsarbeit. Es ist wichtig anzuerkennen, dass Diskriminierung das eigene Denken, Fühlen und Handeln prägen kann, selbst dann, wenn wir unsere Bildungsarbeit gegen sie ausrichten. Ein Großteil der Diskriminierungen im Schulkontext geht von Lehrkräften aus. Um ungewollte Ausschlüsse verhindern zu können, ist es wichtig, offen dafür zu sein, dass sie passieren und durch das eigene Handeln verursacht werden können. Ebenso ist bedeutsam, Ein- und Ausschlüsse, die die Schüler*innen unterschiedlich betreffen, anzuerkennen und mitzudenken. Im Hinblick auf Lehr- und Lernziele gilt es zu fragen, inwiefern die verschiedenen Erfahrungen der Schüler*innen im Hinblick auf die verschiedenen Formen von Diskriminierung gegebenenfalls verschiedene Lernbedürfnisse bedeuten könnten. Wenn ich behaupte, dass ich alle Schüler*innen und Menschen gleich betrachte und behandle, kann ich Diskriminierung nicht herausfordern. Deshalb ist diese Sichtweise nicht hilfreich.

Diskriminierungskritische Bildungsarbeit folgt keinem Rezept, das eine einfache Unterscheidung zwischen »richtig« und »falsch« möglich macht. Gleichzeitig verlangt sie, den Unterricht so verletzungsarm wie möglich zu gestalten. Hierfür ist es wichtig, sich als Lehrkraft klar und unmissverständlich zu positionieren. Diskriminierende Begriffe, Beleidigungen, oder Kommentare dürfen nicht ignoriert werden, auch wenn Schüler*innen damit nur ihr Gesicht voreinander wahren wollen. Diskriminierende Äußerungen dürfen zu keiner Zeit toleriert werden. Solange die Schüler*innen bereit erscheinen, sich auf einen Dialog einzulassen, ist es empfehlenswert, eine lernförderliche vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen und eine untersuchend-reflexive Haltung einzunehmen, um die problematischen Äußerungen zu hinterfragen.

Genauso wichtig ist es schließlich, institutionelle Veränderungen anzustoßen. Diskriminierende Ausschlüsse und Benachteiligungen finden in der Schule auf unterschiedlichen Ebenen statt. Neben Unterrichtsmaterialien und dem pädagogischen Handeln von Lehrkräften gehören dazu tradierte Regelungen, Gewohnheiten, Routinen und organisatorische Strukturen der Schule. Auch die Bildungspolitik, das Curriculum, Eltern und Familie, die Lehrkräfte-, Fort- und Weiterbildung und nicht zuletzt die Schüler*innen sind Bedingungsfaktoren dafür, wie mit Diskriminierung im Unterricht umgegangen wird.       

Jule Bönkost, Mitbegründerin des Institut für diskriminierungskritische Bildung (IDB), Kontakt über www.jule.boenkost.de

Jeder junge Mensch hat ein Recht auf zukunftsfähige, diskriminierungsfreie schulische Bildung und Erziehung ungeachtet insbesondere einer möglichen Behinderung, der ethnischen Herkunft, einer rassistischen Zuschreibung, des Geschlechts, der Geschlechtsidentität, der sexuellen Orientierung, des Glauben, der religiösen oder politischen Anschauungen, der Sprache, der Nationalität, der sozialen und familiären Herkunft seiner selbst und seiner Erziehungsberechtigten oder aus vergleichbaren Gründen. [Schulgesetz Berlin § 2(1)]

Der Begriff People of Color (im Singular Person of Color) ist eine Selbstbezeichnung von Menschen, die gegenüber der Mehrheitsgesellschaft als nicht-weiß gelten und wegen ethischer Zuschreibungen (»Sichtbarkeit«) alltägliche, institutionelle und andere Formen des Rassismus erfahren.

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46