Tendenzen
Der falsche Fokus
Das Konzept der »konfrontativen Religionsbekundung« und der Plan für eine diesbezügliche Meldestelle weisen aus einer rassismuskritischen Perspektive zahlreiche Probleme auf.
Die Forderung nach einer »Anlauf- und Dokumentationsstelle konfrontative Religionsbekundung« für Berliner Schulen des Vereins Demokratie und Vielfalt (DeVi e.V.) hat zu Beginn dieses Jahres in der Öffentlichkeit hohe Wellen geschlagen. Auslöser der Debatte war das vom Verein veröffentlichte Dokument »Broschüre«, das die Pläne für eine solche Anlauf- und Dokumentationsstelle umreißt, und das Dokument »Bestandsaufnahme«, das in der Presse inkorrekterweise häufig als »Studie« zitiert wurde. Die »Bestandsaufnahme« gibt Aussagen von acht pädagogischen Mitarbeiter*innen und vier Schulleitungen von Neuköllner Schulen wieder, in denen Probleme mit muslimischen Schüler*innen thematisiert werden. Damit soll der Bedarf an einer Anlaufstelle zur Meldung solcher Vorfälle begründet werden.
Der Begriff »Studie« erscheint hier indes nicht angemessen, weil das Papier wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügt: Die Auswahl der Interviewten wird nicht begründet, es fehlt ein Theorieteil, eine Auswertungsmethode ist nicht erkennbar; insofern bleibt unklar, wie die Autor*innen zu ihren Schlussfolgerungen kommen.
Der folgende Beitrag problematisiert dieses Vorhaben aus einer Perspektive der kritischen Rassismusforschung sowie pädagogischer Überlegungen. Vorab sei angemerkt, dass das Vorhaben der Einrichtung einer Meldestelle vermutlich sowohl den Datenschutz als auch das Grundrecht auf freie Religionsausübung und geltendes Antidiskriminierungsrecht verletzt; diese juristischen Aspekte werden aber im Folgenden nicht adressiert.
Ungenaue Begrifflichkeit
Die von DeVi e.V. angebotene Begriffsdefinition bleibt vage: »Unter konfrontativer Religionsbekundung an Schulen verstehen wir religiöse Praxen sowie religiös konnotiertes (Alltags-)Verhalten, die in der (Schul-)Öffentlichkeit ausgelebt und ausagiert werden, auf die Herstellung von Aufmerksamkeit zielen, provozieren wollen, erniedrigen und/oder Dominanz herstellen sollen.« Die Bestimmung, was als »Verhalten« gilt, welches mutmaßlich auf die Herstellung von Aufmerksamkeit ziele und provozierend sei, wird in dem geplanten Projekt der subjektiven Einschätzung von Lehrkräften überlassen.
Lehrkräfte sind aber nicht »neutral«, wie es die beiden DeVi-Papiere nahelegen: In vielen Studien wurde darauf hingewiesen, dass auch Lehrkräfte rassistische Wir-Sie-Unterscheidungen vornehmen, ob intendiert oder nicht – bis hin zu schlechteren Bewertungen von Schüler*innenarbeiten, wenn ein türkischer Name darauf steht. Das drückt sich auch darin aus, dass Lehrkräfte Konflikte mit muslimischen Schüler*innen schnell auf deren kulturellen Hintergrund zurückführen. Insofern ist es problematisch, wenn die Deutung der Lehrkräfte zum einzigen Maßstab der Bewertung wird.
Die Schwierigkeit zu bestimmen, ob eine religiöse Praxis konfrontativ ist oder nicht, muss zudem vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass in einer säkularen beziehungsweise christlich mitgeprägten Gesellschaft erst einmal jede Religionsausübung auffällig ist, die von einem bestimmten, damit verbundenen Konsens abweicht. Das wird auch in den Interviews mit den Lehrkräften deutlich, die zum Beispiel bereits den Wunsch muslimischer Schüler*innen, nach dem Schwimmunterricht nicht nackt duschen zu müssen, oder die Verwendung des Wortes »Allah« statt »Gott« als problematisch empfinden. Damit gerät potenziell jede religionsbezogene Äußerung unter Generalverdacht. Die gesamte Rassismusforschung, die diese Zusammenhänge sichtbar macht, wird von DeVi allerdings als nicht relevant befunden; vielmehr wird unterstellt, mit der Thematisierung von Rassismus werde islamistische Radikalisierung relativiert. Das ist sachlich falsch.
Selektiver Blick
Der Fokus auf eine bereits rassistisch diskriminierte Gruppe verstärkt immer auch weiter gehende Stigmatisierungsprozesse. In diesem Fall wird allein die Gruppe der muslimischen Schüler*innen adressiert und damit an gesellschaftlich weit verbreitete Ressentiments angeknüpft. Das schürt den antimuslimischen Rassismus.
In den Interviews findet sich außerdem keine Aussage, die auf aktuelle islamistische Radikalisierung von Schüler*innen hinweist. Von einigen Fällen wird berichtet, die mehrere Jahre zurückliegen. Vielmehr sind es Homo- oder Transphobie, Rassismus, Antisemitismus oder dominantes männliches Verhalten, Mobbing und religiöser Konformitätsdruck, die beobachtet werden. All das darf an der Schule selbstverständlich nicht geduldet, sondern muss pädagogisch bearbeitet werden. Die entsprechenden Maßnahmen existieren längst, nur fehlen finanzielle und personelle Mittel. Das sagen auch die von DeVi interviewten Personen, die sich mehr und besser ausgebildetes Personal und einen guten Islamunterricht wünschen. Den Wunsch nach einer Meldestelle hingegen äußert niemand der Befragten.
Was passiert, wenn Kinder und Jugendliche durch eine solche Meldestelle erfasst werden? Welche Auswirkungen hat das bei ihrer Suche nach einem Praktikumsplatz oder einer Arbeitsstelle? Welche Auswirkungen hat das auf die Erziehungsberechtigten mit Blick auf ihr Vertrauensverhältnis zum Regelsystem und dessen Akteur*innen in Schule, Justiz, Behörden et cetera? Was passiert mit den Daten, wenn diese von Lehrkräften untereinander für die Meldestelle »geteilt« werden?
Religion als Ressource
Religion als mögliche beziehungsweise bestehende Ressource für die lebensweltliche Orientierung junger Menschen kommt hier nicht vor und wird stets mit der pauschalen Feststellung einer sich stetig säkularisierenden Gesellschaft oder einer sich areligiös orientierenden Gesellschaft skeptisch bis kritisch abgelehnt. Dabei kann Religion als mentale, psychische und habituelle Ressource verstanden und daran kann pädagogisch angeknüpft werden. Ja, Anbieter*innen von geschlossenen Weltbildern, die im Kontext des islamistisch orientierten Extremismus aktiv sind, arbeiten mit den gleichen Argumentationen, jedoch mit einer klaren missbräuchlichen Zielsetzung. Genau das muss unterschieden werden und braucht die Zusammenarbeit zwischen Schulleitung, Lehrkräften und entsprechenden Expert*innen, die den Lehrkräften zur Seite stehen. Gerade in Metropolregionen und in Ballungszentren artikulieren sich aus den jeweiligen Communities heraus kompetente Akteur*innen, die einen unmittelbaren Zugang zu den Menschen und den jeweiligen Religionsgemeinschaften besitzen. Auch sie arbeiten im Kontext von Demokratiebildung, Familienarbeit, Kinder- und Jugendarbeit sowie Sozialer Arbeit. Häufig haben sie einen Vorbildcharakter, der in der Arbeit mit den Betroffenen zum Ausdruck kommt und der Türen öffnet. Entsprechende Expert*innen und Akteur*innen stehen jedoch insgesamt vor der Herausforderung, dass ihre Arbeit im Rahmen von Prävention, Demokratiebildung und Sozialer Arbeit kaum Beachtung findet und chronisch unterfinanziert bleibt.
In den bereits existierenden Präventionsprojekten und Präventionsstellen arbeiten erfahrene Expert*innen, die Schulen und weiteren pädagogischen Handlungsfeldern kompetent zur Seite stehen. Sie sollten und müssten die ersten Anlaufstellen sein, um bei möglichen Konflikten zu beraten und zu begleiten. Das große bundesweite Problem mit Blick auf die strukturellen Bedingungen der Beratungsstellen ist zum einen die begrenzte Laufzeit der vorhandenen Stellen und zum anderen die fehlende dauerhafte und nachhaltige Finanzierung. So kann eine vertrauensvolle und langfristige Zusammenarbeit kaum gewährleistet werden. Ebenfalls müssen Kompetenzen und Schlüsselqualifikationen, die auf den Konzepten von »religious literacy« oder »political literacy«, also auf einer Art sachlich fundierten und gebildeten Grundbelesenheit, fußen, ein obligatorischer Bestandteil in der Lehramtsausbildung werden. Wo es diese Angebote gibt, werden sie stark wahrgenommen, da den Studierenden bewusst ist, dass sie in der Schule als heterogen zusammengesetztem Lehr-Lern-Szenario ein umfangreiches Handwerkszeug benötigen. Daran gilt es anzuknüpfen.