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Recht & Tarif

Der ideale Gewerkschaftskongress

Die niederländische Bildungsgewerkschaft AOb bot bei ihrem Kongress viel Gelegenheit zum Austausch.

Foto: Manuel Honisch

Wenn ich Mitglieder aus dem ganzen Land zu einem offenen Kongress einlade und dafür sechs Stunden Zeit habe, wie sieht dieser Kongress dann idealerweise aus? Ein französischer Kollege beantwortet die Frage beim Pausentee so: Die Teilnehmerin bekommt Informationen, geht eine emotionale Verbindung ein, tauscht sich mit Anderen aus und knüpft Kontakte, fährt am Ende des Tages mit einem guten Gefühl nach Hause und nimmt Etwas mit. Der Kongress unserer niederländischen Schwestergewerkschaft Algemene onderwijsbond (AOb) war solch eine gelungene Veranstaltung.

Die AOb hatte etwa 150 Mitglieder an einem Septembersamstag nach Utrecht eingeladen. Dieses Format des Mitgliederkongresses führt die Gewerkschaft alle paar Jahre ergänzend zu ihren normalen Delegiertenkonferenzen durch. Statt formaler Beschlussfassung steht die inhaltliche Debatte im Vordergrund. Und statt nur einen kleinen Funktionärskreis anzusprechen, ist dieser Kongress für alle offen. Ort des Geschehens war eine lichtdurchflutete Möbelhalle mit großen Grünpflanzen in der Mitte und weiteren Räumen außenherum. Die Halle wurde aufgeteilt in eine Hälfte mit Bühne und Sitzreihen davor sowie in einen Loungebereich mit reichlich Kaffee- und Naschständen und Infotischen am Rand.

 

Ernste Themen und lockere Aktionen

 

Die Veranstaltung pendelte zwischen Darbietungen auf der Bühne und Pausen im Loungebereich hin und her. Am Nachmittag fanden parallele Workshops in mehreren Runden statt, in Seminarräumen und auf der Bühne. In Präsentationen und Bühnengesprächen wurden anspruchsvolle Fragen angerissen: Was ist Strategie? Was macht eine gute Lehrkraft aus? Wie bilden sich Klassengegensätze im Klassenzimmer ab? Wie fühlt es sich an, als bildungsfernes Migrantenkind gelabelt zu werden? Das Publikum wurde um kurze Kommentare gebeten, eine vertiefte Diskussion war in den Nachmittagsworkshops möglich. Aufgelockert wurden die ernsten Themen durch Aktionen. Der rappende Lehrer Meester Hidde demonstrierte Spaß bei der Arbeit, ein kämpferisches Video der Chicago Teachers Union bot Inspiration, und am Ende sangen alle gemeinsam in einem Pop-Up-Chor, bevor die Party mit DJ begann. Als roter Faden durchzog alle Programmpunkte eine positive Botschaft: Pädagog*innen machen den Unterschied! Deine Arbeit ist wichtig und wertvoll! Gemeinsam können wir das noch besser!

Mit dabei waren internationale Gäste von 25 Bildungsgewerkschaften aus 18 Ländern. Auch das Begleitprogramm für die Gäste war ausgesprochen abwechslungsreich und inspirierend und bot viel Raum für den Austausch miteinander. Die Kolleg*innen der AOb erklärten, wie unsere Schwestergewerkschaft ihre Mitglieder anspricht und Beschlüsse herbeiführt. Die formale Antragsberatung findet in eher kurz gehaltenen Delegiertenkonferenzen statt, die mehrmals im Jahr stattfinden. Anträge des Vorstandes werden nicht fertig hereingegeben, sondern bereits im Entstehungsprozess mit den Untergliederungen beraten. Bei Bedarf werden Beschlüsse zur Nachbearbeitung an die Untergliederungen zurückgegeben. Bei wichtigen Richtungsentscheidungen werden alle Mitglieder per Umfrage eingebunden. Diese Umfragen werden ebenfalls regelmäßig durchgeführt, um Informationen über die aktuelle Lage in den Betrieben zu bekommen. Mit solchen Umfragen kann gegenüber der Politik und in der Öffentlichkeit argumentiert werden: »400 Mitglieder haben uns berichtet, dass an ihren Schulen die Heizung nicht richtig funktioniert.«

Spannende Ideen kamen auch von anderen Gewerkschaften. Die britische University and College Union (UCU) arbeitet mit einem rotierenden Vorstand. Eine Person arbeitet zunächst ein Jahr als Vizepräsident*in, ist dann ein Jahr Präsident*in und anschließend Past President mit beratender und auch repräsentativer Funktion. Bei der UCU hat es sich bewährt, Delegiertenkonferenzen zeitweise nach Sektoren aufzuteilen, in denen die Delegierten arbeiten.

Ein deutschlandweiter Mitgliederkongress nach niederländischem Vorbild wird sich aufgrund der weiteren Fahrwege kaum realisieren lassen, aber unter dem Strich war es eine überaus inspirierende Veranstaltung, von der die GEW sich das eine oder andere abschauen kann.

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Privat:  030 / 219993-46