Zum Inhalt springen

bbz 07-08 / 2017

Der Kampf um unsere Zeit

Die Ausweitung und Entgrenzung der Arbeitszeit verschärft die Arbeitsbelastung von Lehrkräften. Der gewerkschaftliche Kampf um eine Verkürzung der Arbeitszeit ist daher nötiger denn je

Die IG Metall hatte ihren Kampf für die 35-Stunden-Woche mit dem Slogan begründet »Mehr Zeit zum Leben, Lieben, Lachen«. Lange Arbeitszeiten sind gesundheitsschädlich, partnerschaftsfeindlich und behindern das lebenslange Lernen. Bei Fragen der Geschlechtergerechtigkeit führen sie zu einer Rolle rückwärts. Außerdem gilt: Wer hart körperlich arbeitet, braucht eine klar geregelte kurze Wochenarbeitszeit und kurzfristigen Ausgleich für Anspannung und gesundheitsschädliche Einflüsse. Deshalb achten Menschen in Betrieben oft genau darauf, die Überstunden zu erfassen, damit diese nicht als Geschenk an die Unternehmer*innenseite verfallen. Auch ver.di hält jede Arbeitszeitverlängerung für eine versteckte Lohnkürzung und für volkswirtschaftlich falsch, weil dadurch die soziale Ungleichheit verschärft wird, da weniger Menschen länger arbeiten und Erwerbslose weiter ausgegrenzt werden.

Eigenen Ansprüchen gerecht werden können

Unsere Bildungsgewerkschaft GEW wird die gesellschaftspolitischen Aspekte der Arbeitszeitverkürzung teilen, sieht sich in manchen Punkten aber einer anders gearteten Diskussion mit den jeweiligen Dienstherren ausgesetzt. Gerade weil es uns aus unserem pädagogischen Anspruch heraus nicht egal sein kann, was aus den uns anvertrauten kleinen und großen Menschen wird, stehen wir in einer Art Doppelpflicht. Unser pädagogisches Herz setzt uns vor allem unseren eigenen Ansprüchen, aber auch den Ansprüchen der Chefetage aus. Aufgaben müssen beendet werden und das möglichst gut. Keiner fragt, in welcher Zeit.

Für Akzeptanz von Mehrarbeit und Selbstausbeutung sind wir Pädagog*innen besonders anfällig. Erholung verschieben wir auf später im Jahr, bis es irgendwann nicht mehr geht. Da in unseren Berufsfeldern derzeit ein Mangel an Arbeitskräften besteht, müssen wir uns oft Vorwürfe wie diese anhören: Wenn du kürzer arbeitest, wer soll dann einspringen? Ignoranz und Mängel der Kultusministerien in der langfristigen Ausbildungsplanung werden so auf uns, die Beschäftigten, abgeladen. Durch die selbstverordnete Schuldenbremse gibt der Staat bei der pädagogischen Mangelwirtschaft auch noch Alternativlosigkeit vor, die freilich konstruiert ist.


Unsichtbare Arbeit sichtbar machen

Diesen wahrhaft gordischen Knoten muss die gewerkschaftliche Diskussion der GEW durchschlagen. Würden wir wie die Metaller*innen sagen, »Ich brauche mehr Zeit zum Lachen und Lieben«, wären uns höhnische Kommentare sicher. Die Einschätzung zur Arbeit der Lehrkräfte durch den damaligen Bundeskanzler Schröder als eine Form von »faul« lässt tief blicken auf seine Unkenntnis der täglichen Anforderungen in den Schulen. Wir müssen deshalb für die Gesellschaft unsere unsichtbare Arbeit sichtbar machen.

Das Besondere bei der Arbeitszeit von Lehrkräften ist auch, dass die Verwaltung uns endlos ausquetschen kann, anders als bei tariflich vereinbarten Entgelten. Nicht nur die absolute Menge der Aufgaben kann bei gleicher Arbeitszeit beliebig erhöht werden. Auch der Akkord-Takt kann je nach Phantasie neu angesetzt werden. Eine Klausur in 15 Minuten korrigieren? Warum nicht! Oder auch in 12?

Lernen »Nein« zu sagen

Es ist also nötig, dass wir rechtzeitig zu nicht erfüllbaren Aufgaben »Nein!« sagen. Obwohl und weil jeder abhängig Beschäftigte ein Ehrgefühl für die gute Erfüllung seiner Arbeitsaufträge entwickelt, müssen wir im Interesse der Qualität unserer Arbeit Grenzen deutlich machen.
Auch Lehrkräfte müssen Arbeitsbedingungen erkämpfen, die allen ermöglichen, gesund zu bleiben und bei denen nicht soziale Brennpunkte verfestigt werden. Das bedeutet für die GEW BERLIN: drei Pflichtstunden pro Woche weniger und langfristig weitere Verkürzungen mit dem Ziel von 21 Wochenstunden. Dann wäre auch Inklusion nicht nur ein Einsparmodell auf den Knochen der Betroffenen.

Entspannt lehren und lernen geht nur, wenn Entspannung möglich ist. Die Studie zur Arbeitszeit der Lehrkräfte der GEW Niedersachsen dokumentiert eine ganzjährige, pausenlose Belastung durch Arbeit in den Ferien, an den Wochenenden und in der unterrichtsfreien Zeit. Da liest sich der Spruch der IG Metall aus den 50er Jahren neu: »Am Samstag gehört Vati mir!«. Schön wäre es! Neu müsste der Slogan heißen: »Am Samstag und Sonntag gehören Lehrkräfte sich und ihren Familien! Nein zur Arbeit ohne Ende! Qualität statt Akkord!«.

Den Zusammenhang zwischen pädagogischer Qualität, entgrenzter Arbeitszeit und Arbeitsbelastung bestreiten die Dienstherren der Bildungsverwaltung interessiert. Damit sind sie in Zeiten akuten Personalmangels argumentativ und praktisch an ihr Ende gekommen. Rares Personal müssen sie pfleglich behandeln, sonst gerät die Stadt aus den Fugen. Klar, der Berliner Senat will durch die hohe zeitliche Belastung und verdichtete Arbeit an Personalkosten sparen. Der Schuss ging nach hinten los. Die Attraktivität des Berufes sinkt weiter. Über Tausend Absolvent*innen des Lehramtsstudiums erhielten in der letzten Einstellungsrunde zum Referendariat in Berlin eine Zusage. Davon hat fast die Hälfte nicht angenommen, denn wer will schon unter diesen Bedingungen arbeiten?

Ohne Schritte kommt man nicht zum Ziel

Der Kampf um die Zeit ist nur auf den ersten Blick im Bereich der pädagogisch Beschäftigten besonders. Auf den zweiten Blick stellt sich heraus, dass jeder Mensch, der für die öffentliche Daseinsvorsorge arbeitet oder der gesellschaftlich nützliche Güter produziert, Qualität für alle herstellen will. Das wird durch das Kalkül mit angeblich zu hohen Kosten für die Arbeitszeit durch die Verwaltungen und Unternehmer*innen konterkariert. Investitionen in soziale Infrastruktur stehen regelmäßig gegenüber militärischer Aufrüstung zurück, Bankenstützung und Steuersenkungen für Unternehmen und Reiche kosten die Kassen.

Schon deswegen haben wir Lehrkräfte gute Chancen, uns mit den anderen gewerkschaftlich Organisierten zu vernetzen, weil die Problemlage doch ähnlich ist. Solidarität beim Kampf um die Zeit sollte unsere stärkste Waffe sein. Denn dieser Kampf ist ein Kampf um gesellschaftliche Umverteilung. Der Reichtum gehört denen, die ihn produzieren. Ob das Ziel der Chancengerechtigkeit erreicht werden kann, ist immer eine Machtfrage. Die neoliberale Lobby in Wirtschaft und Verwaltung greift deshalb nun vor dem Bundestagswahlkampf das bestehende Arbeitszeitgesetz als nicht mehr zeitgemäß an. Schutzregeln und Begrenzung der Wochenarbeitszeit wollen sie schleifen. Jörg Hoffmann, erster Vorsitzender der IG Metall, kommentiert das im Spiegel so: Wer das will, »hat die Beschäftigten in Deutschland geschlossen gegen sich.« Das ist auch nötig, denn die Arbeitgeber*innenseite ist in der Frage längst beispielhaft vernetzt. Die IG Metall will die Frage der Arbeitszeit zum Hauptgegenstand der nächsten Tarifauseinandersetzung in der Metall- und Elektrobranche machen. Schließen wir uns an!

Die gewerkschaftliche Vernetzung in der Frage der Arbeitszeit erreichen wir nur, wenn wir sie nicht nur denken, sondern auch umsetzen. Innerhalb der DGB-Gewerkschaften sind wir noch weit davon entfernt. In der GEW hat sich nach den Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen in den letzten Jahren inzwischen bereits viel getan. Der Landesverband Niedersachsen hat juristisch erfolgreich eine Erhöhung der Pflichtstundenzahl verhindert und eine Arbeitszeitstudie nachgeschoben, an der die Landesregierung nicht mehr vorbei kann. Der Landesverband Hessen hat eine Kampagne mit kollektiven Überlastungsanzeigen organisiert, die die öffentliche Debatte zur Arbeitszeit in Schulen neu entfacht hat. Die Hamburger GEW kämpft unter den speziellen Bedingungen der Faktorisierung um eine allgemeine Senkung der Arbeitszeit. Der Gewerkschaftstag der GEW in Freiburg hat im Mai den wegweisenden Antrag zur Arbeitszeit der Lehrkräfte beraten.

Die GEW BERLIN hat nun bereits den zweiten Fachtag zum Thema mit über hundert Interessierten durchgeführt. Das Thema brennt und wir brauchen die Unterstützung aller, um konkrete Aktionen zu organisieren. Die AG Arbeitszeit diskutiert einen Katalog von Aktionen, den die Fachtage entwickelt haben. Kommt mit dazu! Ihr erreicht uns über den Vorstandsbereich Beamten-, Angestellten- und Tarifpolitik. Ohne Schritte kommt man nicht zum Ziel.