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bbz 04-05 / 2018

Der Streit um den Weg zur Schrift

Die FDP-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus möchte das »Schreiben nach Gehör« in der Grundschule verbieten lassen. Die Forderung ist zwar populär, aber sachlich unsinnig und politisch bedenklich.

Niemand kann angesichts des schlechten Abschneidens der Berliner Schülerinnen und Schüler bei den Bildungstrends des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) gelassen und untätig bleiben. Die Befunde fordern zu einer entschiedenen Qualitätsverbesserung des Unterrichts in den Berliner Schulen auf. Allerdings müsste wohl einer amtlich verordneten Therapie erst einmal eine solide Diagnose vorausgehen. Die IQB-Leistungsstudien und auch die VERA-Testergebnisse sagen aber überhaupt nichts darüber aus, nach welcher Methode und in welcher Form der konkrete Schreibunterricht an den Berliner Schulen stattfindet.

Eine Methode »Schreiben nach Gehör« gibt es entgegen anders lautender Behauptungen zumindest nicht. Es gibt höchstens eine Methode »Lesen durch Schreiben«, was etwas völlig anderes ist. Es ist auch gar nicht bekannt, wie viele Lehrkräfte denn »Lesen durch Schreiben« überhaupt und in welcher Form praktizieren. Da gibt es eine riesige Bandbreite möglicher sinnvoller und gänzlich unverantwortlicher Praxisformen.

Tatsächlich ist »Schreiben nach Gehör« eine Entwicklungsstufe im Schreiblernprozess, die man auf dem Weg der Aneignung der Schriftsprache gar nicht auslassen kann. Jedes Kind muss nämlich zur Ausbildung einer alphabetischen Strategie irgendwann einmal anfangen, erste eigene Schreibversuche zu unternehmen, und dabei orientiert es sich logischerweise am Klangbild des gesprochenen Wortes. Wer nicht »nach Gehör« schreiben gelernt hat, könnte sich später im Leben nicht einmal einen Namen am Telefon notieren, dessen Schreibweise nicht schon bekannt ist.

Erste, zunächst natürlich noch fehlerhafte Schreibversuche nach dem Klangbild der Worte sind mithin eine völlig normale Entwicklungsstufe auf dem Weg in die Schrift, die bei einem sachkundig angelegten (Recht-)Schreibunterricht zu individuell unterschiedlichen Zeitpunkten überwunden wird – sofern die Schreibversuche der Kinder nicht gleich abgewertet, sondern mit den orthografisch korrekten Schreibweisen der »Erwachsenenschrift« konfrontiert werden. Wer etwas anderes behauptet, verkennt die Entwicklungsstufen, die Kinder auf dem Weg in die Schrift regelhaft durchlaufen müssen.

Nur in autoritären Staaten denkbar

Wer »Schreiben nach Gehör« verbieten will, muss mithin die Rückfrage beantworten: Wie sollen Kinder bei ihren ersten autonomen Schreibversuchen eigentlich sonst schreiben lernen, wenn nicht nach Gehör? Würden sie bereits im ersten Schuljahr über ein ausgebildetes orthografisches Regelbewusstsein verfügen, bräuchten sie ja gar keinen Schulunterricht. Wichtig ist allerdings die Kompetenz der solide ausgebildeten Lehrkraft, den Schülerinnen und Schülern zum jeweils individuell richtigen Zeitpunkt auch orthografische Kenntnisse beizubringen, und sicher nicht erst im dritten Schuljahr, sondern von Anfang an und dann schrittweise.

»Lesen durch Schreiben« ist übrigens eine seit über 90 Jahren bewährte Form des Einstiegs in den Schreibunterricht. Sie wurde im Jahr 1926 von dem französischen Schulreformer Célestin Freinet entwickelt und hunderttausende Kinder haben nach dieser Methode einwandfrei Lesen und Schreiben gelernt. Freinet hat die nach dem Klangbild entworfenen freien Texte der Erstklässler*innen nie zensiert, sondern zunächst inhaltlich gewürdigt und anerkannt. Dann aber hat er auch bald die richtige Schreibung, die »Erwachsenenschrift«, hinzugefügt und bei einer Publikation der Kindertexte darauf geachtet, dass die Texte orthografisch richtig geschrieben werden.

Im Übrigen gilt, dass Methodenverbote in der Pädagogik durch die Politik eigentlich nur in autoritären Staaten denkbar sind. In einem freiheitlichen Staat haben Politikerinnen und Politiker über die fachlich angemessenen Methoden in der Pädagogik genauso wenig zu entscheiden wie in der Medizin.

Was fachlich angemessen und fachlich unverantwortbar ist, entscheidet ausschließlich die »scientific community« – mit ihrem Sachverstand!