bbz 11 / 2017
Die Bürokratie der Verfolgung
Die Verfolgung, Ausbeutung und Vernichtung der europäischen Jüdinnen* und Juden* im Nationalsozialismus wurde von allen Institutionen des gesellschaftlichen Lebens in Deutschland mitverantwortet. Das Beispiel der ehemaligen »Dienststelle für Juden beim Berliner Arbeitsamt« zeigt die Verwicklungen der Berliner Behörden.
Die »Dienststelle« nahm nach den November-Pogromen gegen jüdische Geschäfte und Institutionen im Dezember 1938 ihren Betrieb auf. Sie sollte als Ausgliederung des Landesarbeitsamtes ausschließlich für jüdische Deutsche fungieren. Geleitet wurde sie von Alfred Eschhaus. Anlass zu ihrer Einrichtung war eine reichsweite Verwaltungsverordnung der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (RAfAA). Originäres Ziel dieser Verordnung war die systematische, separierte Erfassung und Rekrutierung von reichsdeutschen jüdischen Menschen zur Zwangsarbeit zur Finanzierung ihrer forcierten Emigration aus dem deutschen Reich.
Am 20. Dezember1938 verordnete die RAfAA aus rassenideologischen Gründen den geschlossenen Arbeitseinsatz aller erwerbslosen und wohlfahrtsunterstützten jüdischen Deutschen. Diese sollten, separiert von der arischen Betriebsgefolgschaft, in Kolonnen Pflichtarbeit leisten.
Die totale Ausbeutung
Aufgrund des Arbeitskräftemangels in der Berliner Verwaltung und Industrie verschärften sich ab Kriegsbeginn im September 1939 die Arbeitsbedingungen für die jüdische Bevölkerungsminderheit stetig. So galt von nun an eine reichsweite Meldepflicht und Arbeitsplatzbindung für alle jüdischen Menschen. Dabei wurde der als arbeitsfähig geltende Personenkreis ständig ausgeweitet, sodass nun auch Kinder ab 14 Jahren und Menschen bis zum 65. Lebensjahr zu Zwangsarbeit verpflichtet werden konnten.
Arbeitszeitregelungen wurden für diese Menschen vollständig außer Kraft gesetzt, sodass sie nun auch am Wochenende, an Feiertagen und nachts arbeiten mussten. Um zu verhindern, dass eine Solidarität zwischen deutschen und jüdischen Arbeiter*innen entsteht, wurde die Zuweisung zu Zwangsarbeit völlig flexibilisiert und schnelle Abberufungs- und Zuweisungsintervalle entstanden.
Tarifstrukturen galten für jüdische Menschen ebenfalls nur bedingt. Sonder- oder Schichtzulagen wurden gestrichen bis hin zu einer völligen Aufhebung der Vertragsbindung. Darüber hinaus wurde die Zuteilung von Lebensmitteln für jüdische Familien auf Bezugsmarken kontinuierlich reduziert.
Diese spezifische Form der Ausbeutung begründete zusammen mit den zivilrechtlichen Schikanen die faktisch totale Ausgrenzung der jüdischen Menschen aus dem Arbeits- und Gesellschaftsleben, je länger sich der Krieg hinzog. Im Februar 1943 waren mindestens 30.000 jüdische Zwangsarbeiter*innen in 230 städtischen Einsatzorten und Berliner Unternehmen im sogenannten Arbeitseinsatz eingegliedert.
Sie wurden zu circa zwei Dritteln in der Berliner Rüstungsindustrie und ihren Zulieferbetrieben, zunehmend zur Kompensation fehlender »arischer« Facharbeiter*innen, beispielsweise bei Siemens & Halske, Siemens-Schuckert, AEG, Telefunken oder Lufthansa im geschlossenen Kolonneneinsatz ausgebeutet.
Einen Erinnerungsort schaffen
Die Fontanepromenade 15 ist ein Ort der Täter*innen und zugleich ein Ort der Opfer an der Schnittstelle zwischen rassenideologischer NS-Verfolgung und Ausbeutung durch Zwangsarbeit. Deshalb soll im heute noch bestehenden Restgebäude in Kreuzberg ein Informations- und Erinnerungsort verbunden mit einer Forschungsstelle eingerichtet werden. Der Verein <Gedenkort Fontanepromenade 15> hat es sich zur Aufgabe gemacht, die in der deutschen Erinnerungslandschaft vorhandenen Lücken zur jüdischen Zwangsarbeit im geschlossenen Arbeitseinsatz wissenschaftlich aufzuarbeiten.
Verfolgung und jüdisches Leben unter NS-Zwangsarbeitsbedingungen in Berlin sollen authentisch rekonstruiert werden. Dazu hat die im Dezember 2016 gegründete Initiative dem Berliner Senat ein wissenschaftlich-pädagogisches und stadträumliches Konzept vorgelegt. Auf dieser Grundlage sollen Jugendliche, Schulen und die Stadtbevölkerung unter fachlicher Anleitung aktiv in die Weiterentwicklung des Konzepts und des Ortes miteinbezogen werden. In dem Haus sollen neben regelmäßigen Zeitzeug*innengesprächen, Gesprächen mit Zeug*innen angehöriger Nachfolgegenerationen, einer Ge-schichtswerkstatt, digitalen Angeboten, bewährte pädagogische Formate sowie Workshops und Ausstellungen stattfinden. Die Initiative will das Haus außerdem als Ausgangspunkt für wissenschaftliche Feldforschung und Exkursionen zu authentischen Orten der Zwangsarbeit im Stadtgebiet nutzen.
Die Realisierung der Inbetriebnahme des Hauses Fontanepromenade 15 und des Projekts kostet viel Geld, für das der Senat leider bisher nicht die notwendigen Mittel in den Doppelhaushalt 2018/19 eingeplant hat.
Wir appellieren hiermit erneut an den Senat, seiner historischen und moralischen Verantwortung gerecht zu werden.
Hintergrundinformationen:
www.wem-gehoert-kreuzberg.de
www.fontanepromenade15.blogsport.de
www.facebook.com/GedenkortFontanepromenade