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bbz 07-08 / 2019

Die Freiheit zu spielen

Welche Möglichkeiten haben Kinder heute, sich frei zu entfalten? Die Erzieherinnen Christiane Weißhoff und Kati Nguimba vom Kitaträger Kindergarten City berichten von ihren Erfahrungen

Foto: Alexander Paul Englert

Wie nehmt ihr Kindheit heute war?
Weißhoff: Jede Zeit hat ihre Besonderheiten und wenn man sich Kindheit in Berlin heute anschaut, ist sie herausfordernd. Der Verkehr nimmt zu, alles wird zugebaut und es gibt wenige Freiflächen für Kinder, in denen sie sich ohne Erwachsene bewegen können. Deshalb müssen wir uns damit auseinandersetzen, wie wir Kitas heute so gestalten können, dass Kinder möglichst viele Freiräume bekommen und der Tag nicht komplett durchgeplant ist.
Nguimba: Kindheit ist nicht überall gleich. Ich arbeite im Wedding und wohne in Pankow und laufe jeden Tag durch zwei unterschiedliche Welten. Ich komme aus dem Wedding, wo sich die Kinder auf der Straße allein und frei bewegen, Fahrrad fahren oder auf dem Spielplatz spielen. Genauso kenne ich es aus meiner Kindheit. Vielleicht sind auch mal Erwachsene da, aber nicht ständig. Dann komme ich nach Pankow und sehe Kinder, die selten allein unterwegs sind. Die Spielplätze sind voller Erwachsener und Fahrrad wird meist in Begleitung gefahren. Es ist ein komplett anderes Bild.

Hat sich Kindheit verändert, weil die Eltern sich verändert haben?
Nguimba: Sicherlich. Ich glaube, meine Eltern haben einfach gemacht, so wie es kam. Heute gibt es so viele Ratgeber, nicht nur in Buchform, sondern auch in den sozialen Medien. Viele Eltern vertrauen ihrer eigenen Intuition nicht mehr. Dadurch entstehen für die Kinder auf der einen Seite mehr Einengungen, sich nicht mehr frei im öffentlichen Raum bewegen zu dürfen und auf der anderen Seite viel mehr Raum für ihre eigenen Bedürfnisse.
Weißhoff: Ein weiterer Aspekt ist die Zeit. Kinder leben im Jetzt. Was sie jetzt haben, ist wichtig. Eltern, die darauf achten, dass ihre Kinder sehr gute Bildungschancen bekommen, verplanen die Zeit ihrer Kinder mit Angeboten, wie ein Musikinstrument zu spielen, eine Sprache zu lernen oder frühzeitig zum Sportverein zu gehen. Als Pädagogin besteht dann die Herausforderung darin, mit den Eltern dieses Thema zu setzen und das offen anzusprechen. Kinder brauchen Zeit, die sie selbst gestalten können.

Welche Rolle spielen die Pädagog*innen in der Kita?
Nguimba: Viele Kolleg*innen unterliegen einem Dilemma. Sie fragen sich: Was soll ich machen? Ich soll Kinder partizipieren lassen, aber was heißt das? Bin ich als Erzieher*innen überhaupt noch wichtig?
Weißhoff: Einige Kolleg*innen machen es sich selbst schwer. Sie holen oft eine Planung heraus, die den Kindern wenige Freiräume lässt und dann gibt es Auseinandersetzungen mit den Kindern. Zudem sehen sich viele Erzieher*innen mit dem Wunsch der Eltern konfrontiert, Ergebnisse zu sehen. Das zieht sich durch alle Elternschaften, egal wo. Es stellt für viele Kolleg*innen eine Herausforderung dar, den Eltern zu vermitteln, was am Tag passiert ist und dass akzeptiert wird, dass Kinder den Tag über »nur« spielen.
Nguimba: Es stellt sich die Frage, wie ich das Lernen im Spiel und die Prozesse, die das Kind gegangen ist, sichtbar mache. Das ist ein großes Thema. Wir können diese Prozesse auf sehr lustvolle Art und Weise sichtbar machen, aber das muss man lernen. Da ist die Erzieher*innenausbildung sehr wichtig. Seit der Einführung des Bildungsprogramms in Berlin sind jetzt 15 Jahre vergangen. Das ist nicht sehr viel Zeit. Es ist wichtig, als Erzieher*in die Freiheit zu haben, sich auszuprobieren. Ich kann als Erwachsene*r nur Freiräume zur Selbstbestimmung zur Verfügung stellen, wenn ich selber die Erfahrung von Beteiligung gemacht habe und Verantwortung übernehme. Das passiert heutzutage in vielen Kitas immer noch zu wenig.

Welche Freiräume könnt ihr Kindern in der Kita ermöglichen, selbstbestimmt zu agieren?
Nguimba: Unbegrenzt alle, solange das Wohl der Kinder nicht gefährdet ist! In meiner Kita, in der ich jetzt seit einem Jahr als Leiterin tätig bin, ist es allerdings so, dass wir noch am Anfang stehen. Ich glaube nicht, dass wir ein besonderer Fall sind, sondern dass es in sehr vielen Kitas so ist. Wir diskutieren gerade intensiv, was wir Kindern zutrauen können. Ein wichtiger Anfang, denn wenn wir nicht die Überzeugung haben, werden wir nicht in der Lage sein, guten Gewissens Kindern Freiheiten zu geben.

Fällt dir ein Beispiel ein?
Nguimba: Ja, der Mittagsschlaf. Als ich ankam, war es bereits so, dass alle Kinder ab vier Jahren nicht mehr schlafen mussten. Im Sommer kam eine neue Kollegin ins Team und Eltern kamen auf sie zu und meinten, ihr Kind solle keinen Mittagsschlaf mehr machen. Sie ging auf den Wunsch der Eltern ein. Die alt eingesessenen Kolleg*innen waren darüber aufgeregt und beschwerten sich bei mir. Das könne sie nicht machen, die Kinder müssten schlafen. Wir haben es im Team thematisiert und es war ein toller Prozess, weil wir dann gemeinsam entschieden haben, nicht mehr alle Kinder hinzulegen und mehr auf ihre Bedürfnisse einzugehen. In einer anderen Abteilung ist es bereits so, dass die Kinder selbst entscheiden, ob sie schlafen wollen. Was hier vergessen wurde, war die Eltern mitzunehmen. Es ist keine Entscheidung, die wir als Erzieher*innen alleine treffen können. Wir müssen sie immer in Zusammenarbeit mit den Eltern treffen und argumentieren.
Weißhoff: Ich schließe mich deiner Meinung an, dass es wichtig ist, mit den Eltern zusammenzuarbeiten und das Kind selbst entscheiden zu lassen. Es geht nicht, dass Erzieher*innen und Eltern stets bestimmen, was Kinder machen dürfen. Es kommt dem individuellen Bedürfnis der Kinder entgegen, wenn sie tatsächlich entscheiden, beispielsweise wann sie schlafen und wo. Es fängt in den Köpfen an und bleibt ein langer Weg, bis sich etwas verändert. Dabei ist es wichtig, zurückzuschauen, wie die eigene Kindheit war. Wenn ich persönlich zurückblicke, war es bei mir der Schlafzwang, den ich in meiner Kindheit als nicht so positiv in Erinnerung habe.

Die Freiheit der Kinder hängt also von der Haltung der Erzieher*innen ab?
Nguimba: Es hat viel damit zu tun, wie ich mich als Erzieher*in sehe. Bin ich die, die alles weiß und Entscheidungen für Kinder trifft oder traue ich Kindern zu, selbst Entscheidungen zu treffen. Ich kann ein aktuelles Ereignis aus der Kita erzählen. Es ging darum, unseren Garten neu zu gestalten. Die Kinder haben keine Ecke, wo sie sich zurückziehen können. Als die Idee aufkam, die Kinder in die Planung einzubeziehen, wehrte eine Kollegin sofort ab: »Nee, unsere Kinder wissen doch nicht, wie ein schöner Garten ist. Das muss ich ihnen erst zeigen.« Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie die Kinder in ihrer Gruppe fragen könnte und dass die eine Antwort darauf haben würden.

Wie sehen Lernangebote aus, die ihr den Kindern macht?
Nguimba: Wir brauchen heute keine Menschen mehr, die einen bestimmten Kanon an Wissen haben und diesen ihr gesamtes Berufsleben über abrufen. Es geht immer darum, flexibel zu sein und zu wissen, wo kriegen wir Wissen her, wie können wir es uns am schnellsten aneignen und mit schon bekanntem Wissen verknüpfen. Das können Kinder in der Kita schon frühzeitig lernen, wenn sie die Freiheit dazu haben und wir ihnen nicht vorgeben, was und wie sie zu lernen haben. Wir lassen sie also keine »Auftragsarbeiten« anfertigen, wie beispielsweise »Malt eine Sonnenblume« und erst recht nicht, indem wir nur die Farben gelb, braun und grün auf den Tisch legen und die Erzieherin zeigt, wie sie in der Mitte den Kreis malt. Nein, so läuft das heute nicht mehr. Es ist wichtig, den Kindern Techniken zu vermitteln und sie machen zu lassen und das erfordert bei einigen Kolleg*innen ein komplettes Umdenken.

Welche Bedingungen benötigt ihr in den Kitas, um euch zu öffnen?
Weißhoff: Neben guten personellen Rahmenbedingungen ist es wichtig, Unterstützung und Zeit in Form von Fortbildungen zur Verfügung zu stellen, um die Vorgaben des Berliner Bildungsprogramms umzusetzen.
Nguimba: Zeit, um sich auszutauschen ist total wichtig. Nachdem ich neu als Leiterin an die Kita gekommen bin, haben sich meine Kolleg*innen oft beklagt, dass sie auf einmal so viel miteinander reden müssen. Inzwischen merken wir aber, dass wir viel zu wenig Zeit haben, um uns auszutauschen. Es gibt eine Studie, die besagt, dass 25 Prozent der Arbeitszeit mittelbare pädagogische Arbeit sein sollte. Kindergarten City legt drei Stunden in der Woche fest, was vorbildlich und innovativ ist. Das ist die schöne Theorie, doch was davon kannst du umsetzen?

Seht ihr einen Widerspruch darin, von Freiheit zu sprechen, wenn Kinder ihre gesamte Kindheit in Bildungseinrichtungen verbringen?
Weißhoff: Egal wo Kinder aufwachsen, ob in der Familie oder in einer Einrichtung, sagt ja noch nichts darüber aus, ob sie sich frei entfalten können. Auch in der Familie können Kinder vielleicht nicht die Freiheiten ausleben, die sie gerne möchten, weil es da bestimmte Vorgaben gibt. Für mich ist Kita eine wichtige Bildungseinrichtung für Kinder, weil sie in der Kindergemeinschaft aufwachsen und mit ihnen viele Erfahrungen sammeln.
Nguimba: Ich bin da ganz deiner Meinung. Wir dürfen nicht vergessen, dass es eine ganze Menge Kinder gibt, die in Kitas die Chance erhalten, ein anderes Angebot zu bekommen, als das, was sie zuhause erfahren. Wenn Erzieher*innen und später Lehrkräfte den Kindern zugewandt und an ihren Bedürfnissen und Interessen interessiert sind, dann ist gegen die Institution nichts zu sagen.


Das Berliner Abgeordnetenhaus hat Anfang Juni mit den Stimmen von SPD, Grünen, Linken sowie von CDU und FDP das neue Jugendförder- und Beteiligungsgesetz beschlossen Mit dem Gesetz strukturiert Berlin die Jugendarbeit mit all ihren Angeboten neu und verankert Mitbestimmungsrechte für Kinder und Jugendliche. In Folge der Gesetzesänderung sollen in den kommenden vier Jahren den Bezirken 25 Millionen Euro mehr für die Jugendarbeit zur Verfügung stehen.


Dieser Artikel ist Teil des bbz-Themenschwerpunkts „Freiheit in der Kindheit“  [zur gesamten Ausgabe]