bbz 06 / 2019
Die GEW im digitalen Kapitalismus
Ein Überblick über die politische Ökonomie der digitalisierten Welt
Wenn wir uns als Bildungsgewerkschaft mit dem Thema »Bildung in der Digitalisierung« auseinandersetzen, dann befassen wir uns mit Fragen der Ausstattung der Schulen, der Weiter- und Ausbildung der Lehrenden oder eines umfassenden Landeskonzepts. Doch ohne einen Konsens über einen emanzipatorischen gesellschaftspolitischen Kurs der Gewerkschaften im digitalen Kapitalismus werden unsere Antworten irgendwo zwischen bedenkenlosem Hype und bedenkenschwerem Anti-Hype stecken bleiben. Einen solchen Diskussionsprozess möchte ich mit einem analytischen (Über-) Blick auf die politische Ökonomie des digi-talen Kapitalismus und die Konsequenzen für unsere GEWerkschaftsarbeit anstoßen.
Die Macht intransparenter Algorithmen
Wenn die verschiedenen gesellschaftlichen Akteur*innen, die zur Verwirklichung ihrer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Rechte auf eine starke solidarische Demokratie angewiesen sind, die Macht intransparenter Algorithmen nicht verstehen, ist der Aushöhlung bestehender demokratischer Institutionen weiter Tür und Tor geöffnet. Und diese Aushöhlung hat viele Gesichter. Whistleblower Edward Snowden zerrte 2013 das Gesicht von Big Brother in die Öffentlichkeit. Mit dem Programm PRISM haben sich NSA und FBI willkürlich Zugriff auf die Kommunikation von Bürger*innen auf dem gesamten Planeten verschafft. Google, Apple, Microsoft und Facebook öffneten bereitwillig ihre Server für die Verfolgungsbehörden. Der Staatstrojaner in Hessen, der von Schwarz und Grün nun fünf Jahre nach PRISM durch den Landtag gedrückt wurde, soll der Landespolizei Zugriff auf die digitale Kommunikation von Smartphones und PCs verschaffen. Aktivist*innen aus dem Umfeld des Chaos Computer Club (CCC) kritisieren den Hessentrojaner als »digitale Waffe«, die in den Händen von Kriminellen auch zum Angriff auf die Infrastruktur wie Krankenhäuser und Windparks genutzt werden könnte.
Big Data: Das neue Gold des Internets
Die Algorithmen hinter Plattformen wie Facebook oder Twitter haben eine janus-köpfige Gestalt. Das eine Gesicht, nennen wir es die Filterblasenfratze, hat dazu beigetragen, dass die Rechtsradikalen aller Länder, vereint im globalen Dorf, ihre völkischen Ressentiments verbreiten können. Im deutschsprachigen Internet organisieren sich rechte Trolle auf dem Discord-Server Reconquista Germanica als exklusive Gamer-Community mit Führer-Prinzip. Der faschistische Troll pflegt unzählige Fake-Accounts, etwa bei Twitter, um bei Marschbefehl die Tweets der Anführer*innen über Likes und Retweets in der Aufmerksamkeitshitparade des Twitter-Algorithmus brav klickend nach oben zu befördern. Prominente oder Institutionen werden mit den gleichen Mitteln mit einem Hate-Storm überzogen. Im letzten Bundestagswahlkampf richteten sich solche Attacken mit Unterstützung von automatisierten Bots aus Russland unter anderem gegen Grüne, SPD, Linkspartei und CDU. Algorithmen der Social-Media-Plattformen werden so gezielt genutzt, um die eigene verquere Weltsicht im Netz als die einer lautstarken Mehrheit erscheinen zu lassen.
Das andere Gesicht ist das der nerdig-glamourösen digitalen Protagonisten wie Mark Zuckerberg (Facebook), Larry Page oder Sergey Brin (Google). Getreu ihrer Post-Hippie-Ideologie gefallen sie sich als technische Heilsbringer der Menschheit und bedauern derartige Gesinnungstaten auf ihren Plattformen.
So übernahm Zuckerberg am 10. April 2018 vor dem US-Kongress die Verantwortung für den millionenfachen Missbrauch der Daten von Facebook-Nutzer*innen, die von dem Datenanalyse-Unternehmen Cambridge Analytica abgegriffen und für die gezielte Ansprache der User*innen für die Wahlkampagnen von Donald Trump und dem Pro-Brexit-Lager genutzt wurden. Das Versprechen des smarten Tech-Humanisten, künftig für mehr Datenschutz zu sorgen, verträgt sich jedoch schlecht mit dem Geschäftsmodell von Facebook und anderer Plattformen. Big Data, das neue Gold des Internets, lässt sich ohne Zugriff auf die User*innen-Daten und deren Verknüpfungen nicht fördern. So hat Facebook seinen Timeline-Algorithmus erst vor wenigen Monaten auf interpersonelle Aktionen im engeren Freundeskreis fokussiert, damit Werbung noch gezielter und gewinnversprechender geschaltet werden kann. Dieser »Manchester-Digitalismus« (Tarnoff/-Weigl) reagiert ähnlich wie sein industrieller Vorläufer auf stagnierendes Wachstum mit der Steigerung der Produktivität der menschlichen Arbeitskraft.
Zur Kritik der digitalen Ökonomie
Timo Daum beschreibt in seiner »Kritik der digitalen Ökonomie«, wie die Maschine des digitalen Kapitalismus rund um die Uhr, sieben Tage in der Woche mit Daten gefüttert wird, genau wie das Fließband des fordistischen Kapitalismus. Die Stichworte lauten hier user-generated content und Prosumer: Auf den Plattformen nutzen User*innen als Consumer*innen die Inhalte, die von anderen User*innen als PROducer*innen während der Arbeits- oder Freizeit erstellt worden sind. Die Plattformen stellen lediglich die Softwareumgebung und die Rechenpower zur Verfügung und greifen nach einem immer größer werdenden Anteil am gesellschaftlich produzierten Mehrwert. Dieser Zusammenhang erinnert Daum zurecht an den Fetischcharakter der bürgerlichen Warenwelt, wie er von Karl Marx herausgearbeitet wurde. Wir schaffen mit unseren Entscheidungen und Handlungen selbst die Strukturen, die uns »hinter unserem Rücken« beherrschen: »Das Kapital sind wir.«
Die neuen digitalen Monopole
Auch Whatsapp ist für den Mutterkonzern Facebook eine wertvolle Datenquelle, da es in vielen sozialen Kontexten schnell alternativlos geworden ist: Das Netzwerk mit der größten Verbreitung verspricht den größten Nutzen. Seriöse Alternativen wie Signal kommen über eine Minderheit datenpolitisch kritischer User*innen nicht hinaus. Durch diesen Netzwerkeffekt finden sich die Plattformen bald in einer Monopolstellung in einem neu formierten Markt wieder. So gehört Whatsapp mit täglich um die 55 Millionen Anrufen inzwischen zu den weltweit größten Telefondienstleistern und kann sich ohne teure eigene Infrastruktur übers Internet ausbreiten. Die Monopolbildung im Plattform-Kapitalismus zwingt angestammte Dienstleister in die Knie oder zur Anpassung an extrem niedrige Kostenstrukturen. Dieser, unter dem Begriff Disruption firmierende Vorgang, führt vordergründig zu niedrigen Preisen für die Konsument*innen, aber eben auch zu unregulierten Arbeitsverhältnissen und »Bullshit-Jobs« (David Graeber), die ebenso an die frühen Tage des Kapitalismus erinnern. Und inzwischen führen die in den sozialen Medien erprobten Verwertungsmechanismen längst zur Veränderung der kapitalistischen Produktionsweise selbst, wie unter anderem Google-Car in der Automobilbranche in der Zukunft zeigen dürfte.
Vor diesem Hintergrund und der tiefen Krise der Sozialdemokratie liegt es zunächst auf der Hand, dass eine Diskussion um eine neue Klassen- und Bündnispolitik auf allen organisatorischen Ebenen und zwischen den DGB-Gewerkschaften überfällig ist. Vielversprechende Ausgangspunkte für eine GEW-interne Diskussion sind die Themen Datenschutz, digitale Infrastruktur, digitale Transparenz und Mitbestimmung sowie informationstechnische Grundbildung. Wie diese neue Klassenpolitik aussehen könnte, möchte ich im Folgenden an einem Beispiel skizzieren: Die CDU offeriert den Frankfurter Schulen – offenbar aus Unkenntnis und unbedingtem Sparwillen – ein offenes WLAN. GEW und Personalräte müssen hier auf einem verschlüsselten und passwortgeschützten Netzwerk bestehen. Es ist mehr als verantwortungslos, Schüler*innen und die Kolleg*innen einer digitalen Infrastruktur auszusetzen, die Datenmissbrauch Tür und Tor öffnet. Gleichzeitig will die CDU, dass den Schulen die Option angeboten wird, die WLAN-Infrastruktur auch von privatwirtschaftlichen Dienstleistern aufbauen und betreiben zu lassen. Wenn profitorientierte Unternehmen mit diesem und anderen Hebeln Zugriff auf digitale Schulkonzepte von der Hard- und Softwareausstattung bis zur Lehrkräftefortbildung bekommen, wird Schule tendenziell zu einem abhängigen Teil der Mehrwert produzierenden Maschine des digitalen Kapitalismus.
Für eine starke, solidarische Demokratie
Wenn wir diesem postdemokratischen Dystopia eine starke solidarische Demokratie entgegensetzen wollen, kommen wir meiner Ansicht nach nicht um die Forderung nach einer rein staatlichen digitalen Infrastruktur herum. Nur mit einer Infrastruktur im Besitz der Bürger*innen können Datenschutz, Transparenz und Mitbestimmung rund um digitale Bildung gewahr beziehungsweise erst erstritten werden. Um den jungen Bürger*innen das Selbstbewusstsein mit auf den Lebensweg zu geben, dass jeder Algorithmus, der Einfluss auf ihre sozialen, politischen und wirtschaftlichen Rechte nimmt, offengelegt und Gegenstand von demokratischen Verhandlungen sein muss, gehört Transparenz und Mitbestimmung in den Bildungseinrichtungen zum Bildungsauftrag. Am Anfang einer solchen neuen Klassenpolitik steht eine »informationstechnische Grundbildung«, für Lernende und Lehrende gleichermaßen, wie sie Axel Stolzenwaldt, ein pensionierter Lehrerkollege und Aktivist des CCC in Frankfurt, fordert, um technische Grundkenntnisse zur Funktionsweise verwendeter Plattformen zu vermitteln und aufgeklärte und selbstbewusste Bürger*innen im sich formierenden digitalen Kapitalismus zu stärken.
Eine Langfassung des Artikels mit weiterführenden Links ist auf der Internetseite der HLZ erschienen. Der HLZ verdanken wir auch die Genehmigung zum Abdruck dieses Textes.