bbz 04-05 / 2017
Die Lehrer*innen-Arbeitszeit – ein Jahrhundert Stillstand
Vergleicht man die heute geltenden Lehr-Deputate mit denen von 1908, muss man an einen schlechten Scherz glauben
Seit 1908 ist die Arbeitszeit von Beschäftigten im sonstigen öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft um mehr als 30 Prozent von 60 (und mehr) auf 40 (und weniger) Stunden gesunken. Nicht so im Bildungsbereich: Dort wird damals wie heute gleich viel gearbeitet. Mit immer wechselnden Begründungen ging es mit der Lehrer*innen-Arbeitszeit mit einer Ausnahme nie nach unten, sondern immer nach oben. Einmal wurde die Erhöhung der Arbeitszeit mit der geplanten Bildungsexpansion, ein anderes Mal mit dem Lehrer*innen-Mangel, ein weiteres Mal mit »beschränkten Finanzmitteln« begründet.
Obwohl in den achtziger Jahren genügend ausgebildete Lehrkräfte zur Verfügung standen, um die Zusagen von 1968 einzulösen, wurde die Arbeitszeit der Lehrkräfte nicht gesenkt. Stattdessen wurden mehr als 50.000 Lehrkräfte in die Arbeitslosigkeit geschickt.
Nach der Wende eröffnete der Einigungsvertrag die Chance, Lehrer*innen-Arbeitszeit und Eingruppierung tariflich zu regeln. Dieser sah zwingend vor, dass die in der DDR bestehenden tariflichen Bestimmungen in den Rahmenkollektivverträgen nur durch Tarifverträge abgelöst werden konn-ten. Die GEW BERLIN war jedoch der einzige Landesverband, der diese Option in vollem Umfang nutzen wollte, konnte sich aber gegen die Bundesorganisation nicht durchsetzen, die 1992 einen der Westregelung entsprechenden Arbeitgeberfreibrief anstelle eines Tarifvertrages abschloss.
Doppelter Betrug
Mit dem Tarifabschluss 1988 wurde die Arbeitszeitverkürzung im öffentlichen Dienst von 40 auf 38,5 Stunden beschlossen, gegenfinanziert durch drei außerordentlich geringe Lohnerhöhungen für die folgenden drei Jahre. Die Übertragung auf den Lehrkräftebereich war den Ländern überlassen und wurde von allen Ländern mehr oder weniger betrügerisch durchgeführt. Im Ergebnis haben alle Länder ihre halbherzigen Schritte Anfang der neunziger Jahre wieder zurückgenommen, obwohl die Arbeitszeit im sonstigen öffentlichen Dienst bei 38,5 Stunden blieb. Lehrkräfte sind damit in doppelter Hinsicht betrogen worden: Als größte Beschäftigtengruppe im öffentlichen Dienst trugen sie überproportional zur Finanzierung der Arbeitszeitverkürzung bei, profitierten von dieser aber nicht. In Berlin kam es nach umfangreichen Protesten und Streikmaßnahmen zu einer – vorübergehenden – Reduzierung der Pflichtstundenzahl um durchschnittlich eine Unterrichtsstunde.
Bereits 1991 wurde dies wieder rückgängig gemacht. Die darauffolgende Demonstration von rund 10.000 Lehrerinnen und Lehrern vor dem Roten Rathaus blieb wirkungslos. Von da an wurde die Pflichtstundenzahl der Berliner Lehrkräfte kontinuierlich erhöht, bis sie das heutige Niveau erreicht hatte. Massive Protestmaßnahmen wie der große Bildungsstreik unter Beteiligung von Schüler*innen und Eltern im Jahr 2000 gegen die erneute Pflichtstundenerhöhung mit mehr als 40.000 Teilnehmer*innen beeindruckte die Politik nicht. Mit immer neuen Regelungen – Vorgriffsstunden, Bögerstunden, Arbeitszeitkonten, Teilzeitmodelle – wurde die Lehrer*innen-Arbeitszeit zu einem für Betroffene wirren Dschungel individualisierter Möglichkeiten. Andere, als »pädagogische Verbesserung« verkleidete Verschlechterungen bei Entlastungen für sonstige Aufgaben, Stundentafelreduzierungen, Frequenzerhöhungen, Streichung von Teilungs- und Förderstunden, taten ein Übriges. Dies blieb nicht ohne Folgen für die Durchsetzungskraft der GEW.
Während Lehrkräfte in Befragungen die hohe Belastung durch zu hohe Pflichtstundenzahlen als Hauptproblem schilderten, spielte die Reduzierung der Arbeitszeit in den Tarifrunden nach 2000 keine Rolle mehr. Als zu gering schätzten alle Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes ihre Streikbereitschaft in dieser Frage insbesondere nach den schweren Niederlagen 2004 ein, als die öffentlichen Arbeitgeber die tarifliche Arbeitszeitregelung gekündigt und in der Folge unter Missbrauch der beamtenrechtlichen Regelungen die Arbeitszeit für Lehrkräfte, für Beamt*innen und bei Neueinstellungen massiv erhöht hatten.
Der richterliche Unbedenklichkeitsstempel
Vor Wahlen sind sich alle einig: Bildung ist die zentrale gesellschaftliche Frage. Es gibt keine Wahl ohne Plakate, welche die Bedeutung von Bildung und Erziehung in den Mittelpunkt stellten. Am Tag nach der Wahl gelten wieder die Parolen der »wahren Bildungspolitiker« – der Finanzminister*innen – , die durch die Bank der Meinung sind, dass der Bedarf das ist, was sie finanzieren wollen. Die Grünen-Senatorin Volkholz formulierte gern, dass viele Lehrer*innen viel Mist machen und mehr Lehrer*innen noch mehr. Sie meinte dies als schlagendes Argument gegen die Forderung nach mehr Stellen für Lehrkräfte etablieren zu können.
Jede einzelne Erhöhung der Pflichtstundenzahl landete vor Gericht. Ein Erfolg konnte dort nicht erzielt werden. Der Beschluss vom 30. Dezember 2003 reiht sich nahtlos in die bereits seit über 30 Jahren ergangenen Entscheidungen der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Frage der Pflichtstunden der Lehrkräfte im Verhältnis zur allgemeinen Arbeitszeit ein. Bereits im Jahr 1971 hat das Bundesverwaltungsgericht festgestellt, dass kein rechtliches Gebot besteht, die Pflichtstundenzahl der Lehrkräfte im gleichen Maße wie die allgemeine Arbeitszeit im öffentlichen Dienst zu vermindern. Damit werde auch nicht gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz gemäß Artikel 3 im Grundgesetz, noch gegen die Fürsorgepflicht des Dienstherrn verstoßen. An diesem Grundsatz haben auch nachfolgende Entscheidungen festgehalten.
1992 hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt, dass die Pflichtstundenregelung für Lehrkräfte zwar in die allgemeine beamtenrechtliche Arbeitszeitregelung eingebettet sei. Die Pflichtstundenregelung trage aber dem besonderen Umstand Rechnung, dass die Arbeitszeit der Lehrkräfte nur zu einem Teil, nämlich hinsichtlich der Unterrichtsstunden, messbar sei, während die Arbeitszeit für die Unterrichtsvorbereitung, Korrekturen oder Elternbesprechungen. nur geschätzt werden könne. Bei der Festsetzung der Pflichtstundenzahl für Lehrkräfte handele es sich folglich nicht um eine Regelung der Arbeitszeit, sondern nur um die Konkretisierung eines Teils, wobei der andere Teil dann eben mit geringerer Qualität und Sorgfalt erledigt werden könne.
Lehrkräfte müssen sich also keine Sorgen machen, denn alle Arbeitszeitverlängerungen seit 1974 erhielten den richterlichen Unbedenklichkeitsstempel. Die von der Justiz als Arbeitszeitverschiebung titulierten Pflichtstundenerhöhungen erlauben eben schlechtere Leistungen außerhalb des unmittelbaren Unterrichts, die der*die Arbeitgeber*in billigend in Kauf nimmt. Über die Frage, was besser und was schlechter ist und was das mit Zeit zu tun hat, schweigen die Gerichte.
Ganz so schlicht wie Richter*innen können sich Lehrkräfte der Frage nicht nähern. Berliner Schulgesetz, beamten- und tarifrechtliche Regelungen sprechen gerne von Höchst- und Bestleistungen und vollem persönlichen Einsatz. Einen Qualitätsabschlag gibt es nicht.
Was also tun?
Wenn wir weiter geduldig alles hinnehmen, wird sich in der Frage der Arbeitszeit nichts ändern. Wenn wir durch individuelle Lösungen den Druck vermindern, wird sich nichts ändern. Die GEW muss das Thema Arbeitszeit stärker in die Schulen tragen. Dazu gehört, dass Schulgruppen reaktiviert werden, wieder mehr Kolleg*innen zu Mitgliederversammlungen gehen und Personalversammlungen das Thema deutlicher aufgreifen. Ohne Mobilisierung wird es nicht gehen.