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Schwerpunkt „Deine Arbeitszeit ist messbar“

Die Stimmung ist schlecht

Im Rahmen der Arbeitszeitstudie wurden auch Erhebungen zu der Arbeitsbelastung von Lehrkräften vorgenommen. Die bbz hat mit den Wissenschaftlern Dr. Frank Mußmann und Dr. Thomas Hardwig von der Universität Göttingen über die Ergebnisse gesprochen.

FOTO: BETSI SCHUMACHER, VERFREMDUNG BLEIFREI

bbz: Lieber Herr Mußmann, lieber Herr Hardwig, Sie haben mit Ihren Belastungsumfragen viele interessante Ergebnisse erheben können, einige sind ziemlich bedrückend. Beispielsweise rät jede dritte Berliner Lehrkraft aktiv davon ab, den Beruf zu ergreifen. Was sind die Gründe dafür? 

 

Thomas Hardwig: Ja, das ist erschreckend. Es gab schon immer eine extrem hohe Arbeitsintensität, emotionale Belastungen, viel Lärm. Warum wir jetzt so hohe Attraktivitätsverluste haben, können wir nicht erklären, aber es gibt ein paar Hinweise darauf. Zum einen bleibt der Verdacht bestehen, dass wir heute ein höheres Niveau haben als in der Zeit vor Corona. Wir wissen es nicht genau, weil wir das Vorniveau in Berlin nicht kennen und kein eindeutiger Trend vorliegt. 

Dann könnte es sein, dass durch die wachsende Vielfalt bei den zu unterrichtenden Schulkindern und Erwachsenen mehr soziale Anforderungen an das Lehrpersonal gestellt werden. Zudem haben wir den Prozess der Einführung des digital unterstützten Lehrens und Lernens, der schlecht gestaltet wird, insbesondere in Berlin. Daraus folgen digitaler Stress und eine höhere zeitliche Beanspruchung. Der Personalmangel führt dann zu zusätzlichen Anforderungen, die sich wiederum in diesen Ergebnissen niederschlagen. Im Gesamtmix muss man sagen, dass sich die Situation verschlechtert hat und dadurch auch die Stimmung eine sehr viel schlechtere geworden ist. Das alles erklärt vielleicht, warum nur 20 Prozent den Beruf weiterempfehlen.

Frank Mußmann: Es hat sich mittlerweile rumgesprochen, dass der Beruf einer Lehrkraft anspruchsvoll und sehr belastend ist. Das war bis vor zehn Jahren noch anders. Ein Stück weit haben wir auch durch unsere Aufklärung zu den Arbeitsbedingungen dazu beigetragen, denn wir haben über die letzten Jahre hinweg das, was subjektiv in den Schulen wahrgenommen wurde, mit etablierten wissenschaftlichen Indikatoren eingefangen und evidenzbasiert aufbereitet! 

Das sind durchaus auffällig negative Werte beispielsweise bei der Berufszufriedenheit. Es gibt den Trend zum entgrenzten Arbeiten bei Lehrkräften schon seit Jahrzehnten, aber das ist durch die Digitalisierung und auch durch den Personalmangel noch mal verschärft worden. 

 

Es gibt schon jetzt einen sehr hohen Anteil von Lehrkräften mit besonders hohem Gesundheitsrisiko. In Ihren Auswertungspapieren heißt es »Viele befinden sich in der Gratifikationskrise.« Was genau bedeutet das?

 

Mußmann: Beim Gratifikationsquotient wird gemessen, ob Aufwand und Ertrag in einem angemessenen Verhältnis stehen. Also bekomme ich für das, was ich leiste und auch in der Vergangenheit mit der langen Ausbildungszeit geleistet habe, genug an Wertschätzung und auch an materieller Unterstützung zurück. Wenn meine Bilanz negativ ist, dann bin ich im geringeren oder im stärkeren Maße in der Gratifikationskrise. Es gibt sehr viele wissenschaftliche Studien, die belegen, dass Beschäftigte in der Gratifikationskrise ein viel höheres Gesundheitsrisiko haben. 

Hardwig: Wir haben Hinweise darauf gefunden, dass Lehrkräfte, was ihre Zukunft angeht, immer pessimistischer werden. Wir erwarten dahingehend weitere Verschlechterungen, denn es macht psychologisch mit Menschen etwas, wenn sie keine Perspektive für Verbesserung sehen.

 

Sie haben den Prozess der Einführung des digital unterstützten Lehrens und Lernens an Schulen als einen Belastungsfaktor benannt und kritisieren die Umsetzung in Berlin. Was ist das Problem?

 

Mußmann: In Deutschland gilt, zuerst kommt die Technik, dann eine Strategie und pädagogische Konzepte. Aber es reicht nicht, wenn die Hardware-Ausrüstung und Internetverfügbarkeit perfekt sind, was sie noch lange nicht sind. Es braucht parallel oder besser noch zuvor und nicht erst irgendwann später den Austausch dazu und die Medienkompetenz der Lehrkräfte. Es braucht pädagogische Konzepte im Rahmen einer Schulstrategie, um Medienbildung gemeinsam voranzubringen. Und dafür braucht es wiederum zeitliche Ressourcen. Wenn man in der Digitalisierung oder in der Medienbildung weiterkommen will, muss man diesen Prozess der Innovation auch vorantreiben. Und das können eben nicht nur der Digitalpakt und die Milliarden für Ausrüstung sein, sondern es werden auch Milliarden für das Personal gebraucht. 

Hardwig: Das Problem in Berlin lässt sich auch an der Einführung der digitalen Endgeräte für Lehrkräfte deutlich machen. Die Idee ist, dass dieses Endgerät, was der Arbeitgeber stellt, das einzige ist, was Lehrkräfte benutzen sollen und dass es alle Situationen in allen Berliner Schulen abdeckt. Das tut es aber nicht. Außerdem ist es in seinen Funktionalitäten so weit beschränkt, dass viele Lehrkräfte das Gefühl haben, dass sie damit in ihrem Berufsalltag überhaupt nicht sinnvoll arbeiten können. Digitale Lösungen müssen einen konkreten Nutzen für die Arbeit haben.

 

Drei von vier Lehrkräften geben an, dass sie Interesse daran haben, ihren Unterricht durch die Nutzung digitaler Medien zu verbessern. Vier von fünf Lehrkräften klagen über fehlende Vorbereitungszeit und dass sie digitale Medien nicht nutzen, weil sie keine Zeit haben, sich einzuarbeiten. Lehrkräfte wollen also digital arbeiten, aber die Bedingungen erlauben es nicht?

 

Hardwig: Da beißt sich die Katze bisher in den Schwanz. Wir müssen Aufwand betreiben, um das digitale Lehren und Lernen zu implementieren. Aber wir haben diese Zeit nicht. Wobei es in Berlin durchaus einige Schulen gibt, die wir als digital reif bezeichnen. Dort ist digitale Technik verfügbar, die sich im Schulalltag als nützlich erweist und das digital unterstützte Lehren und Lernen in der Schule wird systematisch umgesetzt. Diese digitale Reife ist nicht verbunden mit mehr digitalem Stress. Im Gegenteil, digitaler Stress entsteht bei Nachzügler­Schulen, weil die Umsetzung nicht funktioniert und die Lehrkraft dadurch einen Mehraufwand hat. An diesen Schulen fühlen sich nur wenige Lehrkräfte darin unterstützt, neue Lernformen zu erproben, während es an den Vorreiter-Schulen weit mehr als die Hälfte sind. Wenn ein Kollegium mit der Schulleitung zusammen einen Schulentwicklungsprozess anfängt, dann würde ich denen raten, die Digitalisierung so umzusetzen, dass sie auch Arbeit spart, dass nicht jede*r das Rad selbst erfinden muss. Digitalisierung muss Lehrkräften Entlastung bringen. 

Mußmann: Wir haben eine digitale Kluft, das bedeutet, dass es strukturelle Zugangshürden für eine gleichberechtige Nutzung der Medien und des Internets an Schulen gibt. Diese Unterschiede in der digitalen Entwicklung schlagen sich in der Medienbildung der Schüler*innen nieder. Beispielsweise lernen in Nachzügler-Schulen nur ein Bruchteil der Schüler*innen digitale Inhalte kritisch zu reflektieren. Aber auch für die Lehrkräfte ist die Situation sehr unterschiedlich. Einige haben eine signifikant bessere Berufssituation in allen möglichen Dimensionen: das Gerät fällt nicht dauernd aus, dadurch müssen sie nicht den Unterricht zweigleisig vorbereiten und haben weniger digitalen Stress. Das heißt auf der anderen Seite, eine Lehrkraft, die das Pech hat, an der falschen Schule zu sein, hat nicht nur mehr Stress, sondern sie wird außerdem beruflich abgehängt, weil sie bestimmte Fähigkeiten gar nicht entwickeln kann. Sie hat kein Kollegium, in dem sie sich über digitales Lehren und Lernen austauschen kann. Das ist wirklich eine neue Dimension von Ungleichbehandlung und Ungerechtigkeit. 

 

Wir stehen in Berlin also vor riesigen Herausforderungen im Bereich der Digitalisierung – in Zeiten eines massiven Fachkräftemangels. An unseren Schulen arbeiten auch Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht über die volle Lehrbefähigung, sprich das 2. Staatsexamen, verfügen, die sogenannten Seiten- und Quereinsteiger*innen. Können Sie zunächst einmal den Unterschied erklären?

 

Hardwig: Bei Lehrkräften mit Quereinstieg handelt es sich um Personen, die zwar noch nicht über die volle Lehrbefähigung verfügen, diese aber berufsbegleitend nachholen können. Dazu müssen sie berufsbegleitend ihr Referendariat machen, manche auch nochmal studieren. Lehrkräfte mit Seiteneinstieg haben auch keine volle Lehrbefähigung, erfüllen aber nicht die Voraussetzungen für den berufsbegleitenden Vorbereitungsdienst. Sie haben weder durch Fortbildung noch nach einer bestimmten Beschäftigungsdauer eine Chance auf eine formale Anerkennung ihrer Leistungen. Außerdem sind sie niedriger eingruppiert und haben oftmals nur eine befristete Beschäftigung. Und das obwohl Berlin dringend Lehrkräfte braucht.

 

Das ist sicherlich frustrierend für die Kolleg*innen. Ist das der Grund, warum sie in der Befragung angegeben haben, dass sie sich strukturell benachteiligt fühlen?

 

Mußmann: Bei den Seiteneinsteiger*innen ist knapp die Hälfte mit ihrem Status unzufrieden und wird perspektivisch nach Alternativen suchen, anstatt sich zu 100 Prozent in diese Rolle zu begeben. Bei den Quereinsteiger*innen sind 25 Prozent nicht zufrieden – immer noch ein hoher Wert. Aber sie haben mittlerweile die Perspektive, mit dem berufsbegleitenden Vorbereitungsdienst später als reguläre Lehrkraft im System ankommen zu können. Zudem stehen jeder Schule pro Quereinsteiger*in zwei Ermäßigungsstunden für eine*n Mentor*in zu. Wir haben festgestellt, dass Quereinsteiger*innen zufriedener waren, wenn ihnen Mentor*innen an die Seite gestellt wurden. Da wo eine Einarbeitung stattfindet, kann man auch davon ausgehen, dass sie länger im System bleiben und auch besser bilanzieren. Das ist in der jetzigen Notlage, pragmatisch und kurzfristig gesprochen, der Weg.

Hardwig: Grundsätzlich fühlen sich diese Lehrkräfte in ihren Kollegien anerkannt. Aber natürlich gibt es eine Ungleichbehandlung. Wobei zwischen den Seiten- und den Quereinsteiger*innen unterschieden werden muss. Alle werden ins kalte Wasser geworfen. Bei den Quereinsteiger*innen gibt es aber eine Struktur der Unterstützung durch Ermäßigungsstunden und ein entsprechendes Begleitprogramm. Es gelingt zwar nicht alles, aber man bemüht sich um diese Gruppe. 

Die Seiteneinsteiger*innen sollen einerseits ohne jede Unterstützung arbeiten, man setzt sie genauso ein wie eine Lehrkraft mit voller Lehrbefähigung, beispielsweise für Klassenleitungen, andererseits redet man von ihnen als Defizitwesen ohne volle Befähigung. Und das finde ich sehr schwierig auszuhalten und inkonsequent. Entweder man entscheidet sich im Bildungssystem dafür, dass Lehrkräfte ohne volle Lehrbefähigung nicht gleichermaßen geeignet sind und setzt sie beschränkt ein, oder man setzt sie voll ein und erkennt sie dann auch als gleichwertige Lehrkräfte an. 

 

Sie haben sehr viele interessante Ergebnisse aus Ihren Studien erhalten. Was fänden Sie in Zukunft noch spannend zu erforschen? 

 

Mußmann: Wir wissen, dass Personen zeitlich hoch belastet sein können, also deutlich über der Norm arbeiten, und sich trotzdem subjektiv nicht hoch belastet fühlen, und auch normale Gesundheitswerte haben. Andersherum gibt es Personen, die weniger als die kalkulatorische Norm arbeiten, sich trotzdem hoch belastet fühlen, wahrscheinlich weil sie in schulischen Situationen stecken, die so anspruchsvoll sind, dass sie auch bei kürzerer Zeit hoch belastet sind, und negative Gesundheitsreaktionen zeigen. Dieses Zusammenspiel, inklusive der individuellen Regelungsmöglichkeiten, ist bei Weitem noch nicht ausgeforscht. 

Hardwig: Ich würde gerne die Wirkung von Entlastungsmaßnahmen systematischer verfolgen. 

In Gesamtschulen gibt es eine Tendenz zu selbstgesteuertem Lernen hin. Ein derart anderes Konzept erfordert auch ganz andere Arbeitszeitkonzepte. Die Arbeitssituation ist schon längst dynamischer geworden. Ich fände es interessant zu gucken, was das für Entlastungspotenzial bietet. Wenn Digitalisierung in neuartige Lernlandschaften integriert wird, kann individuelles Lernen über lange Zeitstrecken unabhängig vom Unterricht ermöglicht werden. Die Lehrkraft kommt in eine Coaching-Situation und das kann zeitlich entlasten, weil weniger unterrichtet wird und die außerunterrichtlichen Aufgaben in ein ganz anderes Arbeitszeitkonzept eingebettet werden. Dadurch ergeben sich aber auch neue Fragen hinsichtlich Belastung und Arbeitszeitregelung. 

 

Unsere letzte Frage an Sie ist: Was würden Sie nach den Ergebnissen Ihrer Studie vom Berliner Senat fordern? 

 

Hardwig: Mir wäre es ein besonderes Anliegen, wenn das Land Berlin sich auf den Weg machen würde, systematisch und partizipativ die Potenziale zu realisieren, die in der Digitalisierung liegen, um zeitliche Entlastung für Lehrkräfte zu schaffen. 

Mußmann: Berlin hat sich über Jahrzehnte darauf ausgeruht, dass die Hauptstadt attraktiv ist und deshalb Lehrkräfte nach Berlin kommen. Die Situation ist heute bei Weitem nicht mehr so. Und ich würde mir wünschen, dass die Senatsbildungsverwaltung wieder eine positive Vision entwickelt, damit Lehrkräfte das begründete Gefühl haben können: Es wird in Zukunft besser! Das würde in vielen Bereichen helfen, nicht nur bei der Lehrkräftebindung, sondern auch bei der Ausbildung und dem Personalmangel. Aber darüber hinaus braucht es natürlich auch substanzielle Maßnahmen, um die Arbeitsbedingungen Schritt für Schritt zu verbessern.

 

Ausführliche Informationen zu der Arbeitszeitstudie sowie zu den Belastungsumfragen unter: 

kooperationsstelle.uni-goettingen.de/projekte/arbeitszeit-arbeitsbelastung-berlin

 

 

Unter den Teilnehmer*innen der Arbeitszeitstudie Berlin 2023/24 wurden zwei  Arbeitsbelastungsumfragen durchgeführt. Es haben insgesamt 2.744 Lehrkräfte teilgenommen, 1.446 davon an beiden Umfragen. Es haben sich 7,3 Prozent der Lehrkräfte an 46 Prozent der Schulen beteiligt.