Tendenzen
Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft
In seinem neuen Sachbuch »Mythos Bildung« beschreibt der Pädagogik-Professor Aladin El-Mafaalani die Komplexität sozialer Ungleichheit und erteilt den allzu optimistischen Erwartungen an das Bildungssystem eine Absage.
Mir fällt tatsächlich kein in Deutschland relevantes Problem ein, für das Bildung eine Lösung sein könnte« – so kann man auf Seite 50 von »Mythos Bildung« lesen. Auf den 49 Seiten davor und den 200 Seiten danach geht es dann aber doch erstaunlich viel um Bildung. Ein Widerspruch, den aufzulösen der Autor Aladin El-Mafaalani bis zuletzt schuldig bleibt. El-Mafaalani liefert zwar eine sehr lesenswerte Analyse unseres Bildungssystems, die mit vielen liebgewonnen Vorstellungen aufräumt, die dabei jedoch auf eigentümliche Weise inkonsistent ist.
Für El-Mafaalani ist die weit verbreitete und durch zahlreiche radikale Schulreform-Entwürfe verfestigte Vorstellung, mit einer Veränderung des Bildungssystems ließen sich alle gesellschaftlichen Probleme lösen, naiv. Sie blende nämlich aus, dass die Schwierigkeiten im Zusammenhang von Migration, Globalisierung, Digitalisierung und so weiter sehr komplexe Ursachen haben, für die die Schule gar keine Antwort biete. Mehr noch: Das Bildungssystem ist nicht nur nicht Lösung, sondern sogar selbst ein Problem.
Obwohl der Mythos Bildung besagt, dass in der Schule allen Kindern dieselben Chancen gegeben werden, es einmal zu etwas zu bringen, sei die Realität eine ganz andere. Die Kinder treten nicht nur mit ganz unterschiedlichen Startbedingungen in das Bildungssystem ein, dort werden die Nach- beziehungsweise Vorteile, die ihnen durch das Elternhaus erwachsen, sogar noch weiter verstärkt. Es liege schlicht an der Logik des Bildungssystems selbst, so El-Mafaalani, dass es nicht mehr Gleichheit schafft, sondern den Status quo und die Privilegien der Gebildeten und Wohlhabenden sichert. Anstatt seinen Beruf an dieser Stelle an den Nagel zu hängen, entwirft El-Mafaalani dann aber doch einen Vorschlag, wie man das Bildungssystem gerechter machen könnte.
Alles, was jetzt schon ganz gut läuft, müsse auch nicht geändert werden: die duale Berufsausbildung etwa, auch das Gymnasium könne man belassen. Bestehende Tendenzen könne man weiter verstärken: den Ausbau der Ganztagsbetreuung zum Beispiel oder die steigenden Abiturzahlen. Damit die Schule zu einem Ort wird, an dem die unterschiedlichen Startbedingungen der Kinder tatsächlich ausgeglichen werden können, brauche es aber noch Folgendes: die Sensibilisierung des gesamten Bildungssystems für die Erscheinungsformen und Auswirkungen sozialer Ungleichheit. Das soll gewährleistet werden durch entsprechend diagnostisch geschulte Lehrkräfte, die sich wieder auf ihre Kerntätigkeit, den Unterricht, konzentrieren sollen, während sie von »multiprofessionellen Teams« bei der Gestaltung eines anspruchsvollen Nachmittags- und Ferienprogramms unterstützt werden. Das mögliche Resultat: »Prävention und Förderung finden systematisch und kontinuierlich statt, die Schule ist ein lebendiger und komplexer Ort, an dem soziale Ungleichheit, Begabungen und Exzellenz erkannt werden und den Ausganspunkt für Förderangebote bilden«.
Aladin El-Mafaalanis Analyse der Komplexität sozialer Ungleichheit ist hoch plausibel, und seine Absage an die allzu optimistischen Erwartungen an das Bildungssystem ist richtig. Vor diesem Hintergrund erscheinen seine eigenen Reform-Vorschläge jedoch als alles andere als »pragmatisch«. El-Mafaalanis Ideen laufen auf eine Umkehrung dessen hinaus, was der Autor selbst auf überzeugende Weise als die wesentliche Funktion des Bildungssystems herausgearbeitet hat. Eine Schule, in der Ungleichheit abgebaut und nicht reproduziert wird, ist nach El-Mafaalanis eigenen Maßstäben radikal! Zwischen den theoretischen Annahmen und den praktischen Konsequenzen klafft hier eine gewaltige Lücke. Dass El-Mafaalani so despektierlich über »ideologische Auseinandersetzungen«, »abstrakte Systemfragen« und »Klassenkampf« schreibt, nimmt sich daher auch reichlich sonderbar aus. An dieser Stelle wüsste man gerne, ob sich der Autor den weitreichenden politischen Implikationen seiner eigenen Ideen tatsächlich nicht bewusst ist. Und noch eine Frage drängt sich auf: Revolution, Klassenkampf – Warum denn eigentlich nicht?
Aladin El-Mafaalani: Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft. Erschienen bei Kiepenhauer & Witsch (2020), 20 Euro.