Tendenzen
Dokumentation eines Desasters
Lorenz Maroldt und Susanne Vieth-Entus legen mit ihrem neuen Buch eine schonungslose Analyse des Berliner Bildungssystems vor.
Vor Jahren schrieb der Bildungsjournalist Christian Füller »Berlins Schulen gehören zum Schlechtesten, was in der Republik zu finden ist.« Dass man zu dieser Pauschalkritik noch immer kommen kann, zeigt das neu erschienene Sachbuch »Klassenkampf. Was die Bildungspolitik aus Berlins Schuldesaster lernen kann« von Lorenz Maroldt und Susanne Vieth-Entus.
Die beiden Tagesspiegel-Journalist*innen nehmen ein Vierteljahrhundert Berliner Schulpolitik in den Blick und kaum ein*e Kenner*in wird sich wundern, denn sie übertreiben nicht. Die Beschreibung der Wirklichkeit reicht aus: Bei allen Vergleichstests in Mathematik und Deutsch landen Berlins Schüler*innen seit Jahren auf den schlechtesten Plätzen, mehr als zehn Prozent verlassen die Sekundarschule ohne Abschluss. Konkret werden die maroden Schulen, das nicht Hinnehmbare der sanitären Anlagen und vor allem deren Ursachen genannt. Auch die Defizite bezüglich der Digitalisierung und vor allem der Lehrkräftemangel und dessen Folgen für die Arbeitsbedingungen aller im Schulwesen Tätigen.
Unabweislich ist dieses Desaster selbstverschuldet, wobei die Nichtverbeamtung keineswegs allein dafür verantwortlich gemacht werden sollte. Auch die mangelnde Ausbildung neuer Lehrkräfte spielt eine Rolle. Ein Beispiel: Als Berlin 2016 für die Grundschulen Tausende Lehrer-*innen brauchte, schlossen hier gerade mal 175 ihr Studium ab. Die Autor*innen verschweigen nicht, dass der Landeselternausschuss und die GEW seit 2012 immer wieder auf diesen Mangel hingewiesen haben.
Ein weiteres Problem: 2018 waren bereits 7.000 Quereinsteiger*innen im Berliner Schuldienst aktiv. Wobei besonders skandalös ist, dass es in Brennpunktschulen, da wo die Didaktik der Vermittlung entscheidend wirkt, 30 Prozent Quereinsteiger*innen sind. Es bedurfte nicht einer Expert*innenkommission, um festzustellen, dass die »Fachfremdheit« von Lehrkräften einen »signifikant negativen Effekt« auf die Schüler*innenleistung hat. Die Autor*innen können mit präzisen Zahlenangaben belegen, welche Hindernisse jahrelang Negativa produzieren. Das gilt etwa für das jahrgangsübergreifende Lernen, die Auflösung der Vorklassen und die Abschaffung der Spezialklassen für Kinder mit Lernbehinderung.
Umfangreiche Ausführungen sind dem Komplex Schulbau, Schulsanierung und den Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen Bezirk und Land gewidmet – haarsträubend und gut belegt. Besonderes Augenmerk gilt auch der Beschulung von Kindern mit Migrationshintergrund. Hier hat Berlin schlechtere Ergebnisse vorzuweisen als etwa Hamburg oder Baden--Württemberg, obwohl diese Bundesländer einen höheren Anteil an Schüler*innen mit Migrationshintergrund haben als die Hauptstadt. Auch hier beklagen die Autor-*innen zu Recht jahrelange Versäumnisse. Am Geld liegt es nicht: Die Ausgaben je Schüler*in in Berlin liegen bei 12.100 Euro, in Hamburg bei 11.700 Euro, im deutschen Durchschnitt bei 8.900 Euro.
Ein Kapitel ist dem »Schikanieren der freien Schulen« gewidmet, ein weiteres der Leistungsorientierung in Berlin. Ich habe noch die Zeit bis in die 90er Jahre erlebt, in denen die Rechtschreibung oft als ein »Instrument der herrschenden bürgerlichen Klasse« gedeutet wurde und Leistungsorientierung nachrangig den Erziehungszielen wie Solidarität und Selbstverwirklichung galten. Verwundert es also, dass die Drittklässler*innen-Vergleichsarbeiten zeigten, dass rund 30 Prozent der Kinder beim Lesen und in der Mathematik noch nicht einmal die Mindestanforderungen erreichen?
In den Naturwissenschaften sehen es die Autor*innen noch dramatischer; sie zitieren die Kultusministerkonferenz: »In Berlin werden im Jahr 2018 in allen untersuchten Fächern und Kompetenzbereichen die Regelstandards seltener erreicht oder übertroffen und die Mindeststandards häufiger verfehlt als deutschlandweit«.
Schließlich enthält der Band detaillierte Ausführungen zu »Auswegen aus dem Bildungsdesaster«. Eine Auswahl: dringend die Zahl der Kitaplätze erhöhen, die frühkindliche Bildung in den Fokus zu nehmen und die Lehramtsausbildung reformieren.
Rühmenswert schließlich ist der Anhang, der Literatur und Quellen zu jedem Thema enthält; eine Fundgrube für Examens- und Prüfungsarbeiten aller Art, vor allem aber zum Nachlesen und Überprüfen des eigenen Standpunktes, den in Berlin bekanntlich jeder mit Gewissheit hat.
Lorenz Maroldt/Susanne Vieth-Entus (2022): Klassenkampf. Was die Bildungspolitik aus Berlins Schuldesaster lernen kann, Suhrkamp, 221 Seiten, 18 €