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Schwerpunkt „Soziales unter Kürzungsdruck"

Ein marodes System

Der Berliner Senat entfernt sich immer weiter von den Versprechen des Koalitionsvertrags. Die Sparmaßnahmen sind eine Gefahr für Familien, Fachkräfte und das soziale Gefüge in unserer Stadt.

Foto: Bertolt Prächt

Im Koalitionsvertrag hat der Berliner Senat ambitionierte Ziele formuliert, um die soziale Infrastruktur der Hauptstadt zu verbessern. Unter dem Motto »Das Beste für Berlin. Ein Aufbruch für die Stadt. Eine Koalition für Erneuerung. Ein Regierungsprogramm für alle. Innovativ, verlässlich, sozial und nachhaltig« wurden zentrale Vorhaben für ein soziales Berlin angekündigt. Diese umfassten unter anderem den Ausbau der Angebote in der Jugendhilfe, die Erhöhung der Kitaplätze sowie die Stärkung der Sozialen Arbeit und der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen. Darüber hinaus wurde ein klarer Fokus auf den Schutz vor Armut gelegt, um benachteiligte Gruppen gezielt zu unterstützen und den Zugang zu sozialen Leistungen zu erleichtern.

Dieser positive Ansatz steht jedoch im starken Kontrast zu den aktuellen Sparmaßnahmen, die der Senat angekündigt hat. Die drastischen Kürzungen im sozialen Bereich, insbesondere in der Familienhilfe, der Eingliederungshilfe und bei Beratungs- und Bildungsangeboten, stellen die geplanten Fortschritte in Frage. Der Senat hat beschlossen, in einem bereits angespannten System weitere Einsparungen vorzunehmen, was nicht nur die Qualität der sozialen Dienstleistungen gefährdet, sondern auch die Zukunft vieler wichtiger Angebote in Berlin. Während die finanziellen Herausforderungen nicht zu leugnen sind, sind die Auswirkungen auf Familien und Fachkräfte gravierend und könnten das soziale Gefüge der Hauptstadt erheblich belasten.

 

Doppelhaushalt bringt drastische Einsparungen

 

Mit dem neuen Doppelhaushalt 2024/25 kündigte sich eine neue Qualität der Kürzungen für die Soziale Arbeit an. Nach den hohen Ausgaben der Corona-Jahre ist der Haushalt der Hauptstadt stark belastet, und die Schuldenbremse verhindert die Aufnahme neuer Schulden. Der neue Doppelhaushalt, der 2023 in Kraft trat, sah hohe pauschale Minderausgaben für alle Bereiche vor, die das übliche Maß weit überschritten. Alle Senatsverwaltungen sollen zehn Prozent ihres Budgets einsparen. Die angekündigten Kürzungen betreffen unter anderem Verkehr, Bildung und Soziales.

Auch die Bezirke müssen mehrere Millionen Euro in ihren Haushalten einsparen. Vor allem die Bezirke Mitte, Neukölln, Friedrichshain-Kreuzberg und Marzahn-Hellersdorf sollen massive Sparmaßnahmen einleiten. Die wenigen finanziellen Stellschrauben der Bezirke sind neben dem Personal die sogenannten »freiwilligen« Leistungen. Diese umfassen alle Ausgaben, die nicht gesetzlich vorgeschrieben sind, aber dennoch wichtige soziale und kulturelle Angebote finanzieren. Dazu gehören beispielsweise Jugendclubs, Kulturprojekte, Sportvereine und Beratungsstellen. Da diese Leistungen nicht gesetzlich verankert sind, können sie bei finanziellen Engpässen leichter gekürzt oder gestrichen werden. 

 

Soziale Einrichtungen vor dem Aus

 

Hinzu kam, dass der Senat die übliche Praxis der Bezirke, durch unbesetzte Stellen im Haushalt zu sparen, nicht mehr erlaubt. Zudem ergab der kürzlich veröffentlichte Zensus, dass die Bevölkerung Berlins geringer ist als angenommen. Dies führt zu steuerlichen Mindereinnahmen von 450 Millionen Euro für Berlin und erhöht den finanziellen Druck auf die Bezirke und den Senat. 

Ein Beispiel für die Auswirkungen zeigt sich im Bezirk Mitte: Zu Beginn des Jahres 2024 kündigte der Bezirk an, 97 soziale Einrichtungen nicht weiter zu finanzieren, und Neukölln will nicht mehr die Mieten beziehungsweise die Betriebskosten für Träger von Jugendclubs zahlen. Erst durch heftige Proteste der Träger in Mitte wurden die Verträge der Einrichtungen zumindest für das Jahr weitergeführt. Das konnte aber nur passieren, weil der Senat versprach, einen Teil der Mietkosten des neuen Standorts der von Asbest betroffenen Anna-Lindh-Schule zu übernehmen. Wie es im nächsten Jahr weitergeht, steht noch nicht fest. 

 

Qualität der Sozialen Arbeit wird schlechter

 

Seit Juli ist zudem klar, dass der Senat nicht nur pauschale Kürzungen verlangt, sondern auch die Qualität in bestimmten Bereichen herabsetzen möchte, um die geforderten Einsparungen zu erreichen. Hier sticht besonders die Verminderung der Qualität im Schulbau, im Bereich Hilfen zur Erziehung (HzE) und Eingliederungshilfe sowie bei Kindertagesstätten und im Ganztag hervor. Noch ist nicht bei allen Bereichen klar, was der Senat mit »Qualitätsminderung« meint oder ob dies tatsächlich umgesetzt wird. Da die Kitaerzieher*innen in den Eigenbetrieben für einen Tarifvertrag »Entlastungen« kämpfen und wir als GEW mit den Erzieher*innen im Ganztag für eine Verbesserung des Personalschlüssels im Ganztag auf 1:15 kämpfen, klingt die Ankündigung des Senats kurz vor der Sommerpause wie eine Kampfansage an die Beschäftigten.

 

Hilfen zur Erziehung gekürzt

 

Was das konkret für die Hilfe zur Erziehung heißt, zeigt sich gerade im Bezirk Mitte. Über die Sommerferien wurde in zwei kurz angekündigten Steuerungsrunden mit den örtlich in der ambulanten und stationären Jugendhilfe aktiven Trägern gesprochen. Dabei wurden Kürzungen in den Hilfen angekündigt. Das Jugendamt hatte sein Budget stark überschritten und müsse nun nachsteuern. Am Ende teilte der Bezirk in Vertretung der Jugendamtsleitung den Trägern in Top-Down-Manier mit, dass bei den Hilfen, wie etwa Familien- und Betreuungshilfen, die Fachleistungsstunden pro Fall gekürzt werden sollen. Bekam eine sozialpädagogische Fachkraft bisher pro Familienhilfe 130 Fachleistungsstunden für sechs Monate, sollen es in Zukunft 120 Fachleistungsstunden werden. Das klingt erstmal nicht viel, aber auch zehn Stunden weniger bedeuten weniger Elterngespräche, Gespräche mit Lehrer*innen und Erzieher*innen. 

Für Betreuungshilfen für Kinder und Jugendliche sollen die Fachleistungsstunden in Zukunft noch niedriger liegen. Das bedeutet für eine Fachkraft, dass sie pro Woche etwas über vier Stunden pro Familie im Kinderschutz und bei multiplen Problemlagen hat. Für ein bedürftiges Kind, das aus Angst nicht mehr in die Schule gehen kann oder andere Unterstützung braucht, sind es sogar nur circa drei Stunden. Viele Kolleg*innen sind sich einig, dass damit eine qualitativ gute Arbeit immer schwieriger wird. Für den wichtigen Beziehungsaufbau zwischen Fachkraft und Klient*in steht weniger Zeit zur Verfügung. Über die letzten Jahrzehnte wurden die Stunden für Familienhilfen immer wieder zusammengekürzt und üblicherweise werden die Stunden auch in besseren fiskalischen Zeiten nicht wieder hochgesetzt. Gab es in den neunziger Jahren noch zehn bis zwölf Stunden pro Familie, sind es jetzt nur noch knapp fünf. 

Auch wenn Familien und Jugendliche einen Rechtsanspruch auf diese Hilfen haben, kann der so kaum noch erfüllt werden. Er bleibt ein hohles Versprechen. Meistens haben die betroffenen Familien auch nicht die Ressourcen, um sich die Hilfen einzuklagen. Sie werden vom Senat und Bezirk mit ihren Problemen alleine gelassen. Auch in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung und der stationären Jugendhilfe sind ähnliche Stundenkürzungen angekündigt und auch in anderen Bezirken soll es zu Kürzungen kommen. In Bezirken wie Neukölln wurde jetzt schon zum wiederholten Mal in diesem Jahr die Haushaltssperre wegen zu hoher Ausgaben verhängt. 

 

Dominoeffekt ausgelöst

 

Abgesehen von den negativen Folgen für Familien macht es die Arbeit der pädagogischen Fachkräfte prekärer. Eine sozialpädagogische Fachkraft in der Familienhilfe, die einen 39-Stunden-Vertrag hat, müsste zehn bis zwölf Familien gleichzeitig betreuen, um auf ihre Stunden zu kommen. Selbst mit Verwaltungs- und Teamzeiten ist das logistisch kaum machbar. Es mindert die pädagogische Qualität und führt zu Arbeitsverdichtung, da sich eine Fachkraft auf viele verschiedene Problemlagen gleichzeitig einstellen muss. Eine sozialpädagogische Familienhilfe lebt von der Beziehungsarbeit, Hausbesuchen und Gesprächen mit Kitaerzieher*innen und Lehrkräften, um die Probleme der Familien zu verstehen und sie bei der eigenständigen Lösung zu unterstützen. Mit den wenigen Stunden wird das wesentlich schwieriger und die Hilfe ineffektiver.

Die meisten Fachkräfte in den ambulanten Hilfen entschieden sich daher schon vorher, nicht Vollzeit zu arbeiten, obwohl die Löhne nicht hoch sind, da viele bei den freien Trägern unter Tarif bezahlt werden. Auch die Träger in der Jugendhilfe bieten selten Vollzeitstellen an und wälzen das wirtschaftliche Risiko auf die Beschäftigten ab, indem sie zum Beispiel Basisverträge mit den Beschäftigten abschließen und dann Nebenabreden mit Aufstockungen je nach Auftragslage anbieten. Mit den weiteren qualitativen Stundenkürzungen wird die Wochenarbeitszeit für Fachkräfte in dem Bereich weiter sinken und prekärer. Das wird langfristig zur Abwanderung von Fachkräften aus diesem Bereich führen, sollten die Kürzungen so bleiben oder sich die Regelungen sogar noch verschlimmern. Die geringe Wochenarbeitszeit wirkt sich ebenfalls auf die spätere Rente aus und führt für Fachkräfte zu mehr Altersarmut. Der Senat löst hier also einen Dominoeffekt aus, den er jetzt kaum absehen kann und der sich in späteren Jahren rächen wird.

 

Sozialbereich retten

 

Der Berliner Senat führt seine Kürzungspolitik auf Kosten der Familien und Fachkräfte weiter fort und gefährdet damit den sozialen Zusammenhalt im Namen der Schuldenbremse. Der schwarz-rote Senat stößt hier gerade eine Kürzungswelle in vielen sozialen Bereichen an, deren Scherbenhaufen wir noch lange in dieser Stadt aufkehren müssen. Unter diesen Vorzeichen sind Tarifvorhaben zum Thema Entlastung, starke Kampagnen zum Personalschlüssel im Ganztag und Bündnisse in der Jugendhilfe wie mit der AG Weiße Fahnen eine absolute Notwendigkeit, um das Schlimmste zu verhindern und dem Senat zu zeigen, dass er nicht für die schwarze Null bei den Schwächsten und uns Fachkräften kürzen kann. Entweder wir stehen jetzt für unsere Rechte auf, oder wir müssen über Jahre mit den Konsequenzen einer fehlgeleiteten Senatspolitik leben. Die Kürzungen müssen schnellstmöglich zurückgenommen werden, und damit wir das schaffen, braucht es uns alle!

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Privat:  030 / 219993-46