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Schwerpunkt "Diskriminierungssensible Pädagogik"

Ein Raum für diskriminierungssensible Pädagogik

Wie ein partizipatives Blogprojekt dabei helfen kann, Diskriminierungen beim Lernen und Lehren einzuordnen und zu begegnen.

Foto: Adobe Stock

Während der Geschichtslehrer der Klasse mich als die neue Praktikantin vorstellt, schreibe ich meinen Namen an die Tafel: Frau Ibrahim. Als ich mich wieder zurück zur Klasse drehe, meldet sich eine Schülerin, die ein Kopftuch trägt. »Haben Sie einen arabischen Mann geheiratet?«, fragt sie, als ich sie drannehme. Sie spielt auf meinen Namen an, der scheinbar so gar nicht zu meinem Äußeren passt. »Nein, ich habe Familie im Libanon«, antworte ich. Jetzt will sie es wissen: »Sind Sie Muslima?« Wieder verneine ich die Frage. »Können Sie Arabisch?« – »Zumindest ein bisschen«, entgegne ich. »As-salamu alaikum«, begrüßt sie mich. »Alaikum salam«, grüße ich zurück. Sie lächelt zufrieden. Der Lehrer übernimmt, ich setze mich an den Rand und höre sie noch zu den anderen in ihrer Reihe sagen: »Krass, eine Ibrahim kann in Deutschland Lehrerin werden!«

Ein Vorbild für Schüler*innen sein

Der Satz war kaum hörbar und wurde vom Beginn der Unterrichtsstunde erstickt. In mir löste er jedoch von jetzt auf gleich einen Schwall an Emotionen aus: Erstaunen, Freude, Hoffnung, Enttäuschung, Wut, Frustration, Fassungslosigkeit, irgendwie auch Stolz. Ich versuchte, die Situation für mich einzuordnen. Was ist hier gerade eigentlich passiert? Warum löst diese Äußerung so viel in mir aus? Dann verstand ich: Mein Nachname, mit dem ich mich lange Zeit nicht anfreunden konnte, sticht im Kollegium hervor. Er stellt im Kontext meiner Lehrerinnenrolle ein Identifikationsangebot dar: Die hat es geschafft, die mit dem nicht-deutschen, mit dem arabischen Nachnamen – also kann ich es auch schaffen. Das war die Botschaft hinter ihrer Aussage. An diesem Tag wurde mir bewusst, wie wichtig Diversität unter Lehrer*innen ist und wie sehr Schüler*innen Vorbilder brauchen, mit denen sie sich identifizieren können.

Auch während weiterer Praktika, Hospitationen und Unterrichtssituationen sorgte mein Name immer wieder für Aufmerksamkeit. Mal brachte er Irritation hervor, mal war es Interesse. Jede der Reaktionen brachte mich zum Nachdenken über meine Rolle als Lehrerin mit Migrationshintergrund. Angeregt durch ein geschichtsdidaktisches Seminar mit dem Titel »Heimat in der Migrationsgesellschaft«, begann ich, mich intensiver mit Migration im Bildungskontext auseinanderzusetzen. Ich las mich ein in die Mechanismen von Diskriminierung, in unterschiedliche Diskriminierungsebenen und in ihr intersektionales Zusammenwirken. In dem Zuge konnte ich eigene Diskriminierungserfahrungen aus meiner Schulzeit plötzlich einordnen. Durch die Reflexion meiner eigenen Bildungsbiografie achtete ich in Schulen nun viel stärker auf diskriminierende Situationen und traute mich auch zunehmend, das Gespräch zu suchen. Ein Beispiel aus einer Geschichtsstunde, in der ich hospitiert habe:

Am Smartboard füllt sich eine Wortwolke. Die Schüler*innen sollen über ein digitales Tool auf ihren Smartphones Stichwörter eintippen, die dann vorn für alle sichtbar erscheinen. Wissensaktivierung zum Ersten Weltkrieg nach den Herbstferien. Zwischen Namen, Zahlen und Begriffen ploppt »A. hat kein Land« auf. Ein Schüler liest das laut vor, er und andere beginnen zu lachen. Herr S. überhört die Aussage und geht im Folgenden nur auf die anderen Teile der Wortwolke ein. Nach der Stunde frage ich ihn nach A. und was das sollte. »Ja, A. ist nicht mehr hier auf der Schule. Er ist Kurde. Das fanden die wohl witzig«, antwortet er.

Rechtzeitig reagieren, trotz Unsicherheit

Im Austausch mit Lehrer*innen stellte ich immer wieder fest, dass auf solche Situationen vor allem deshalb nicht eingegangen wird, weil Unsicherheiten vorliegen. Wenn nicht reagiert wird, wird jedoch Akzeptanz suggeriert. Das Problem ist: Der Umgang mit Diskriminierung ist bislang nicht Bestandteil des Lehramtsstudiums. Man muss aber kein umfassendes historisches Fachwissen über regionale Konflikte haben, um in dem Moment deutlich aufzuzeigen, dass ein solches Verhalten im Klassenraum keinen Platz hat. Um es mit den Worten des Migrationspä­dagogen Paul Mecheril auszudrücken: »Der Palästina-Konflikt kann nicht im Klassenraum gelöst werden.« Der regionale Bezug ist ein anderer, die Botschaft jedoch wegweisend.

Ich begann, entsprechende Aussagen, die ich an verschiedenen Schulen aufschnappte, aufzuschreiben. Im Frühjahr 2021 hatte ich so viel gesammelt, dass ich damit irgendwohin wollte. Heraus kam ein partizipatives Blogprojekt: Klasse(n)Gedanken. Das (n) ist in Klammern gesetzt, um neben der Anspielung auf Schulklassen auch den Begriff der gesellschaftlichen Klasse hervorzuheben. Mit Klassismus wird so direkt eine von vielen Diskriminierungsebenen im Titel hervorgehoben. Bei dem Projekt geht es um Lehren und Lernen im Kontext von diskriminierungssensibler Pädagogik. In den einzelnen Beiträgen werden anhand von konkreten Unterrichtssituationen die dahinter liegenden Diskriminierungsmechanismen aufgezeigt. Außerdem gibt es Impulse und Anregungen für die eigene Unterrichtspraxis.

Diskriminierung geht alle an

Da Diskriminierung sehr unterschiedlich aussehen kann und auch unterschiedlich erlebt und wahrgenommen wird, kann es kein Rezeptwissen zum »richtigen« Umgang damit geben. Die Strukturen, die Diskriminierung ermöglichen, reproduzieren und fördern, können nur dann angegangen und verändert werden, wenn sie auch für Nicht-Betroffene sichtbar und so als gesamtgesellschaftliches Problem erkannt werden. Dafür braucht es einen Raum, in dem Betroffene ihre Erfahrungen und Perspektiven teilen können. Einen Raum, in dem Verbündete Stellung beziehen und Unterstützung leisten. Einen Raum, in dem Diversität der Normalfall und nicht die Ausnahme ist. Klasse(n)Gedanken soll zu einem solchen Raum werden.

Du kannst mit einem Gastbeitrag dabei helfen, vielfältige Perspektiven auf Bildung, Bildungs(un)gerechtigkeit und Antidiskriminierung im Bildungskontext sichtbar zu machen. Alle Infos dazu, mehr Infos zum Projekt und alle bisher erschienenen Beiträge findest du unter www.klassengedanken.com

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46