Zum Inhalt springen

bbz 03 / 2019

Ein Schreibtisch voller Vorgänge

Die Situation in den Jugendämtern ist unverändert katastrophal. Wie sieht soziale Arbeit unter diesen strukturellen Zwängen aus? Unsere Autorin gewährt einen szenischen Einblick

Eine Mitarbeiterin kommt aus dem Urlaub und geht an den Schreibtisch. Ich nenne sie mal Ruth. Sie guckt in den Computer: 112 E-Mails und 24 Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Sie sichtet und hört ab.

Ruth hat heute keine Termine. Wie beim Zeitmanagement-Seminar gelernt, fertigt sie eine To-Do-Liste mit Zeitpuffer an. Darauf stehen Aufgaben, die für die Kosten-Leistungs-Rechnung und die Statistik relevant sind: Stellungnahmen ans Familiengericht, mit Absendevermerk! Dazu natürlich: die passende Statistik. Und die Beendigung von Kinderschutz-Erstchecks, selbstverständlich mit der passenden Statistik. Ruth ist gut erholt, motiviert und optimistisch, heute viel zu erledigen.

Selbstverständlich ist der Schreibtisch voller Vorgänge, die sich während des Urlaubs angesammelt haben. Dazu muss man wissen: Es kann nur in akuten Kinderschutzfällen vertreten werden. Alles andere bleibt liegen. Damit sie keine Zeit verliert, wimmelt sie den Kollegen ab, der sich gerne mit ihr bei einer Tasse Kaffee über den vergangenen Urlaub unterhalten will. Sie macht sich fröhlich ans Werk.

Das Unausweichliche passiert. Der normale Alltag bricht über Ruth herein: Träger XV ruft an und freut sich, dass Ruth wieder da ist. Die Hilfekonferenz steht an. Ruth schließt sich mit den Eltern, der Vormünderin und dem Kinderpflegedienst wegen eines Termins kurz.

Zurück zu Punkt 1 der To-Do-Liste: der Stellungnahme. Aber … Mutter F. ruft an und berichtet, dass der 15-jährige Johnny schon seit ein paar Tagen verschwunden ist. Ruth rät ihr, bei der Polizei eine Vermisstenanzeige zu stellen. Ein Anruf bei der Familienhelferin ergibt: In der Familie geht es derzeit drunter und drüber, und das Stundenkontingent ist schon so gut wie aufgebraucht. Ruth meldet sich für das Hilfekonstruktteam an, um die Erhöhung der Stundenzahl mit den Vorgesetzten zu besprechen. Weiter geht es mit der Stellungnahme ans Gericht … Da kommt ein leicht angetrunkener, höchst aggressiver Vater ins Büro und schreit Ruth an. Die Mutter seiner Kinder lässt keinen Umgang zu. Der Vater wittert ein Komplott! Nach einigen lautstarken verbalen Entgleisungen gelingt es Ruth den Vater mithilfe einer Kollegin des Zimmers zu verweisen. Ruth atmet tief durch.

Weiter geht’s! Aber nicht lange … Da kommt ein Fax von einer Grundschule. Clementine hat sich der Sportlehrerin anvertraut, die Mutter habe sie mit einem Gürtel geschlagen. Die blauen Flecken am Arm könnten aber auch beim Spielen entstanden sein. Clementine habe gesagt, die Mutter habe sie schon häufiger geschlagen. Ruth ruft an. Die Lehrerin weiß nicht, was sie davon halten soll: »Die Mutter ist eine so adrette, freundliche Frau. Es gab vorher nie Probleme oder Hinweise auf Gewalt.« Was tun? Ruth bespricht sich mit einem Kollegen und macht einen Hausbesuch. Niemand öffnet.

Ruths Vertretungskollegin muss ihre Tochter sofort aus der Schule abholen. Verdacht auf Armbruch. Ruth muss alle Termine für die Kollegin absagen. Kann aber nicht alle erreichen. Später sind mehrere Klient*innen der Kollegin da und regen sich darüber auf, dass sie nun umsonst gekommen sind.

Die Teamleiterin informiert Ruth, dass gegen sie eine Dienstaufsichtsbeschwerde eingereicht wurde. Familie K. ist nicht einverstanden, dass die Haushaltshilfe abgelehnt wurde. Ruth muss sich dazu schriftlich äußern. Ach ja: möglichst bald natürlich!

Die Kinderschutzambulanz meldet, dass Familie Z. den Folgetermin nicht eingehalten hat. Das kommt auf die To-Do-Liste.

Das Familiengericht möchte innerhalb von zwei Wochen eine Stellungnahme zum Antrag von Vater P. Hoppla, das wäre ja vorgestern gewesen!

Ruth fällt wieder Clementine ein. Sie versucht, die Mutter telefonisch zu erreichen. Niemand da!

Frau B. kommt in wehenden Kleidern vorbei: »Es ist doch immer dasselbe mit dem Vater. Er hat Sara nicht von der Kita abgeholt. Dabei sollte sie doch zwei Wochen bei ihm bleiben. Ich will doch morgen in den Urlaub fliegen! Ohne Sara! Ich habe ein Recht auf Selbstverwirklichung! Regeln Sie das!«

Träger QR meldet sich: Es gibt immer noch keinen Bescheid für Billies Betreuungshilfe, dabei läuft diese schon seit vier Monaten. Ruth entschuldigt sich, überprüft alles und kontaktiert die Wirtschaftliche Jugendhilfe. Die Kollegin freut sich schon, Ruth zu sprechen, denn der Antrag von Familie Z. fehlt. – Bitte schnellstmöglich einscannen und in der Datenbank hinterlegen!

Ruth ruft wieder die Stellungnahme auf. Aber ... die Mitarbeiterin einer Mutter-Kind-Einrichtung teilt mit, dass sie nicht glaubt, dass die Mutter L. ihr Kind jemals alleine versorgen könnte. Vielleicht ist das Kind ja doch besser in einer Erziehungsstelle aufgehoben? Ruth meldet sich für das Fallteam an, damit dies in einer größeren Runde auch mit externen Fachleuten besprochen werden kann. Das ist die Voraussetzung für eine Veränderung der Hilfe.

Die Regionalleiterin erinnert Ruth an die überfällige Bearbeitung der Liste mit den Statistikfehlern. Werden die Fehler nicht behoben, werden die Leistungen nicht gezahlt. So einfach ist das! Dadurch verliert das Amt viel Geld. Die Listen sind megawichtig. Und eilig!

Die Stellungnahme für das Gericht ist inzwischen schon so gut wie vergessen. Zwischen der ganzen Post entdeckt Ruth ein Schreiben der Polizei. Ruth soll zu einer Vernehmung kommen. Mutter V. hat Ruth wegen Verleumdung angezeigt. Ruth ist verwirrt. Eine Kollegin rät ihr, sich einen Rechtsanwalt zu nehmen, der Akteneinsicht beantragt. Aber wer soll den bezahlen?

Die Klassenlehrerin von Clementine ruft an und ist besorgt. Auch sie kann die Mutter nicht erreichen.
E-Mails, Fax, Telefonanrufe, unangemeldete Besuche von Klient*innen. Alles hat einen ernsten Hintergrund. Das Gegenüber erwartet meistens sofortige Hilfe, Unterstützung, Beratung oder Lösung eines Problems. Das ist Ruths Alltag.

Am Ende steht Ruth da: von der Urlaubserholung ist nichts mehr übrig. Die Haare sind zerzaust. Die Urlaubsbräune längst verblasst. Ruth hat Kopfschmerzen und stellt fest: »Glaubt man der Kosten-Leistungs-Rechnung und Statistik habe ich heute gar nicht gearbeitet.«

Wir wollen Sie nicht schocken, oder gar jammern!

Dieser Sketch soll Ihnen verdeutlichen, wie es uns Mitarbeiter*innen des Regionalen Sozialpädagogischen Dienstes geht.

Uns geht es wie Ruth. Wir sind die, deren Bilder immer mal wieder in der Öffentlichkeit auftauchen, weil wir ein Kind nicht vor Gewalt und Missbrauch geschützt haben – wie manchmal behauptet wird: weil wir lieber Kaffee trinken. Wir werden angeprangert, weil wir »guten« Eltern mir-nichts-dir-nichts die Kinder wegnehmen. Zwischen den Extremen – Kaffee trinken und in Obhut nehmen – machen wir eine ganze Menge. Wir wollen Sie nicht mit düsteren Bildern von Kindersärgen und der Sorge, schon mit einem Bein im Knast zu stehen, schocken. Oder gar jammern.

Ich will verdeutlichen, was wir täglich tun und was wir wert sind. Wir sind überlastet. Das hat sich inzwischen auch rumgesprochen. Das ist ja in letzter Zeit auch häufiger in den Medien zu lesen oder zu sehen. Aber: Die meisten von uns stehen voll hinter ihrer Arbeit.

30 Wochenstunden für 65 Familien

Wir entscheiden uns täglich bewusst dafür, Verantwortung für junge Menschen zu übernehmen und sie auf ihrem Lebensweg zu unterstützen. Wir freuen uns über jedes einzelne Kind oder jeden Jugendlichen, dessen Chancen wir verbessert haben. Wir sind dankbar für alle Eltern, die unsere Hilfe annehmen und umsetzen. Wir arbeiten gerne mit anderen Menschen zusammen. Wir sind gut ausgebildet. Wir sind kreativ. Wir sind belastbar. Aber wir sind auch immer am Limit. Wir gehen oft krank arbeiten, weil wir Angst haben, nicht mehr hinterher zu kommen. Dadurch werden einige von uns richtig krank und fallen dann dauerhaft aus.

Wir verlangen eine deutlich bessere personelle Ausstattung, um die Fallzahlen zu verringern. Ich bin beispielsweise mit 30 Wochenstunden für etwa 65 Familien, oft mit mehreren Kindern und vielen Problemlagen, zuständig. Außerdem erwarten wir eine deutlich bessere Bezahlung. Diese Forderung ist aufgrund des Anforderungsprofils und der immensen Verantwortung, die wir tragen, mehr als angemessen. Und klar, dies würde auch die Attraktivität der Arbeit steigern und die Chancen erhöhen, dass freie Stellen besetzt werden können.

Wir brauchen genug Platz, um ungestörte Gespräche mit Familien und dem Helfersystem zu führen. Wir wünschen uns eine gute technische Ausstattung, damit unsere Abläufe effizienter werden. Und wir wollen eine bessere rechtliche Absicherung. Es kann nicht sein, dass wir bei juristischen Problemen alleine dastehen. Wir freuen uns sehr über Ihre Solidarität. Sie sind bei unseren Aktionen und Kundgebungen, mit denen wir auf unsere Situation aufmerksam machen und Forderungen stellen, sehr herzlich willkommen!