Schwerpunkt „Am Limit. Psychische Belastungen am Arbeitsplatz“
Ein Yogakurs ist nicht genug
Die Sorge für das psychische Wohlbefinden am Arbeitsplatz ist nicht nur eine individuelle Aufgabe. Unternehmen haben im Rahmen des Arbeitsschutzes die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass Belastungen verringert und hilfreiche Lösungen gefunden werden.
Seit Monaten fühlt W. sich erschöpft, traurig, resigniert. Sie geht dennoch zur Arbeit, verantwortungsbewusst wie immer. Der Fachkräftemangel macht es nicht leicht, mal einen Tag auszuruhen. Was kann sie daran ändern? Vielleicht bräuchte sie ein Yoga-Wochenende an der See, einen Pilates-Kurs. Sie sollte regelmäßig Sport machen. Dafür gibt es in ihrem Unternehmen über die Betriebliche Gesundheitsförderung sogar ein Angebot. Doch dafür hat sie keine Energie mehr. Was kann sie bei all dem Stress tun, um sich zu erholen? Und ist dem Problem so beizukommen?
Woher die Belastung kommt
Die eigenen Bemühungen sind wichtig, um wieder Kraft zu schöpfen, doch sie ändern wenig an der Gesamtsituation. Ursachen werden nicht bekämpft. Vielleicht entsteht W.s Belastung dadurch, dass Verantwortlichkeiten nicht gut geregelt sind. Vielleicht wurde sie in die neue Software nicht eingearbeitet und kämpft deshalb täglich mit denselben Problemen. Das frisst Zeit und Energie. Sie hat seit Jahren befristete Verträge, die sehr kurzfristig verlängert werden und kein gutes, unterstützendes Team. Eine individuelle Lösung hilft da kaum. Notwendig ist es, alle Belastungen, die W. an ihrem Arbeitsplatz erfährt, zu erfassen und Abhilfe zu schaffen.
Der Arbeitgeber muss die Arbeit so gestalten, dass eine Gefährdung für das Leben sowie die physische und psychische Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst geringgehalten wird.
Was eine psychische Belastung ausmacht
Psychische Belastungen entstehen auf verschiedenen Ebenen. Auf der Ebene der Arbeitsinhalte und Arbeitsaufgaben können sie beispielsweise aus Zeit- und Termindruck oder Entscheidungsanforderungen ohne ausreichende Informationsgrundlage resultieren. Strukturelle Veränderungen oder unklare Kompetenzregelungen können auf arbeitsorganisatorischer Ebene Belastungen erzeugen. Eine wichtige Rolle für unser Wohlbefinden am Arbeitsplatz spielen die sozialen Beziehungen. Konflikthafte Arbeitsbeziehungen zu Vorgesetzten und Kolleg*innen, ein schlechtes Betriebsklima tragen ebenfalls dazu bei, dass wir uns belastet fühlen. Hinzu kommt die Arbeitsumgebung. Als Beispiel sei der Lärm in mancher Kita genannt, der nicht einfach zum Job dazu gehört. Vielmehr muss der Arbeitgeber dafür Sorge tragen, dass diese Belastung so gut wie möglich reduziert wird. Das kann durch technische Maßnahmen wie den Schallschutz, organisatorische Maßnahmen wie Raumnutzungskonzepte oder, wenn all das nicht greift, persönliche Maßnahmen wie den individuellen Gehörschutz geschehen. Der Grundsatz des Arbeitsschutzes, erst technische Lösungen zu suchen, dann organisatorische und erst an letzter Stelle individuelle (T-O-P) gilt hier.
Ein weiterer Bereich, in dem Belastungen entstehen können, wird unter dem Begriff der neuen Arbeitsformen zusammengefasst. Zu nennen ist das häufig ungeregelte Homeoffice einschließlich permanenter Erreichbarkeit, ebenso befristete Verträge und die Zeitarbeit.
Der Arbeitgeber in der Verantwortung
Der Arbeitgeber ist verpflichtet, diese Belastungen mittels einer Gefährdungsbeurteilung zu erfassen und für Abhilfe zu sorgen. Bei ihm liegt die Verantwortung für den Schutz seiner Mitarbeitenden. Den Weg muss er jedoch zusammen mit dem Betriebsrat gehen. Der hat weitreichende Mitbestimmungsrechte im Gesundheits- und Arbeitsschutz. Insoweit wie es keine zwingenden Vorgaben dazu gibt, wie das Schutzziel zu erreichen ist, hat der Betriebsrat eine Mitbestimmung bei der Ausgestaltung des Verfahrens und der umzusetzenden Maßnahmen. Betriebsinterne Regelungen in Form einer Betriebsvereinbarung sind daher notwendig und sinnvoll. Das gilt auch, wenn der Arbeitgeber eine Fremdfirma mit der Umsetzung beauftragen will. Die rechtlichen Grundlagen dafür finden sich im Betriebsverfassungsgesetz.
Gemeinsam einen Prozess entwickeln
Zunächst einmal muss das Verfahren beschrieben werden, wer daran beteiligt ist, wie es organisiert und umgesetzt wird und wie Maßnahmen festgelegt werden. In der resultierenden Vereinbarung wird außerdem festgehalten, wie Arbeitgeber und Betriebsrat Streitigkeiten, beispielsweise hinsichtlich der Wahl der Maßnahmen, lösen. Außerdem ist der Umgang mit den erhobenen Daten zu regeln, sodass die Vorgaben des Datenschutzes eingehalten und die Anonymität der Befragten gewährleistet werden kann.
Arbeitgeber und Betriebsrat entwickeln also einen Prozess, der kontinuierlich durchlaufen wird. Zunächst werden die Gruppen der Mitarbeitenden festgelegt, die befragt werden sollen. Sinnvoll ist es, nach Tätigkeitsgruppen zu clustern. Denn die Hauswirtschaftskräfte in der Kita haben vermutlich andere Belastungen als Erzieher*innen oder Leiter*innen. Diese Gruppen werden anonym befragt. Sollte die Gruppe der Hauswirtschaftskräfte zu klein sein, um Anonymität in einer Befragung zu gewährleisten, findet ein Workshop zur Erhebung der Belastungen ohne Leitungskräfte statt. Die Ergebnisse werden beispielsweise von einem paritätisch aus Arbeitgeber und Betriebsrat besetzten Gremium – gegebenenfalls mit Unterstützung eines externen Dienstleisters – bewertet. Die befragten Mitarbeiter*innen erhalten die Ergebnisse und erarbeiten gemeinsam Maßnahmen. Einige Monate später werden die Mitarbeiter*innen befragt, ob die Maßnahmen umgesetzt wurden und zu einer ausreichenden Entlastung geführt haben. Ist das nicht der Fall, bedarf es weiterer Maßnahmen, die dann umgesetzt werden. In ein paar Jahren beginnt der Kreislauf von vorn.
Stolpersteine umgehen
Soweit die Theorie. In der Praxis gibt es einige Stolpersteine. Besonders wichtig ist es, die Gruppen der Mitarbeitenden so gut zu clustern, dass mit den Ergebnissen sinnvoll weitergearbeitet werden kann. Um möglichst genaue Ergebnisse zu bekommen, sollten die Einrichtungen einzeln befragt werden. Dann kann es bei sieben Kolleg*innen in einer Wohngemeinschaft jedoch schwierig werden, die Anonymität zu wahren. Zwei Kolleg*innen sind zum Zeitpunkt der Befragung im Urlaub, eine*r ist krank und schon ist leicht zu erkennen, wer was geschrieben hat. Mehrere Wohngemeinschaften dagegen zusammen zu befragen, kann dazu führen, dass die Ergebnisse nicht eindeutig zuzuordnen sind. Wessen Führungskraft war gemeint oder wessen Räume, wo ist es laut und wo werden die Klient*innen als besonders herausfordernd wahrgenommen? Befragungen sind in großen Einrichtungen ein sinnvolles Instrument. Kleinere Einrichtungen benötigen andere Instrumente, wenn die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen mehr leisten soll, als den Vorgaben des Gesetzgebers Genüge zu tun.
Für kleinere Einrichtungen bieten sich Instrumente wie die Arbeitssituationsanalyse an, mit der Belastungen erfasst und Maßnahmen erarbeitet werden können. Die Berufsgenossenschaft für Gesundheit und Wohlfahrtspflege (BGW) bietet dieses Instrument an und stellt auch Moderator*innen, die Arbeitssituationsanalysen in den Unternehmen durchführen.
Maßnahmen finden
Ein weiterer Stolperstein auf dem Weg zu hilfreichen Maßnahmen liegt an der Stelle, wo aus den Befragungsergebnissen Maßnahmenideen entstehen sollen. Das können und sollten Einrichtungsleitungen allein nicht leisten. Es ist ein komplexes Thema und selbst die Darstellung der Ergebnisse ist nicht immer selbsterklärend. Es braucht also Unterstützung durch kompetente Kolleg*innen, beispielsweise aus dem Arbeitsschutz. Diese moderieren einen Workshop mit den Kolleg*innen im befragten Bereich und erarbeiten dort Maßnahmen. Die werden dann mit der Führungskraft besprochen. Wenn es keine Einwände gibt, werden sie in einem Maßnahmenplan festgehalten und umgesetzt. Das ist in manchen Einrichtungen oder Unternehmen mangels Personals und Zeit jedoch derzeit nicht umsetzbar. Plan B könnte die Dienstbesprechung sein. Hier kann im Team besprochen werden, welche Maßnahmen für alle wichtig sind.
Von der Vereinbarung in die Praxis
Generell muss das Verfahren, mit dem Belastungen erfasst und reduziert werden, sehr individuell und passend zum Unternehmen gestaltet werden. Was sich die Betriebsparteien Arbeitgeber und Betriebsrat am Verhandlungstisch überlegen, ist hinterher nicht immer eins zu eins umsetzbar und braucht eventuell später Anpassungen. Hilfreich ist es, in die Verhandlungen möglichst viele Beteiligte einzubinden und so Fehler von vornherein zu vermeiden. Abläufe, die nicht gut funktionieren oder Maßnahmen, die nichts bringen, führen dazu, dass sich beim nächsten Mal weniger Kolleg*innen an der Befragung beteiligen.
Denn wir alle bekommen viele Mails am Tag, die wir, wenn es nicht dringend und wichtig ist, schnell vergessen. Hinzu kommen Stress und Zeitdruck durch den Fachkräftemangel. Schon ist die Bitte, an einer freiwilligen Befragung teilzunehmen, unter der Mailflut begraben.
Gute Öffentlichkeitsarbeit ist essenziell
Die Kolleg*innen müssen genau wissen, worum es bei der Gefährdungsbeurteilung geht, und die Befragung sollte idealerweise bereits im ersten Durchlauf eine Erfolgsgeschichte sein. Betriebsversammlungen oder Mitarbeiter*innenversammlungen bieten sich als Podium für die Vorstellung des Verfahrens an. Flyer oder der direkte Kontakt zu Kolleg*innen können helfen, die Botschaft zu verbreiten. Doch wesentlich für den Erfolg sind das Interesse und die Unterstützung durch die Geschäftsführung. Denn sie kann auf den Leitungsebenen dafür sorgen, dass die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen im Gespräch bleibt und als wichtig wahrgenommen wird.
W. als Mitarbeiterin muss spüren, dass Befragung und Maßnahmen einen Unterschied machen. Anderenfalls landet die Nachricht spätestens beim nächsten Mal gleich im Papierkorb und es wird schwieriger, zur Teilnahme zu motivieren. Notwendige Veränderungen an W.s Arbeitsplatz müssen zügig umgesetzt werden, bevor es zu spät und sie nicht mehr arbeitsfähig ist.