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Schwerpunkt „Perspektiven schaffen – wie weiter nach der zehnten Klasse?“

Eine ambivalente Erfolgsbilanz

Am OSZ Logistik, Touristik und Steuern gibt es bereits seit zehn Jahren den Bildungsgang Integrierte Berufsausbildungsvorbereitung (IBA), jetzt IBA Klassik genannt. Ein Erfahrungsbericht.

Foto: Bertolt Prächt

Es ist Dienstagmittag. Mein BoP-Unterricht (Betriebsorientierung und Praxis), Lernfeld 1, beginnt in meiner IBA-Klasse. 16 Schüler*innen mit zehn unterschiedlichen Herkunftssprachen sitzen um einen langen Tisch und konzentrieren sich circa fünf Minuten auf ihren Atem. Wir machen diese Atemübung immer vor Beginn des Unterrichts, weil es die Schüler*innen beruhigt und auf das Kommende fokussiert. Nicht immer gelingt es ihnen, weil sie neben den Unterrichtsinhalten viele, zum Teil existentielle Probleme haben. Auch Anna gehört zu ihnen, eine gerade 18-jährige Geflüchtete aus der Ukraine, deren Eltern mit den jüngeren Geschwistern in der Ukraine blieben, der Vater kämpft an der Front. Sie erhält seit über einem Monat keine Sozialhilfe und kann nun ihre Miete nicht bezahlen. Unser Schulsozialarbeiter, der sich ihrer annimmt, findet eine betreute Wohngelegenheit für junge Erwachsene für sie. Amin, ein 18-jähriger unbegleiteter syrischer Geflüchteter, kommt oft zu spät zum Unterricht. Wenn er nicht zu einem der vielen Ämtertermine gehen muss, vergisst er häufig seine Zeit bei unserer Bildungsbegleiterin, die in unserem durchgetakteten Schulalltag etwas mehr Zeit für die individuellen Bedürfnisse der einzelnen Schüler*innen hat als wir Lehrkräfte. 

 

»Wir haben uns für IBA entschieden«

 

Der einjährige Bildungsgang Integrierte Berufsausbildungsvorbereitung (IBA) ist seit Oktober 2019 ein freiwilliger Regelbildungsgang mit einem eigenen Curriculum, der sich in den Oberstufenzentren Berlins etabliert und professionalisiert hat. Das Ziel von IBA ist vor allem die Vermittlung in eine duale Ausbildung oder direkt in eine Arbeitstätigkeit. Allgemeinbildende Abschlüsse wie Mittlerer Schulabschluss (MSA), erweiterte Berufsbildungsreife (eBBR) oder Berufsbildungsreife (BBR) zu erreichen, ist aber zusätzlich möglich. 

Am Oberstufenzentrum Logistik, Touristik und Steuern (Lotis), das sich bereits im Schuljahr 2013/14 mit einer Mehrheit des Fachbereichs Berufsvorbereitung für das Pilotprojekt IBA entschied, hat die 2019 verfügte IBA-Verordnung längst Eingang in alle jahrgangsspezifischen Organisationsroutinen gefunden: Die Klassen werden von bewährten Klassenteams unterrichtet und in enger Zusammenarbeit von einem Schulsozialarbeiter, zwei Bildungsbegleiterinnen und einer Vertreterin der Jugendberufsagentur unterstützt. Dieses multiprofessionelle Team trifft sich alle zwei Wochen zu Bildungsgang-Teamsitzungen, die von der Bildungsgang- und Abteilungsleitung vorbereitet werden. Die Teamsitzungen werden den Lehrkräften mit einer Wochenstunde im Stundenplan angerechnet. Sie bieten die absolut notwendige und überaus erfolgreiche Grundlage des Bildungsganges IBA am OSZ Lotis. Hier ist immer Raum für Austausch und Wertschätzung. 

Nach mehr als zehn Jahren Erfahrung mit dem Schüler*innenklientel der Integrierten Berufsausbildungsvorbereitung am OSZ Lotis müssten wir Lehrkräfte feststellen: Bildungsgang IBA erfolgreich implementiert – alles richtig gemacht – weiter so!

 

Die Abschlussfixierung erschwert die Orientierung

 

Leider ist dem aber nicht so. Immer noch wissen wir nicht genau, wie viele Jugendliche nach Beendigung des Bildungsganges IBA erfolgreich in einer Bildungsmaßnahme oder einer Berufsausbildung einen Anschluss finden. 

Die Abschlusszahlen der letzten Jahre zeigen kaum große Schwankungen im Bildungserfolg. Im Schnitt besuchen um die 100 Schüler*innen unsere IBA, rund die Hälfte erhält ein Abschlusszeugnis, circa 25 Prozent erhalten den MSA und 5 bis 10 Prozent den eBBR.

Trotz intensiver Nachbetreuung durch unsere Schulsozialarbeiter*innen und die Bildungsbegleiter*innen haben wir oft keine Informationen über den weiteren Berufsweg unserer Schüler*innen. Nur selten melden sich einzelne mit einer Erfolgsgeschichte.

Der Elternwille, ihre Kinder mit einem höheren Schulabschluss den Bildungsgang verlassen zu sehen, besteht fort. Intensive Elternarbeit auf den Elternabenden, in vielen Elterngesprächen, konnte nicht verhindern, dass die »Abschlussfixierung« der Eltern und ihrer Kinder der stärkste Motivator bleibt, den Bildungsgang IBA zu besuchen. Dabei bleibt die größte schulische Herausforderung, die Diskrepanz der Schüler*innen zwischen ihrer Eigenwahrnehmung und der Fremdwahrnehmung aufzulösen, damit sie eine realistische Einschätzung ihrer berufsrelevanten Kompetenzen vornehmen können. Denn nur diese realistische Einschätzung verspricht eine reelle Chance auf einen beruflichen Anschluss.

Hier fällt uns Lehrkräften der Kern des deutschen Bildungssystems auf die Füße: Lehrkräfte sind vor allem darin qualifiziert, Schüler*innen auf einen Abschluss vorzubereiten.

 

Es gibt eine Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung

 

Um diese manifesten Hürden bearbeiten zu können, brauchen wir Kolleg*innen Zeit. Zeit, die die zweiwöchentlichen Teamsitzungen nicht bieten und der Schulalltag mit seinen zunehmenden Aufgaben schon gar nicht.

Eine weitaus größere Herausforderung ist jedoch die Heterogenität unserer Schüler*innen. Ihre individuellen Förderbedarfe sind deutlich vielfältiger geworden. Sie brauchen nach fast zweieinhalb Jahren Corona-Pandemie umfangreiche Alltags- und Lebenshilfe und weisen große Lücken in schulischen Kernkompetenzen wie lesen, schreiben, rechnen auf. Berufsvorbereitung oder gar der erfolgreiche Abschluss eines Ausbildungsvertrages bleibt für viele unerreichbar. 

Eine weitere Herausforderung sind die aus den Willkommensklassen aufwachsenden Schüler*innen, die zwar ihre Zeit sinnvoll und mit individuellem Lernerfolg in den Klassenstufen gemeistert haben, allerdings in der Regel nicht ausreichende Deutschkenntnisse besitzen, um beispielsweise erfolgreich an einem Berufsschulunterricht teilzunehmen oder gar um die Abschlüsse des deutschen Bildungssystems zu erreichen. 

 

Vieles bleibt offen, unerledigt

 

Festgehalten werden kann: Der Bildungsgang IBA Klassik ist zwar im OSZ Lotis angekommen, für uns Lehrkräfte ist jedoch die Erfolgsbilanz ambivalent. Die Anschlussquote lässt noch zu wünschen übrig, vor allem aber bleibt so viel zwischen uns Lehrkräften und diesen Schüler*innen »offen«, »unerledigt«.

Für unsere Schüler*innen ist das OSZ Lotis weit mehr als nur eine Schule. Sie fordern uns nicht nur als Lehrkräfte, als Bildungsbegleitung, sondern vielmehr als persönliche, emotionale Bezugsperson, mit Interesse und Kraft für ihre individuellen Bedürfnisse und Belange. Das kann ich als Lehrkraft nicht kontinuierlich leisten. Ich unterrichte noch in anderen Bildungsgängen, wie zum Beispiel im beruflichen Gymnasium und muss auch diese Schüler*innen im Blick behalten, damit sie erfolgreich ihr Abitur abschließen.

Was wünsche ich mir für diesen besonderen Bildungsgang? Dass ich den Schüler*innen die Aufmerksamkeit, Unterstützung und emotionale Zugewandtheit geben kann, die sie brauchen, um einen verlässlichen Bildungserfolg erzielen zu können – aber mit 26 Stunden Unterrichtsverpflichtung ist das illusorisch!