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bbz 10 / 2015

Eine bittere Pille

Die rechtliche Situation und grundlegende organisatorische Fragen rund um die regelmäßige Medikamentengabe an Kitas und Schulen sind ungeklärt.

Die Gabe von Medikamenten durch ErzieherInnen und Lehrkräfte an Kinder und Jugendliche in pädagogischen Einrichtungen in Berlin ist in der letzten Zeit immer wieder zu einem brisanten Thema geworden. Die rechtliche Lage ist nicht eindeutig geklärt und bietet daher viele verschiedene Interpretationsmöglichkeiten. Eines aber ist klar: Es steht in keinem Gesetz, dass PädagogInnen Medikamente verabreichen dürfen oder müssen. Die Medikamentengabe gehört nicht zu den Dienst- und Arbeitspflichten von ErzieherInnen und Lehrkräften. Sie kann nur freiwillig erfolgen und möglichst nur unter Beachtung einiger Regularien.

Versicherung bietet nur scheinbar Sicherheit

Tatsache ist, dass viele PädagogInnen tagtäglich Medikamente ausgeben, auch wenn für sie keine Verpflichtung besteht. Ihre Einrichtungen erwarten es jedoch häufig. Problematisch wird es in dem Moment, in dem etwas schief geht. Grundsätzlich besteht zwar ein gewisser Versicherungsschutz der Kinder und Jugendlichen durch die Unfallkasse, der das Risiko einer Haftung durch die PädagogInnen reduziert. Hierbei handelt es sich aber nur um eine scheinbare Sicherheit. Denn wenn die Medikamentengabe vergessen wird und das betroffene Kind einen Schaden dadurch davon trägt, besteht der Versicherungsschutz nicht. Auch wenn Medikamente fehlerhaft verabreicht wurden und ein Personenschaden entsteht, greift der Versicherungsschutz für die betreuende Person nur dann, wenn ihr Handeln nicht als »grob fahrlässig oder vorsätzlich« eingestuft wird.

Ob ein Handeln als grob fahrlässig oder vorsätzlich einzustufen ist, entscheiden im Zweifelsfall die Gerichte. Das Problem ist, dass ein Handeln schneller als grob fahrlässig eingestuft werden kann, als vielleicht allgemein angenommen. Bei einem Autounfall wäre dies beispielsweise der Fall, wenn vergessen wird, die Unfallstelle mit dem vorhandenen Warndreieck zu sichern und weitere Personen dadurch zu Schaden kommen. In Schock- oder Stresssituation kann dies passieren. Und Kita und Schule sind stressige Orte.

Grundsätzlich kann die betreuende Person, die Medikamente verabreicht, haftbar gemacht werden. Der Arbeitgeber entlastet PädagogInnen nicht und entstehende Kosten müssen selbständig getragen werden.

Mitglieder der GEW BERLIN können sich, wenn sie mit einer Schadensersatzforderung oder Ähnlichem konfrontiert sind, an die Rechtsschutzstelle der GEW BERLIN wenden.

Bisher keine Verbindlichkeit des Senats

Bis jetzt gibt es in Berlin zu diesem Thema keine rechtsverbindliche Aussage der Senatsbildungsverwaltung. Eine Handreichung ist in Arbeit und wird hoffentlich nicht nur eine eindeutige Rechtssicherheit beinhalten, sondern auch die organisatorischen Schwierigkeiten in den Schulen berücksichtigen. Die Handreichung soll ähnlich der, die in Hamburg bereits existiert, die Lehrkräfte verpflichten, Kinder an die Gabe der Medikamente zu erinnern. Die Gabe von Medikamenten soll weiterhin freiwillig bleiben.

Aktuell wird die Medikamentengabe in jeder Kita und jeder Schule anders gehandhabt. In vielen Kindertagesstätten werden Medikamente gegeben. Einzelne Träger benutzen einen Leitfaden zur Verabreichung von Medikamenten. Die Entscheidung »Medikamentengabe ja oder nein?« treffen sie mehr oder weniger für ihre Angestellten. Hier wird zumindest ver-sucht, die organisatorischen Fragen zu klären, wobei die Rechtsunsicherheit und das Risiko für die ErzieherInnen bleiben.

Auch an Grundschulen und an den Förderzentren werden Medikamente verabreicht. An weiterführenden Schulen erfolgt die Medikamentengabe aber noch eher in Ausnahmefällen. Einige Schulleitungen lehnen sie auch grundsätzlich ab. An manchen Schulen wurden PädagogInnen sogar schon durch die Schulaufsicht angewiesen, Medikamente zu geben. Dies ist aber definitiv nicht zulässig.

Jedes achte Kind ist chronisch krank

Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden an Krankheiten. Mindestens jedes achte Kind hat eine chronische Krankheit, dazu zählen Asthma, Neurodermitis, Allergien, Depressionen oder ADHS. In vielen Fällen machen diese Krankheiten die regelmäßige Gabe von Medikamenten notwendig. Damit alle Kinder so uneingeschränkt wie möglich gemeinsam in die Kita oder Schule gehen können, muss die Gabe von Medikamenten organisiert und rechtlich geklärt werden. Zurzeit lastet dieses Problem größtenteils auf den Schultern der Eltern und derjenigen PädagogInnen, die mit den betroffenen Kinder und Jugendlichen arbeiten. Bevor eine PädagogIn sich jedoch zur Medikamentengabe bereit erklärt, sollte sie alle Risiken gründlich bedenken.

Auf die rechtlichen Schwierigkeiten, wenn ein Medikament vergessen, falsch dosiert oder gar ein falsches Medikament gegeben wurde, haben wir bereits hingewiesen. Abgesehen von der schwierigen Rechtslage stellen sich jedoch auch noch Dutzende von organisatorischen Fragen. Wie wird die Vertretung der verantwortlichen Person geregelt? Wie wird die sachgemäße Lagerung der Medikamente organisiert?

Viele Medikamente müssen im Kühlschrank gelagert werden, dürfen aber auf keinen Fall gemeinsam mit Lebensmitteln aufbewahrt werden. Wo sind sie problemlos zu erreichen, ohne dass Kinder und Jugendliche Zugang haben? Wer überprüft die Haltbarkeit?

Viele Fragen sind nicht mal ansatzweise geklärt. Die Senatsbildungsverwaltung wälzt hier auf beschämende Weise Verantwortung ab. Es wird höchste Zeit, dass sie die rechtliche Lage klärt, ihre Beschäftigten schützt und auch die freien Träger verpflichtet, die dort Beschäftigten zu schützen.

GEW rät ab

Doch auch wenn sich PädagogInnen dann dazu bereit erklären, Medikamente zu geben, müssen – vor allem an den Schulen – überzeugende Konzepte zur Organisation der Medikamentengabe entwickelt und umgesetzt werden. In den Kindertagesstätten gibt es dazu bereits gute Ansätze. So lange weder diese noch eine rechtsverbindliche Handlungsanweisung ausgearbeitet wurden, die uns PädagogInnen schützen, raten wir von der Medikamentengabe, die nicht Aufgabe von Kita oder Schule ist, grundsätzlich ab.

Was aber können wir den Eltern antworten, die uns um Hilfe bitten? Sinnvoll ist in jedem Fall, sie an die Krankenkasse zu verweisen. Hier besteht nach ärztlicher Verordnung und nach Einzelfallprüfung durch die Krankenkasse, die Möglichkeit, einen ambulanten Pflegedienst für die regelmäßige Medikamentengabe zu organisieren (gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V, Häusliche Krankenpflege). Es muss auch geklärt werden, ob das betroffene Kind oder der betroffene Jugendliche nicht vielleicht doch in der Lage ist, die Medikamentengabe selbst durchzuführen.

Mindestschutz ist möglich

Wenn kein medizinisch geschultes Personal die Medikamentengabe übernehmen kann und sich PädagogInnen trotz aller genannten Risiken und Fragen bereit erklären, Kindern oder Jugendlichen Medikamente zu verabreichen, sollten sie einige Dinge zu ihrem Mindestschutz beachten.

Zwischen den Eltern und der pädagogischen Kraft muss eine Einverständniserklärung unterschrieben werden. Diese Einverständniserklärung ist eine Vereinbarung zwischen den Eltern und der einzelnen Person, die sich bereiterklärt hat, die Medikamentengabe durchzuführen. Schule oder Kita können diese persönliche Erklärung nicht abgeben und werden auch keine Haftung übernehmen.

Die Vereinbarung muss die ärztliche Diagnose, sowie präzise Festlegungen zum Zeitpunkt der Anwendung, zur Art der erforderlichen medizinischen Hilfsmaßnahme, zur Lagerung, sowie zur Dosis einzunehmender Medikamente beinhalten. Ebenso sollte geklärt sein, dass bei einmaligem Fortfall oder zeitlichem Verzug der Medikamentengabe nicht von der Folge eines lebensbedrohlichen Zustands auszugehen ist. Auch eine Einweisung durch einen Arzt muss erfolgen.

Für die Dauer dieser Vereinbarung verpflichtet sich die unterzeichnende Person, die in dieser Vereinbarung bezeichneten Aufgaben durchzuführen und somit den Teil der elterlichen Sorge während der Anwesenheit in der Einrichtung zu übernehmen.

Die Schul- oder Kitaleitung muss organisieren, dass bei Abwesenheit der zuständigen Person eine Versorgung durch eine andere Person sichergestellt ist. Die Eltern müssen sich damit einverstanden erklären. Die Abwesenheitsvertretung muss den Inhalt der übernommenen Verpflichtung kennen, ihr ausdrücklich zustimmen und ebenfalls eine Einweisung durch einen Arzt erhalten. Ohne Vertretungsregelung darf die Übernahme einer Verpflichtung zur Medikation nicht erfolgen.


Hilfreiche Links:
www.unfallkasse-berlin.de/sicherheit-und-gesundheitsschutz/schulen/fachthemen/medikamentengabe

https://publikationen.dguv.de/regelwerk/regelwerk-nach-fachbereich/bildungseinrichtungen/schulen/902/medikamentengabe-in-schulen