bbz 11 / 2015
Familienhilfe zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Die Fachkräfte in der Familienhilfe geraten zunehmend an ihre Grenzen. Ein Bericht über die tägliche Arbeit und die Arbeitsbedingungen in den ambulanten Hilfen zur Erziehung.
Familien in Notlagen haben einen gesetzlichen Anspruch auf sozialpädagogische Familienhilfe. Das sichert ihnen das achte Sozialgesetzbuch (SGB VIII) zu. Haben bis in die 1970er Jahre hinein die Sozialämter die Familienhilfe noch selbst organisiert, wird sie heute von Freien Trägern der Jugendhilfe übernommen. Geleistet werden darf diese Arbeit nur von SozialpädagogInnen, PädagogInnen oder PsychologInnen mit Hochschulabschluss. Diese geraten jedoch zunehmend an ihre Grenzen.
Die SozialarbeiterInnen arbeiten in der Regel bei den Familien zu Hause. Bis 2002 gewährten die Jugendämter einen Zeitumfang von neun bis zwölf Stunden wöchentlich pro Familienhilfe. So viele Stunden gibt es heute nur noch in Ausnahmefällen, aktuell wird mit durchschnittlich vier Stunden wöchentlich in den Familien gearbeitet. Die Hilfedauer variiert, ist aber meist auf ein bis zwei Jahre angelegt. Die FamilienhelferInnen ziehen möglichst alle Familienmitglieder in die Planung mit ein und verfassen halbjährlich einen Bericht über den aktuellen Stand der Hilfe an das Jugendamt. Manche Hilfen können schon nach einem Jahr erfolgreich abgeschlossen werden, andere laufen länger. In Ausnahmefällen gehen sie auch bis zu sieben Jahre, wenn eine Familie durch diese Art der Unterstützung stabilisiert werden kann und die Kinder dadurch in den Familien bleiben können.
Beziehungsaufbau braucht Zeit
Weil die Kinder tagsüber in der Kita oder der Schule und manche Familienmitglieder berufstätig sind, liegt die Hauptarbeitszeit von FamilienhelferInnen in der Zeit zwischen 15 und 20 Uhr.
Telefonische Bereitschaftszeiten sind in der Regel nicht vorgesehen, können jedoch im Einzelfall notwendig sein und auch vom Jugendamt verlangt werden. Wir sind auf die Mitarbeit der Familie angewiesen. Um nachhaltige Veränderungen zu erreichen, ist der Aufbau einer tragfähigen Arbeitsbeziehung zwischen FamilienhelferIn und Familie unbedingt erforderlich. Beziehungsaufbau braucht Zeit.
Als »besondere Problemlagen« in den Familienhilfen gelten Familien mit Säuglingen, Familien in Krisensituationen, mit psychisch erkrankten oder suchterkrankten Elternteilen, mit Kindern mit Behinderungen, Schuldistanz und Familien, in denen Gewalt vorkommt. Diese genannten »besonderen Problemlagen« bestimmen in Berlin den Großteil der zu betreuenden Familien.
Erschwerend sind auch Kombinationen aus mehreren Problemlagen in einer Familie. Zunehmend haben wir auch mit materiellen Nöten in den Familien zu tun. Daher kümmern wir uns neben den Hilfen zur Erziehung auch zunehmend um die existenzielle Sicherung, wie die Bewältigung von Mietschulden und die Sicherung von ALG II-Ansprüchen. Weiterhin muss oft der Förder- oder Therapiebedarf von Kindern abgeklärt werden und die Eltern durch Beratung in die Lage versetzt werden, die Grundbedürfnisse ihrer Kinder zu erkennen und zu erfüllen. Immer häufiger müssen wir die Familien auch bei der Suche nach einem Kitaplatz unterstützen.
Ursprünglich klassische Themen der Familienhilfe wie Vermittlung von Ferienangeboten für Schulkinder, Anbindung an soziale und gemeinwesenorientierte Angebote und Jugendfreizeiteinrichtungen oder Hilfe bei der Suche nach Wohnungen sind deutlich zeitintensiver und können zum Teil nicht mehr geleistet werden.
In Berlin wurden in den vergangenen Jahren immer mehr Kultur- und Bildungseinrichtungen geschlossen.
Bezahlbarer Wohnraum ist gerade in den Innenstadtbezirken praktisch nicht mehr vorhanden. Familien in Notlagen, die zudem noch umziehen müssen, stellt dies vor besondere Probleme, die auch SozialarbeiterInnen oft nicht mehr lösen können.
Intensive Gespräche verringern das Risiko
Ist eine Familienhilfe als Kinderschutzfall ausgewiesen, müssen wir ein- bis zweimal wöchentlich die Familie zu Hause aufsuchen. Ist der Kühlschrank ausreichend gefüllt? Hat das Kind Blessuren? Befinden sich häufig fremde Personen in der Wohnung? Hierzu füllen wir den Berliner Kinderschutzbogen aus, was sehr zeitaufwendig ist. Die dazu benötigte Zeit steht für die direkte Arbeit mit den Familien nicht mehr zur Verfügung. Das Risiko für das Kind kann durch intensive Gespräche und Kontakte mit der Familie deutlich verringert werden. Dazu benötigen wir eine entsprechende Ausstattung mit Fallstunden und auch längerfristige Verläufe. Sechs oder gar nur vier Stunden pro Wochen, über ein Jahr verteilt, reichen oft nicht aus.
Stellen wir fest, dass das Kindeswohl ge-fährdet ist, informieren wir das Jugend-amt. In der Regel wird im Rahmen einer Hilfekonferenz, zu der alle am Kind Beteiligten eingeladen werden, ein Schutzkonzept erarbeitet. Eventuell werden auch weitere Maßnahmen angeboten oder veranlasst. Wir SozialarbeiterInnen kontrollieren die Maßnahmen und stehen im engen Austausch mit dem Jugendamt.
Wegen psychischer Belastung arbeiten viele in Teilzeit
Die Stundenzahlen der Familien- und Einzelfallhilfen sind in den letzten Jahren um die Hälfte gesunken.
Im Jahre 2014 betrug der durchschnittliche Stundenumfang in den sozialpädagogischen Familienhilfen nur noch 3,8 Fachleistungsstunden pro Woche. Einige Jugendämter bewilligen fast grundsätzlich nur noch einen einheitlichen Fachleistungsstundenumfang, unabhängig davon, wie die Problemlagen sind, egal, wie viele Kinder in der Familie leben oder ob im Team gearbeitet werden muss. Die Laufzeiten der Hilfen haben sich verkürzt.
Um 40 Stunden pro Woche bezahlt zu bekommen, müssen die KollegInnen bis zu neun Familien betreuen.
Das bedeutet eine hohe psychische Belastung. Diese steigt noch, da oft Dinge parallel erledigt werden müssen: Rückrufe von Ämtern oder Schulen müssen entgegengenommen werden, oft unterwegs oder während der Arbeit in einer anderen Familie. Einige MitarbeiterInnen arbeiten aufgrund der hohen psychischen Belastung in den ambulanten Hilfen daher nur Teilzeit und verdienen sich ihren Lebensunterhalt mit zusätzlichen, weniger belastenden, anderen Tätigkeiten.
Der enge Kontakt zwischen den Fachkräften der Freien Träger und den SozialarbeiterInnen der jeweiligen Regionalen Sozialpädagogischen Dienste der Jugend-ämter (RSD) ist insbesondere im Kinderschutzfall unbedingt notwendig. Denn das Jugendamt hat noch immer die Hauptverantwortung.
Die RSD-MitarbeiterInnen stehen seit Jahren unter einer sehr hohen Arbeitsbelastung. Nicht selten betreut eine KollegIn des Jugendamts mehr als 100 Familien. Daher sind sie für uns SozialarbeiterInnen, die direkt in den Familien arbeiten, oft schlecht erreichbar. Notwendige Absprachen können so nur verzögert getroffen werden.
»Kinderschutz braucht KinderschützerInnen« – unter dieser Forderung fanden im Jahr 2014 und 2015 wiederholt Protestveranstaltungen der RSD statt. Diese Forderung nach besserer personeller Ausstattung unterstützen wir ausdrücklich und übertragen sie gleichzeitig auf unsere Arbeit bei freien Trägern.
Vergleichbare Berufe sind deutlich höher eingruppiert
Die Verdienstmöglichkeiten sind bei den Trägern verschieden, im Allgemeinen wird in Anlehnung an den TV-L (Entgeltgruppe 9) entlohnt. Vergleichbare Berufe mit Hochschulabschluss in anderen Tätigkeitsfeldern sind zwei Stufen und höher eingruppiert. MitarbeiterInnen in den ambulanten Hilfen bekommen Fahrzeiten meist aufgrund fehlender Berücksichtigung in der Berechnung der Fachleistungsstunden nicht vergütet, obwohl die zu betreuenden Familien oft weit voneinander entfernt wohnen. Fahrtzeiten von drei Stunden über den Tag verteilt sind keine Seltenheit.
Prinzipiell wird nur die Zeit bezahlt, welche in den Familien verbracht wird, zuzüglich qualitätssichernder Tätigkeiten, wie zum Beispiel Teamsitzung, Supervision oder Weiterbildung. In Zeiten schlechter Auftragslage von Seiten der Jugendämter besteht eine Unsicherheit für die KollegInnen, die in den Arbeitsverträgen vereinbarte Zeit auch leisten zu können. Daher wird häufig mit sogenannten Sockelarbeitsverträgen gearbeitet: Die Bezahlung einer gewissen Stundenanzahl ist garantiert, im besten Fall 75 Prozent der vertraglichen Arbeitszeit. Bei einer Vollzeitstelle bedeutet dies, dass die dauerhafte durchschnittliche Arbeitszeit bei 40 Stunden liegt, von denen 30 Stunden in jedem Fall, auch bei unzureichender Auftragslage, vergütet werden. Dies bedeutet wiederum ein Risiko für die Träger, die MitarbeiterInnen bezahlen zu müssen, ohne dass diese in den Familien arbeiten können. Es wird bei einigen Trägern zum Ausgleich von Schwankungen für alle Beschäftigten ein Arbeitszeitkonto geführt.
Als Betriebsräte mehrerer Freier Träger der Jugendhilfe haben wir uns im Juli an die Dachverbände gewandt und eine deutliche Verbesserung unserer Arbeitsbedingungen sowie die Sicherstellung des Kinderschutzauftrags gefordert.