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Schule

Förderschule light

Die Änderung der Sonderpädagogik-Verordnung führt zu weiteren Rückschritten bei der Inklusion.

Foto: IMAGO

Anstatt Förderschulen im Sinne der UN-Behindertenkonvention (UN-BRK) in inklusive Schulen umzuwandeln und inklusive Rahmenbedingungen zu finanzieren, wird verstärkt Politik in Richtung »besondere Förderorte« betrieben. Der Bildungssenat erklärt unverhohlen, er fühle sich an die UN-BRK nicht gebunden, und will nun sogar exklusive Lernorte für Kinder mit Förderbedarf an allgemeinbildenden Schulen rechtlich verankern. Das wirft Zweifel am Inklusionsverständnis der Verantwortlichen auf. Denn der neueste Schrei, um die vielen Kinder mit Förderbedarf irgendwo unterzubekommen, sind Sonderklassen für Kinder mit Förderbedarf an allgemeinbildenden Schulen. Inklusion würde sich hier höchstens auf einen kurzen Moment beschränken, wenn ein Kind mit und ein Kind ohne Förderbedarf gleichzeitig ihr Butterbrotpapier in den Mülleimer werfen und sich dabei kurz in die Augen schauen – vorausgesetzt, ihre Pausenzeiten stimmen überein. 

 

Kinderrechte werden missachtet

 

Dass exklusive Klassen entstehen, verstößt gegen das Recht auf inklusive Bildung und gemeinsames Lernen, wie es die Konvention vorgibt. Sie hat den Rang eines Bundesgesetzes und dient als zwingende Auslegungshilfe für sämtliches nationales Recht. Bestimmte Regelungen aus ihr sind zudem direkt einklagbar, wie etwa das Diskriminierungsverbot, welches zum unmittelbar anwendbaren Kern des Rechts auf Bildung gehört und hier missachtet wird.

Entgegen der Auffassung der Senatsverwaltung, begründet Artikel 24 der UN-Konvention einen Individualanspruch auf diskriminierungsfreien Zugang zu inklusiver Bildung. Das Diskriminierungsverbot im Bildungsbereich ist nicht nach und nach, sondern sofort zu verwirklichen. Dies ist unabhängig von der staatlichen Verpflichtung, unter Ausschöpfung der verfügbaren Mittel Maßnahmen zu treffen, um schrittweise ein vollständig inklusives Bildungssystem zu erreichen. Die mit der Änderung der Sonderpädagogik-Verordnung geplante Einrichtung von Sonderklassen an allgemeinbildenden Schulen ist mit diesen Vorgaben der UN-BRK nicht in Einklang zu bringen und verstößt zudem gegen das Berliner Schulgesetz. Hiernach sind temporäre, also zeitlich begrenzte Lerngruppen durchaus möglich, nicht aber eine dauerhafte Exklusion in einer neu geschaffenen Klasse. Entgegen den entsprechenden Vorbehalten der Senatsverwaltung für Soziales hat die Bildungsverwaltung hier unrechtmäßige Fakten geschaffen.

Es gibt Kinder, die durch das System fallen. Es gibt Kinder im Autismus-Spektrum, die in den regulären Klassen untergehen. Es gibt Kinder, die aus der Kinder- und Jugendpsychatrie kommen, für die eine Klasse mit 26 Schüler*innen eine Überforderung ist. Doch sonderpädagogische Kleinstklassen können nicht die Antwort sein. Temporäre Lerngruppen, mit einem klaren Rückführungsauftrag und mit einem klaren Fahrplan für Inklusion, sind bereits gesetzlich vorgesehen. Mini-Sonderschulen als Kleinstklassen an Regelschulen pädagogisch legitimieren zu wollen, anstatt angemessene Vorkehrungen zu treffen, zeigen die fehlende inklusive Haltung des Senats. 

Kleine Klassen mit 15 bis 18 Kindern, wenn Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf dabei sind; dauerhafte professionelle und autismusspezifische (auch 1:1 personelle Unterstützung) und Möglichkeiten, auf Schulhof oder andere Räume auszuweichen, wenn das Kind es braucht; kleine, flexible und temporäre Lerngruppen für überreizte oder überforderte Kinder, gerade nach Krisen oder in der Schulanfangsphase, werden vom Senat nicht als ausreichende Lösung gesehen. Doch genau diese Möglichkeiten und die dafür nötigen räumlichen und personellen Ressourcen bräuchte es. Wie das gelingen kann, zeigen die Praxisbeispiele im Buch von Ulf Preuss-Lausitz »Schwierige Kinder – Schwierige Schule: Konzepte und Praxisprojekte zur integrativen Förderung verhaltensauffälliger Schülerinnen und Schüler«.

 

Transformation ist überfällig 

 

Rechtlich in der Sonderpädagogik-Verordnung zu verankern, dass wir feste Förderklassen einführen – als Förderschule light – und das als Inklusion zu verkaufen, ist mehr als am Thema vorbei. Ins Schulgesetz gehört ein vorbehaltloser Rechtsanspruch auf wohnortnahe allgemeinbildende Schulen – ohne Einschränkung durch mangelnde personelle, materielle oder organisatorische Ressourcen. Genau dieses Recht auf inklusive Bildung, ohne faktischen Ressourcenvorbehalt.

Auch braucht es die Verankerung eines individuellen Anspruchs auf »angemessene Vorkehrungen« im Schulgesetz, also auf die im Einzelfall erforderlichen Unterstützungsleistungen, wie sie von der UN-BRK und vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 22. November 2023 gefordert werden. Solange es noch kein vollständig inklusives Schulsystem gibt, sind individuelle Unterstützungsleistungen der Schlüssel, um Kindern mit Behinderungen den Zugang zur allgemeinbildenden Schule zu ermöglichen.

 

Inklusion ist nicht beispiellos 

 

Durch die Errichtung von Sonderstrukturen wird der Aufbau eines inklusiven Bildungssystems weiter verzögert oder gar verhindert. Die erforderliche Verlagerung von Fachwissen und finanziellen Mitteln in das Regelschulsystem wird erschwert und die Segregation von Schüler*innen mit Behinderungen zementiert.

Um Schüler*innen mit Behinderungen eine zufriedenstellende Option an einer Regelschule anzubieten und die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe dieser Schüler*innen zu verwirklichen, braucht es den politischen Willen zum Aufbau eines flächendeckenden wohnortnahen Angebots hochwertiger inklusiver Regelschulen und die damit verbundene verbesserte finanzielle und personelle Ausstattung für die schulische Inklusion. Das im Berliner Koalitionsvertrag enthaltene Bekenntnis zur UN-BRK und das Versprechen, die Inklusion an den Berliner Schulen zu unterstützen und qualitativ weiterzuentwickeln, müssen endlich umgesetzt werden. 

Bundesländern wie Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein ist es gelungen, die Sonderbeschulung zugunsten der schulischen Inklusion effektiv zu reduzieren. Die Lehrkräfte von ehemaligen Förderschulen wurden Teil des Lehrerkollegiums an allgemeinbildenden Schulen. Berlin sollte durch ähnliche Schritte die Integration von Sonderpädagogen*innen und multiprofessionellen Teams in den Regelschulbetrieb stärken, anstatt Schüler*innen in separaten Einrichtungen oder Klassen zu betreuen und diese auszubauen.

Förderklassen an allgemeinbildenden Schulen sind keine Inklusion. Das alte »Entlastungsargument« aus dem 19. Jahrhundert zieht bis heute. Und vielleicht erscheint es auch erst einmal leichter. Doch unsere Gesellschaft ist vielfältig und damit müssen wir umzugehen lernen, von klein auf. Gleichzeitig brauchen überforderte Kinder Unterstützung. Wenn ein Kind keine lauten Geräusche oder viele Kinder um sich herum erträgt, kann Segregation nicht die Lösung sein. Hier braucht es flexible, professionelle und reizarme Lernsettings – keine dauerhaften Förderschulklassen, die als Einfallstor für exklusive Prozesse missbraucht werden können und die als Gefahr eines Sammelbeckens für »Störenfriede« zur Entlastung der Klasse gesehen werden können.