blz 07 - 08 / 2003
Gedenken in 28 Sprachen
Erinnerung an zwei jüdische Lehrkräfte der ehemaligen Fichte-Realschule.
Im Heft 6-7/99 rief die blz dazu auf, "das Schicksal jüdischer Lehrkräfte in Berlin in der Zeit des Faschismus dem Vergessen (zu) entreißen." Vier Jahre später, am 8. Mai 2003, wurde an der Moses-Mendelssohn-Oberschule (MMO) in Berlin-Mitte (Tiergarten) eine Gedenktafel enthüllt, die an zwei Kollegen erinnert, die im alten Gebäudeteil unserer Schule, der ehemaligen Fichte-Realschule, unterrichtet haben.
Prof. Dr. Eugen Wolbe (1873 - 1938) unterrichtete Deutsch und Französisch. Das Berufsverbot der Nazis erhielt er am 3.4.1933, wenige Tage vor seinem 60. Geburtstag und kurz vor Erreichen seines 30-jährigen Dienstjubiläums. Die alten Schulchroniken im Pädagogischen Landesarchiv können nicht mehr direkt eingesehen werden. Mühseliges Entziffern der Mikrofilme ergibt, dass Wolbe ein engagierter Lehrer war, der mit jeder seiner 10. Klassen eine große Reise unternahm. Nachdem ab der 7. Klasse wöchentlich ein Groschenbetrag eingesammelt worden war, konnten Leipzig, Naumburg, Schulpforta, Jena und Weimar besucht werden. Dabei wurden Leben und Werk von Gottsched, Gellert, Goethe, Klopstock, Nietzsche, Liszt, Shakespeare, Wieland und Herder studiert. Etwa 30 Bücher, die er verfasst oder herausgegeben hat, befinden sich noch heute in der Staatsbibliothek. Wenige Jahre nach seiner Entlassung starb Wolbe an einem Herzschlag auf der Straße. Seine Frau wurde nach Riga deportiert und dort ermordet. Dem Sohn gelang die Flucht über die Schweiz, Polen und Schweden nach Palästina. Heute ist er ein hochbetagter, geachteter Rabbiner in Jerusalem.
Studienrat Moritz Arndt (1889 - 1942) war Lehrer für Mathematik, Biologie und Sport und organisierte vielfältige Aktivitäten mit seinen Schülern, z.B. eine wöchentliche freiwillige Sportstunde, Zeltlager im Sommer, Radtouren mit Zelt sowie Wintersportreisen ins Riesengebirge. Auch Arndt durfte nach dem 3.4.1933 seine Schule nicht mehr betreten. Im Archiv der Jüdischen Gemeinde zu Berlin findet sich der Hinweis, dass sich Arndt gemeinsam mit seinem Bruder am Vorabend ihrer Deportation in ein Todeslager das Leben genommen hat.
Eugen Wolbe und Moritz Arndt sind auf dem Jüdischen Friedhof Weissensee beigesetzt.
Das berufliche Todesurteil über die beiden Kollegen besiegelte der Satz des Schulleiters im Jahresbericht für das Schuljahr 1932/33: "Am 3.4.1933 mussten die beiden dem Blute nach jüdischen Studienräte Wolbe und Arndt auf behördliche Anordnung beurlaubt werden." War es der kontrollierende Schulrat, der diese Eintragung handschriftlich veränderte in: "wurden... beurlaubt."? Offenbar hatte er die kritische Botschaft der Basis verstanden, wollte sie jedoch so nicht durchgehen lassen.
Eine Aktion wider das Vergessen beabsichtigten wir, als wir uns entschlossen, für die beiden Lehrerkollegen eine Gedenktafel in dem Schulhaus anzubringen, in dem sie unterrichtet haben, und das unser heutiger Arbeitsplatz ist. Die Moses-Mendelssohn-Oberschule wurde vor 20 Jahren gegründet, damals als Modellversuchsschule zur besonderen Förderung türkischer Schüler und Schülerinnen. Inzwischen werden 28 Muttersprachen in unserer Schülerschaft gesprochen, und diejenigen mit deutscher Herkunftssprache sind in der Minderheit.
Die Gedenktafel soll anbieten, dass alle Mitglieder der Schulgemeinschaft sich mit ihrer Botschaft identifizieren können. So ließen wir das Wort "Gedenke" in 28 Sprachen übersetzen. Ein Schriftband rahmt den Text ein und jede/r kann sich angesprochen fühlen.
Die Veranstaltung zur feierlichen Enthüllung der Gedenktafel haben wir bewusst auf den 8. Mai gelegt. Jenes Datum als Jahrestag des Endes der Herrschaft der Völkermörder markiert einen Neuanfang. Der 8. Mai symbolisiert seit 1945 die Chance, alte Diskriminierungen zu überwinden und neue nicht aufkommen zu lassen.
Wir hatten RednerInnen der drei Buchreligionen eingeladen, um aus unterschiedlicher Perspektive die Aussage der Tafel zu reflektieren. Der muslimische Redner hatte seinen Beitrag unter das Thema "Wetteifert im Guten" gestellt. Als der jüdische Kantor das Totengebet sang, die evangelische Religionslehrerin Verse aus dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom las und der muslimische Religionswissenschaftler die ersten Verse aus dem Kor'an arabisch und deutsch vortrug, ereignete sich etwas Unerwartetes: In den Minuten andächtigen Zuhörens verwandelte sich die Tafel vom Objekt, für das alle Aktivitäten inszeniert wurden, in eine Quelle von Energien im Sinne von Moses Mendelssohn: "Seid tolerant!" Die im Schulalltag immer wieder spürbaren antijüdischen Ressentiments, gespeist durch den Konflikt im Nahen Osten, traten in den Hintergrund, als ein aus palästinensischen, türkischen und deutschen SchülerInnen bestehender Chor sang: "We shall overcome..."