Tendenzen
Gemeinsam frei sein
Was die Kürzungen des Senats wirklich bedeuten.
Die Kahlschlagkürzungen in Berlin wurden beschlossen. Wird bald eine Resignation oder schlicht eine Erschöpfung einsetzen? Flüstert uns nicht unser inneres Erwachsenen-Ich ein: Man kann nicht alles haben? Der Staat muss haushalten. Schulden machen ist schädlich! Viele sehen es als rational an, dass durch Corona-Krise, Ukraine-Krieg, Preissteigerungen und zunehmende Militärausgaben der Gürtel enger geschnallt werden muss. Hinzu kommen höhere Ausgaben, um die Wirtschaft in der Weltmarktkonkurrenz während einer Umbruchsituation zu stärken.
New Public Management als Zauberformel der Modernisierung
Aber bleiben wir nicht im Zeitraum des Kurzzeitgedächtnisses. Gehen wir etwas weiter zurück in die Vergangenheit. In den 90er Jahren warb man in Berlin für die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung, mehr Bürgernähe, weniger Bürokratie, mehr Effizienz.
New Public Management (NPM) hieß die Zauberformel, der sich auch andere Kommunen anschlossen. In der öffentlichen Verwaltung sollten nach diesem neuen Steuerungsmodell Managementtechniken der kapitalistischen Privatwirtschaft etabliert werden. Seitdem werden in den Bezirken zum Beispiel Leistungskennzahlen für die Dienstleistungen erhoben, um die Effizienz zu messen und Verbesserungsmaßnahmen durchzusetzen. Ist- und Soll-Zustände werden dabei verglichen, um realisierbare Ziele festzulegen.
Ideologisch begleitet wurde dieser Umbau durch die neoliberale Denke, der Staat arbeite ineffektiv und verschwenderisch.
Fabian Nehring spricht in dem Podcast Jacobin Weekly (Episode 27) davon, wie jeder Berliner Bezirk nun Kosten für Leistungen definiert. Jeder der zwölf Bezirke legt die Kosten für den Unterhalt eines Schulplatzes fest. Daraus wird ein Medianwert gebildet. Kosten werden nur auf dieser Höhe übernommen. Liegt der Bezirk darüber, zahlt er drauf. Liegt er darunter, macht der Bezirk Plus, welcher Bezirk will das nicht. Dadurch rutscht der Medianwert jedoch immer mehr nach unten. Kürzungen sind somit im neuen Finanzierungssystem automatisiert eingeschrieben, aber zugleich getarnt als sachliche Notwendigkeit.
Muss gekürzt werden, führen die Berliner Bezirke es vorrangig an den sogenannten freiwilligen Leistungen durch. Leistungen, die über die gesetzlichen Pflichtaufgaben hinausgehen, aber deshalb nicht unwichtig sind, wie Jugend- und Freizeitclubs oder Familienförderung. Die Folge ist eine ständige Unsicherheit, die Projekte fortsetzen zu können. So bringen Sozialarbeitende oft mehr Zeit für Anträge zur Projektfinanzierung auf als für die eigentliche soziale Arbeit. Bei gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen wird der gegebene Rahmen zwar eingehalten, Freileistungsstunden werden dennoch zunehmend gekürzt.
Gab es in den 1990er Jahren noch circa zwölf Stunden zur Betreuung einer Familie, sind es mittlerweile nur noch fünf. Damit lässt sich der Rechtsanspruch nur noch pro forma erfüllen. Qualitative Arbeit wie Beziehungsaufbau mit den Betroffenen ist nahezu unmöglich.
Lehrkräfte erleben seit Jahren, wie ihnen die Jugendämter als Unterstützung ihrer pädagogischen Arbeit wegbrechen.
Outsourcing führt zu Qualitätseinbußen
Was bedeutet das NPM für das Handeln der Schulverwaltungen? Das Outsourcing bestimmter Tätigkeitsfelder, wie zum Beispiel der Reinigung, hat weitreichende Folgen. Die Reinigungsfirmen stehen in direkter Konkurrenz zueinander, und der Bezirk, der selbst unter Kostendruck steht, wählt das günstigste Angebot. Zwar mag auf quantitativer Ebene eine Einsparung erzielt worden sein, jedoch sind genaue Zahlen schwer zu finden. Qualitativ jedoch sind die Folgen katastrophal: Kaum eine Schule in Berlin wird noch ausreichend gereinigt. Die auf Kostensenkung fokussierten Firmen wechseln zudem häufig, was zu prekären Arbeitsverhältnissen führt. Es ist von möglichen illegalen Praktiken wie unangemessenen Arbeitszeiten oder Schwarzarbeit auszugehen. Diese Problematik lässt sich juristisch zwar argumentieren, doch es gibt noch eine weitere, sozial weit gravierendere Dimension. Die Schüler*innen sowie die Pädagog*innen kennen ihre Reinigungskräfte nicht mehr – sie erscheinen wie Schattengestalten in den späten Stunden der Nacht. Ihnen werden unrealistische Vorgaben gemacht, und häufig bleibt nur das Leeren von Mülleimern übrig. Allenfalls wird noch trocken gekehrt.
Auch in einem Zentrum der pädagogischen Arbeit, in der Ganztagsbetreuung, hat die Ideologie des freien Marktes Einzug gehalten. Natürlich gibt es viele freie Träger, die gute Arbeit leisten. Inwiefern ist ihre Arbeit jedoch flexibler, innovativer und individueller als die des öffentlichen Dienstes, wie es auf Prospekten gerne angepriesen wird? Warum lassen freie Träger zumeist keine Betriebsräte zu? Die Löhne werden infolgedessen einseitig von Arbeitgeberseite festgelegt und sind in der Regel niedriger. Hinzu kommt, dass Pädagog*innen, die bei einem freien Träger angestellt sind, sich eher an Vorgaben ihres Arbeitgebers orientieren als sich mit der konkreten Einrichtung zu identifizieren, in der sie tätig sind. Das erschwert die Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften und Erzieher*innen.
Falsch verstandene Freiheit
Die Kürzungen Ende 2024 sind die »Kettensäge«, die aufschreckt und zum Protest auf die Straße treibt. Mit Forderungen nach mehr Eigenverantwortung, Selbständigkeit und individuellem Engagement versuchten jüngst der Regierende Bürgermeister und der Kultursenator die Protestierenden in ein schlechtes Licht zu rücken. Wie so oft wird dabei die weitere Ökonomisierung der Kultur und des Sozialen hinter der Maske des dynamischen Fortschritts, des kreativen Individualismus und der persönlichen Unabhängigkeit versteckt. Die Forderung nach einem Mentalitätswandel zielt in Wirklichkeit darauf ab, dass die Betroffenen sich freiwillig im konkurrenzbefeuerten Hamsterrad des Überlebens vereinzeln.
Ein Beispiel ist die neue schulische Regelung für Klassenfahrten. Die Schulen haben nun die »Freiheit«, ihr Budget selbst zwischen Lehrmitteln, Vertretungslehrkräften und Klassenfahrten hin und her zu schieben. Bei von vorneherein zu niedrigem Budget ist es mehr Zwang als Freiheit, man kann aber niemanden mehr dafür als Verantwortlichen adressieren.
Freiheit führt schon lange die Top Ten der ideologischen Ja-Worte an. Freiheit steht nicht im Gegensatz zum Sozialen. Im erzieherischen Alltag stecken wir nonstop im sogenannten pädagogischen Paradoxon: Zur mündigen Selbstgestaltung fähig wird der heranwachsende Mensch nur, wenn er dabei angeleitet und unterstützt wird. Über die Zeit des Aufwachsens hinaus sind soziale Institutionen, Regelwerke und gegenseitige Verpflichtungen notwendig, um dem Individuum Freiheitsgrade zu ermöglichen. Der Glaube, Freiheit sei von Natur aus jedem seit Geburt absolut gegeben, führt zu einer typischen Fehlorientierung. Jean-Pierre Wils, ein Philosoph und Theologe, spricht von einem naturalistischen Freiheitsverständnis. Bleiben wir in dieser egozentrischen Vorstellung gefangen, setzen wir Freiheit automatisch in Opposition zu Zusammenarbeit, Zugehörigkeit und Institutionen. Wir können nur gemeinsam frei sein.
Das Individuum braucht soziale Unterstützung und starke Organisationen in seinem andauernden Emanzipationsprozess. Nicht zuletzt deshalb haben sich Gewerkschaften gebildet. Diesen Zusammenhang übergeht der Liberalismus regelmäßig. Wenn wir eine Gesellschaft realisieren wollen, die sich an einer hohen Lebensqualität für alle orientiert, dann sind dafür erste Ausrichtungen, die Schuldenbremse zu kritisieren, eine gerechtere Steuerpolitik und Vermögensverteilung zu fordern und uns für leistbare Bedingungen unserer Arbeit einzusetzen. Demonstrieren wir heute gegen neue Sparauflagen, wehren wir uns gegen den Zwang, alles als veräußerbare Produkte zu verwerten und damit anderes zu entwerten. Unsere Eigenverantwortung, Kreativität und gemeinsames Engagement verstehen wir anders als uns manche Politiker*innen weismachen wollen.
Unsere Selbstbestimmung und Eigenverantwortung führen uns zum gemeinsamen Engagement nach mehr Lebensqualität für alle.