Zum Inhalt springen

Schule

Gemeinsam in Vielfalt lernen

Die unterschiedlichen Hintergünde von Schüler*innen werden im Unterricht nicht genügend berücksichtigt. Dabei wäre eine Vielfaltsorientierung für alle ein Gewinn.

Multi-ethnic group of school children standing in classroom
Foto: Adobe Stock

Schüler*innen, Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter*innen bringen unterschiedliche Lebenswelten, Sprachen, Talente, Migrations- und Fluchterfahrungen mit ins Klassenzimmer. Diese Vielfalt wird allerdings nicht immer wahrgenommen und anerkannt. Oft überwiegen Normvorstellungen von einsprachigen Mittelschichtsschüler*innen. Das Berliner Schulgesetz fordert aber, dass »jeder junge Mensch ein Recht auf zukunftsfähige, diskriminierungsfreie schulische Bildung und Erziehung« hat. Mit dem Fokus auf eine vielfaltsorientierte Unterrichtsentwicklung soll es im Folgenden darum gehen, wie Lehrkräfte unterstützen können, das Selbstwertgefühl und die Lernmotivation aller Schüler*innen zu stärken.

Potenziale entfalten

Um erfolgreich lernen zu können, brauchen Schüler*innen in all ihrer Verschiedenheit das Gefühl der Zugehörigkeit. In der Praxis zeigt sich allerdings, dass nicht alle Schüler*innen dieses entwickeln können, denn einseitige Angebote ermöglichen es nicht allen, ihre Potenziale zu entfalten.

Schüler*innen machen sich ein Bild von sich selbst, von anderen und vom Weltgeschehen. Zum Beispiel fragen sie sich: Welche Bedeutung hat es, dass meine Eltern arbeitslos sind oder dass wir in einem bestimmten Stadtteil leben? Sie nehmen auch sehr klar wahr, wie sie und ihre Familien gesehen, beurteilt und bewertet werden. Erhalten sie früh Botschaften, die ihr Selbstbild abwerten, kommt es zum so genannten »Stereotype threat«, also Lernbeeinträchtigungen durch Rollenklischees. Dadurch kann es zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung kommen, wenn nämlich die Angst hiervor das Verhalten im Sinne des Vorurteils beeinflusst. Dieses Bild haben Schüler*innen häufig so stark verinnerlicht, dass sie verunsichert sind, an sich selbst keine hohen Erwartungen mehr haben und gar nicht erst mögliche Fähigkeiten entwickeln.

Negative Botschaften über bestimmte Gruppen spiegeln häufig gesellschaftliche Bewertungen wider, die bis in Klassenzimmer hineinwirken. Schüler*innen nehmen genau wahr, ob und in welcher Weise sich ihre Bezugsgruppen in Bezug auf Herkunft, Sprache oder soziale Schicht in Lernmaterialien wiederfinden. Aber auch die Möglichkeiten zur Identifikation mit dem Personal können eine Rolle spielen, wie zum Beispiel die sozio-ökonomische Herkunft der Schulleitung, Lehrkräfte mit familiärer Migrationsgeschichte, Personal unterschiedlicher Familiensprachen. All dies wirkt sich auf die Selbstwahrnehmung der Schüler*innen aus und beeinflusst ihre Erwartungen und Lernerfolge. Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmung und gesellschaftliche Repräsentation sind also eng miteinander verbunden.

Barrieren erkennen

Eine zunehmende Zahl von Studien belegt die strukturelle Diskriminierung in Schulen. Bildungsgerechtigkeit geschieht nicht einfach, sie muss aktiv gestaltet werden. Denn nichts tun ist nicht neutral, sondern diskriminiert unterprivilegierte Schüler*innen. Eine vielfaltsorientierte Unterrichtsentwicklung kann den Alltag aller erleichtern. Es geht darum, Vielfalt und Unterschiedlichkeiten der Schüler*innenschaft zu respektieren und nicht als Problem zu verstehen. Ebenso wichtig ist es, Ausgrenzungen wahrzunehmen und ausgrenzendem Handeln zu widerstehen. Setzen wir uns mit den Ursachen von Konflikten und Lernbarrieren auseinander, können wir präventiv zu einem besseren Lernklima beitragen.

Bei der Gestaltung von Lehr- und Lernmaterialien kann es oft unbewusst zu Barrieren kommen. Die »Schulbuchstudie Migration und Integration« kommt zu dem Ergebnis, dass das Bild, das Schulbücher von Zuwander*innen und ihrer Lebensrealität vermitteln, wenig differenziert und oft durch Klischees geprägt ist und Migration eher als Problem, denn als Normalfall dargestellt wird. In den Aufgabenstellungen wird oft nicht berücksichtigt, dass inzwischen jedes dritte Kind eine Migrationsgeschichte mitbringt. Wir wissen, dass das Gefühl der Zugehörigkeit eine zentrale Voraussetzung für Wohlbefinden und Lernmotivation ist. Gleichzeitig geben Unterrichtsmaterialien und Aufgabenstellungen vielen Schüler*innen nicht die Chance, sich in diesen wiederzufinden.

Entscheidend ist auch die unterschiedliche Bewertung von Sprachen im schulischen Kontext. Englisch, Spanisch und Französisch werden meist selbstverständlich als Fremdsprachen in den Schulen gelehrt. Kinder mit diesen Sprachkenntnissen werden als kompetent wahrgenommen. Türkisch, Arabisch oder Farsi gibt es dagegen nur selten als Angebot für alle. Vereinzelt wird ihr Gebrauch in der Schule sogar verboten. Dadurch erfahren Kinder eine geringere Wertschätzung ihrer Familiensprache und damit ihrer Identität. Wahrgenommen wird dies häufig als Abwertung der eigenen Person. Dies wiederum kann sich negativ auf die Lernmotivation der deutschen Sprache auswirken.

Diese Ungleichbehandlung von Sprachen und deren Repräsentation im schulischen Leben hat Auswirkungen, denn Schüler*innen, die als nicht-deutsch markiert werden, können sehr früh das Gefühl bekommen, nicht dazuzugehören und erfahren oft weniger Zutrauen in ihre Leistungen.

Veränderungen für mehr Gerechtigkeit

Was also tun? Es gilt, achtsam zu bleiben bei der Bezeichnung von Gruppen, auch wenn dies in bester Absicht geschieht. Kategorien wie »Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund« führen dazu, Nachkommen von Zugewanderten zu stigmatisieren. Auch der Begriff »bildungsfern« ist problematisch, da er zunächst einmal all diejenigen beschreibt, die mit dem gängigen Bildungssystem weniger vertraut sind und den Blick auf die vermeintlich defizitäre Einzelperson richtet, anstatt auf das Bildungssystem.

Pädagog*innen sollten wissen, dass sie bei jedem Benennen von migrationsbedingten oder anderen Vielfaltsaspekten in Gefahr laufen, Schüler*innen auf diese Merkmale zu reduzieren. Dies kann deren Selbstwahrnehmung und auch die Erfolgserwartungen an sie negativ beeinflussen. Dieser Prozess wird Differenzdilemma genannt: Wie können Schulen und die Unterrichtsentwicklung migrationsbedingte und andere Vielfaltsaspekte berücksichtigen, ohne immer wieder erneut Schüler*innen in Kategorien einzuteilen und damit die Erfolgserwartungen an sie zu beeinflussen?

Pädagog*innen können durch die Auswahl von Themen, Bildern und Geschichten zum kritischen Nachdenken anregen. Sie entscheiden, welche Geschichten über »Fremde« oder »Dazugehörende« erzählt und welche Bilder aufgehängt werden. Eine vielfaltsorientierte Unterrichtsentwicklung braucht Lehr- und Lernmaterialien, in denen sich alle Schüler*innen wertschätzend wiederfinden können. Hier liegt die Gestaltungsmacht der einzelnen Pädagog*innen, zu hinterfragen: Wo finden sich stereotype Darstellungen von Schüler*innen und ihren Familien oder wo tauchen bestimmte Schüler*innen erst gar nicht auf? Welche gesellschaftlichen Gruppen sind in Unterrichtsmaterialien wie dargestellt? Welche Botschaften werden vermittelt? Entsprechen die Darstellungen von Personen der Lebenswelt »meiner« Schüler*innen?

Mittlerweile gibt es einige gelungene Materialien. Und dennoch gilt: Auch bei bester Absicht wird es nicht gelingen, vollständig auf stigmatisierende Darstellungen und Stereotype zu verzichten. Hier gilt es, diese in den vorhandenen Materialien nicht zu beschönigen oder zu entschuldigen, sondern eine kritische Auseinandersetzung darüber zu führen. So kann die Wirkung dieser Darstellungen auf die davon betroffenen Schüler*innen thematisiert und ernst genommen werden.

Finden die Kinder und Jugendlichen hauptsächlich positive Botschaften über sich und ihre Sprachen in Lernumgebung und Materialen wieder, stärkt das ihr Selbstbewusstsein. Werden die Sprachen aller Schüler*innen sichtbar und genutzt, können alle davon profitieren. Den mehrsprachigen Kindern ermöglicht es die Anerkennung ihrer Kompetenzen und somit mehr Zugehörigkeitsgefühl, den einsprachigen Kindern ermöglicht der alltägliche Umgang mit vielen Sprachen ein größeres Sprachbewusstsein und dadurch eine Perspektiverweiterung. Diese Anerkennung von Mehrsprachigkeit im Unterricht kann auf sehr vielfältige Weise geschehen und ist in einigen Schulen schon alltägliche Praxis. Einige Beispiele sind mehrsprachige  Begrüßungen,  Vergleich  von  Sprichwörtern und Sprachstrukturen, Spracherkundungsspaziergänge und nicht zu vergessen die aktive Einbeziehung mehrsprachiger Eltern, die in ihren Erstsprachen vorlesen können.

Kultur der Besprechbarkeit

Eine wichtige Ressource ist eine gute Kooperation im Kollegium und eine Kultur des Miteinanders und des Sich-gegenseitig-aufmerksam-Machens, eine Kultur der Besprechbarkeit. Die Voraussetzung ist die gemeinsame Zielsetzung, vorurteilsbewusst mit Diversität und Unterschiedlichkeit auf der Grundlage von Gemeinsamkeiten umzugehen und in dem Sinne aktiv an schulischer Veränderung arbeiten zu wollen.

Wollen wir das Recht auf eine zukunftsfähige, diskriminierungsfreie schulische Bildung und Erziehung umsetzen, braucht es den Mut, Schüler*innen individuell zu fördern und auf ihre intrinsische Motivation zu vertrauen. Wir müssen uns bewusst mit den Barrieren auseinandersetzen, die bestimmte Schüler*innen auf Grund ihrer Gruppenzugehörigkeit erfahren, um nicht Gefahr zu laufen, diese erneut zu reproduzieren.          

Die vollständige Version des Artikels finden Sie unter: https://raa-brandenburg.de/Portals/4/media/UserDocs/Dokumente_2019/Material_Vielfaltsorientierte%20Unterrichtsentwicklung.pdf

www.anti-bias-netz.org

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Privat:  030 / 219993-46