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blz 03 / 2015

Gender Gap in der Wissenschaft

Über die Ursachen und was dagegen getan werden kann

Die Geschlechterverhältnisse in der Wissenschaft sind nach wie vor asymmetrisch strukturiert. Das zeigt sich insbesondere in einem Phänomen, das in der bildungssoziologischen Diskussion als »leaky pipeline« bezeichnet wird: Wie in einer defekten Wasserleitung scheidet mit jeder Stufe der akademischen Karriereleiter ein Teil der Frauen aus. So haben Frauen im Studienjahr 2013 mit 49,8 Prozent fast die Hälfte der StudienanfängerInnen gestellt. Von den AbsolventInnen des gleichen Studienjahres sind sogar 50,8 Prozent Frauen. Bei den Hochschulprofessuren beträgt der Frauenanteil jedoch nur noch 21,3 Prozent. Der relativ hohe Frauenanteil am Beginn der akademischen Karriereleiter hält sich nicht von Stufe zu Stufe, sondern verringert sich bei der jeweils höheren Karrierestufe.

Im wissenschaftlichen Qualifikationsverlauf wird die Schere von Stufe zu Stufe größer zwischen den Frauen- und Männeranteilen. Zwar stieg der Frauenanteil an den Professuren seit 1990 kontinuierlich an und hat sich seitdem verdreifacht. Diese Steigerung erfolgte aber von einem sehr niedrigen Ausgangsniveau. An der großen Kluft zwischen Frauen- und Männeranteilen bei den Professuren hat sie nichts ändern können.

Welche Erklärung gibt es für den Gender Gap?

Die Ursachen für den frühzeitigen Ausstieg von Frauen aus dem Wissenschaftssystem sind komplex. Standen zunächst vor allem individuelle Faktoren (beispielsweise das Qualifikationsniveau oder die Erwerbsorientierung von Frauen) im Vordergrund, richtet sich die Aufmerksamkeit in den letzten Jahren stärker auf strukturelle Faktoren. Mittlerweile besteht Konsens, dass individuelle, strukturelle und kulturelle Faktoren zusammenspielen und in enger Wechselwirkung miteinander stehen. So lässt sich der Frauenschwund vor allem in der wissenschaftlichen Nachwuchsphase auf die strukturellen Risiken, die mit der wissenschaftlichen Laufbahn verbunden sind, zurückführen: hoher räumlicher Mobilitätszwang, Befristungen über einen langen Zeitraum hinweg sowie die Unvereinbarkeit von wissenschaftlicher Karriere und Familie.

Andere Erklärungsansätze rekurrieren stärker auf kulturelle Faktoren, wie die vor allem im deutschen Wissenschaftssystem historisch gewachsene Vorstellung, dass Wissenschaft als Lebensform zu begreifen sei, die die Hingabe der ganzen Person und das Ineinanderfließen von Arbeits- und Freizeit erfordere. Diese nach wie vor sehr wirkmächtige Vorstellung hat die charakteristische Geschlechterordnung zur Voraussetzung und stellt damit Frauen vor gänzlich andere, schwierige und existentielle Entscheidungen als ihre Kollegen. Dies zeigt sich im Alltag des Wissenschaftssystems etwa daran, dass Mutterschaft und Karriere noch immer ein Problem darstellt, während Vaterschaft und Karriere selbstverständlich sind. Dem entspricht, dass 62 Prozent der Professorinnen kinderlos sind, aber nur 34 Prozent der Professoren.
Ein weiterer Erklärungsfaktor ist in der starken Personenorientierung bei der Nachwuchsrekrutierung zu sehen. Da Männer die Führungspositionen in der Wissenschaft dominieren, haben sie die Entscheidungsmacht, die eigene soziale Gruppe der Männer bei der Stellenbesetzung zu bevorzugen.

Zugespitzt lässt sich formulieren, dass nach wie vor Männerbünde und männliche Lebensweisen das Wissenschaftssystem prägen.

Ansätze für mehr Geschlechtergerechtigkeit

Um den Gender Gap in der Wissenschaft zu reduzieren, muss aus meiner Sicht in den folgenden vier Dimensionen angesetzt werden:

  1. Eine Reform des wissenschaftlichen Karrieresystem: Wer eine Karriere in der Wissenschaft plant, muss räumlich hochmobil sein. Der Übergang von einer Qualifizierungsstufe zur nächsten ist in der Regel mit dem Wechsel der Hochschule und damit auch des Lebensortes verbunden. Die Berufung auf eine Professur ist wegen des Hausberufungsverbots ebenfalls an einen Hochschulwechsel gebunden. Der Preis, der für eine wissenschaftliche Karriere zu zahlen ist, besteht in einer einseitigen Fixierung auf Wissenschaft. Für andere Lebensbereiche bleibt nur noch wenig Platz und Zeit. Aus diesem Grund werden AkademikerInnen, die auch noch andere Lebensorientierungen als ausschließlich Wissenschaft verfolgen, ab einem bestimmten Punkt ihrer Karriere mit dem Problem der Vereinbarkeit konfrontiert. Sind davon allgemein gesehen Frauen und Männer durchaus gleichermaßen betroffen, so zeigt die Vereinbarkeit von Wissenschaft und Elternschaft stark geschlechterungleiche Auswirkungen: Familienaufgaben werden in erster Linie an Frauen verwiesen. Die Entscheidung für ein Kind hat deshalb für Akademikerinnen andere berufliche Konsequenzen als für Akademiker. Diese geschlechterdifferenten Auswirkungen ließen sich durch Flexibilisierung der Mobilitätsanforderungen, Lockerung des Hausberufungsverbots und alternative Karrieremöglichkeiten zur Professur abmildern.
  2. Die Konzeption von Wissenschaft als Beruf: Wissenschaft als einen »normalen« Beruf zu verstehen – so lautet gebündelt die zentrale Forderung der GEW in ihrem wissenschaftspolitischen Programm und im »Templiner Manifest«. Im Unterschied zur Vorstellung von »Wissenschaft als Lebensform« zielt das Verständnis von »Wissenschaft als Beruf« auf planbare Karriereperspektiven, reguläre und existenzsichernde Beschäftigungsverhältnisse und soziale Absicherung. Dazu zählen auch die Anerkennung von Lebensbereichen und -anforderungen außerhalb der Wissenschaft sowie das Recht auf eine Balance von Arbeit und Leben. Dies setzt eine familiengerechte Gestaltung von Hochschule und Forschung sowie berufliche Perspektiven auch jenseits der Professur voraus. Dazu müssen ausreichend Stellen eingerichtet werden, auf denen mit unbefristeten Arbeitsverträgen Wissenschaft als Beruf in Forschung und Lehre ausgeübt werden kann.
  3. Die Vereinbarkeit von Wissenschaft und Biografie: Berufliches Engagement verläuft im Allgemeinen nicht stetig, sondern variiert nach Lebensphasen. In jüngeren Jahren sind der berufliche Enthusiasmus und Ehrgeiz häufig ausgeprägter als im Alter. Gleiches gilt in der Familiengründungsphase sowie bei kritischen Lebensereignissen (beispielsweise Pflegebedürftigkeit der Eltern). Es sind vor allem diese außerberuflichen Lebensereignisse, die sich häufig negativ auf die Karrierechancen von Wissenschaftlerinnen auswirken. Die Ursachen dafür sind zum einen in der traditionellen ungleichen Arbeitsteilung der Geschlechter zu sehen. Kinderbetreuung und Angehörigenpflege gelten häufig noch immer als Frauenaufgaben. Die andere Ursache ist die strukturelle Unvereinbarkeit des Wissenschaftsberufs mit den Anforderungen aus anderen Lebensbereichen. Die »rush hour of life«, also die Lebensphase vom Abschluss der Qualifizierung bis zur Lebensmitte (einschließlich der Familiengründungsphase), stellt sich insbesondere in der Wissenschaft als äußerst kurz dar. Das Durchschnittsalter bei der Berufung auf eine Professur beträgt 41 Jahre. Dadurch werden vor allem Wissenschaftlerinnen vor das Dilemma »Karriere oder Familie« gestellt. Mittels einer lebensphasenorientierten Personalpolitik, die auf außerberufliche Anforderungen mit flexiblen Arbeitszeit- und Beschäftigungsmodellen reagiert und auch eine vorübergehende Arbeitszeitreduzierung oder Freistellung ermöglicht, ließen sich solche und andere Vereinbarkeitsdilemmata vermeiden. Zudem ist erforderlich, dass die bereits im derzeitigen Wissenschaftszeitvertragsgesetz vorgesehene familienpolitische Komponente bei der wissenschaftlichen Qualifizierung auch tatsächlich angewendet wird. Dies muss flankiert werden durch ausreichende Möglichkeiten zur qualifizierten Kinder- und Altenbetreuung.
  4. Transparenz bei Nachwuchsrekrutierung und Berufung: Das Berufungsverfahren zur Besetzung einer Professur gleicht in den allermeisten Fällen einer »Black Box«. Die Mitglieder der Berufungskommissionen sind zur Verschwiegenheit verpflichtet und die Kriterien zur Auswahl und Platzierung der KandidatInnen bleiben oftmals unklar und vage oder gleich ganz geheim. Nicht selten kommen in den Berufungskommissionen taktische Winkelzüge und geheime Übereinkommen zum Zuge. In diesem Klima der Intransparenz und Abzirkelung kann sich die homosoziale Kooptation als Auswahlmechanismus bestens entfalten. Ein zentrales Kriterium für die hierbei wirkende soziale Ähnlichkeit ist das Geschlecht einer Person. Die in der Regel männlich dominierten Berufungskommissionen haben vor diesem Hintergrund die Tendenz, männliche Kandidaten zu bevorzugen. Das muss nicht bewusst oder in voller Absicht geschehen, sondern vollzieht sich häufig unbewusst und gewissermaßen hinter dem Rücken der Akteure nach dem allgemeinen Muster von sozialer Nähe und Distanz. Unter den gegebenen Geschlechterverhältnissen in der Wissenschaft benachteiligt dieses Muster strukturell Bewerberinnen in Berufungsverfahren. Die Benachteiligung von Bewerberinnen könnte durch ein stärker formalisiertes Berufungsverfahren mit standardisierten und transparenten Auswahlkriterien gemildert werden. Zentral ist dabei eine ganzheitliche und den Lebenskontext berücksichtigende Betrachtungsweise. Zeiten der Kinderbetreuung müssen dabei ebenso gewürdigt werden wie Auslandsaufenthalte und Publikationen.