Gewerkschaft
Gewerkschaftliche Zeitpolitik – feministisch, was sonst
Frauen verdienen im Durchschnitt nicht nur weniger als Männer (Gender Pay Gap), sie verwenden auch mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit (Gender Care Gap). Für mehr Lebensqualität für alle.
Beim Thema Home-Office macht Lehrkräften so schnell niemand etwas vor. Weit länger als es den Begriff gibt, realisieren sie die Vor- und Nachbereitung ihres Unterrichts, das Schreiben der Zeugnisse oder Gutachten und viele weitere Arbeiten am heimischen Schreibtisch. Wie andere auch erledigen sie Sorgetätigkeiten, Care-Arbeit, in Familie, Haushalt, Freundeskreis: von der Erziehung der Kinder über Hausaufgabenbetreuung bis zur Pflege von Eltern oder anderen Angehörigen. Wer zuhause arbeitet, das zeigen Studien, bringt mehr Zeit für Care-Arbeit auf, als wer außer Haus tätig ist.
Was auch bekannt ist: Frauen verbringen statistisch mehr als vier Stunden pro Tag mit unbezahlter Sorgearbeit, Männer weniger als drei. So wie es einen »Gender Pay Gap« zwischen Frauen und Männern gibt, gibt es einen »Gender Care Gap«. Zu beiden passt, dass Frauen weit häufiger in Teilzeit arbeiten, bei großen Unter schieden zwischen Ost und West: In den älteren Ländern ist rund jede zweite Frau teilzeitbeschäftigt, in den jüngeren nur jede dritte.
Zugleich ist vieles in Bewegung hinsichtlich der Geschlechterverständnisse und Rollenbilder. Althergebrachte Vorstellungen von Geschlecht und Arbeit und dem Verhältnis zwischen Lohnarbeit und Erziehungs- oder Care-Arbeit haben sich verändert. Auch in bundesweiten Care-Bündnissen verschiedener Organisationen und Einzelpersonen und in Veranstaltungen der GEW wird der Ruf lauter, außer der Erwerbsarbeitszeit auch die Sorgearbeit in den Blick zu nehmen.
Die GEW bearbeitet das Verhältnis von Erwerbsarbeitszeit zu Sorgearbeit, zu Lebenszeit und Lebensqualität seit vielen Jahren. Nun liegt ein Diskussionspapier vor, das Care-Arbeit zum Schlüsselelement gewerkschaftlicher Zeitpolitik erhebt. Sein Titel: »Feministische Zeitpolitik. Zeit zu leben, Zeit zu arbeiten. Zeit, die unbezahlte und die bezahlte Sorgearbeit in den Blick zu nehmen«.
Wichtig ist: »Feministisch« bedeutet nicht, dass die Debatte von Frauen für Frauen vorangebracht werden soll. Das Thema geht die ganze GEW an. Worum es geht, ist ein Verhältnis von Erwerbs- und Care-Arbeit zu entwickeln, das geschlechtlich bedingte Rollenzuschreibungen abbaut, das das Muster »er in Vollzeit, sie in Teilzeit und im Haushalt« aufbricht. Auch deshalb die Forderung nach einer 32-Stundenwoche für alle, damit Menschen frei von Stereotypen arbeiten, leben, und sich entfalten können. Das Leitbild einer 32-Stundenwoche für alle lädt dazu ein, sich die Veränderungen im Familienalltag und am Arbeitsplatz vorzustellen.
Der aktualisierte Blickwinkel unserer gewerkschaftlichen Zeitpolitik fußt geradezu auf einer Umkehrung des bisherigen Fokus auf Arbeitszeit. Am Anfang jeder Betrachtung soll die Lebensqualität stehen und die damit verbundene Zeit für das Miteinander. Von dieser ausgehend, und unter Betrachtung der gewünschten oder benötigten Zeit für Care-Arbeit, berechnet sich schließlich die Arbeitszeit.
Diesem Grundgedanken muss eine künftige Arbeitszeitpolitik gerecht werden. Wer eine 32-Stunden-Woche für alle für die Utopie einer Bildungsgewerkschaft mit überwiegend weiblichen Mitgliedern hält, dem sei gesagt: Umfragen unserer Schwestergewerkschaften IG Metall und ver.di sowie Arbeitszeitstudien der Hans-BöcklerStiftung gehen in dieselbe Richtung.
Bis es soweit ist, stärken wir das innergewerkschaftliche Gespräch und bringen Mitglieder aller Bildungsberufe und Geschlechter in den Diskurs: Welchen Wandel braucht es, damit Care- und Erwerbsarbeit gleichberechtigt zwischen Männern und Frauen verteilt werden?
Denn: Nur wenn wir erfolgreich den Blick auf die eigene Arbeit im Kontext eines anstehenden Wandels richten, wird auch der gesellschaftliche Transformationsprozess mit Blick auf bezahlte und unbezahlte Sorgearbeit gelingen. Für eine solidarische Gesellschaft von morgen!