SenioRita
Grabe, wo du stehst
Schwierigkeiten einer Initiative zum Gedenken an die Naziopfer in Franken.
bbz: Du bist gebürtiger Franke, in den letzten Kriegstagen des Zweiten Weltkriegs geboren und seit 1966 in Berlin. Du stehst also nur mit einem Bein da, wo du gräbst. Wie kam es dazu, dass du dich für die Nazi-Vergangenheit deines Heimatortes interessiert hast?
Mohr: Der Nationalsozialismus und die heutigen Neonazis sind für mich ein Dauerthema. Als ich nach dem Renteneintritt mehr Zeit hatte, wurde mir klar, dass ich neben meinem Berliner Engagement am besten da anfange, wo meine Wurzeln sind: Es fing damit an, dass ich mich an das Holzkreuz an einem Baum mit Einschusslöchern an einer Skiabfahrt erinnerte. Dort vorbei musste ich in den schneereichen Frankenwaldwintern der Fünfziger und Sechziger die Skier nach den Abfahrten immer wieder bergauf tragen. Es war zwar bekannt, dass an dieser Stelle am 10. April 1945 ein »fahnenflüchtiger« Soldat standrechtlich erschossen worden war, jedoch wusste man angeblich über Jahrzehnte hinweg nicht den Namen des Hingerichteten.
Wie geht denn das mit dem Recherchieren? Wo fängt man da an? Wird man als einfacher Bürger da überhaupt ernst genommen?
Mohr: Das kostete viel Zeit und Geduld, zumal wenn man weder Unterstützung vor Ort erfährt, noch einem die Zugänge bekannt sind – ich bin ja kein Historiker. Aber sehr schnell habe ich über das Archiv des Erzbistums Bamberg die ersten Hinweise erhalten. Später kontaktierte ich dann die Kreis- und Staatsarchive in der Heimat, bis hin zum Freiburger Militärarchiv, zum Arolsen-Archiv und zum Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde – alle waren sehr hilfsbereit, hatten allerdings teilweise recht lange Wartefristen. Für eventuell noch vorhandene gesetzliche Sperrfristen kann man übrigens bei begründetem Interesse auch deren Aufhebung beantragen. Und der Deutsche Bundestag hatte im Mai 2002 mit Mehrheit von SPD, Grünen und PDS unter der NS-Diktatur verurteilte Deserteure rehabilitiert. Damit wurden rund 22.000 Todesurteile aufgehoben.
Für deinen ersten »Fall« hast du über ein Jahr recherchiert und konntest letztendlich die Identität des Toten, den Tathergang, die Täter ermitteln und hast eine Würdigung durch ein neues Kreuz erreicht. Damit hast du dich aber nicht zufriedengegeben.
Mohr: Den Namen des Erschossenen hatte ich sehr schnell herausfinden können: Er hieß Willibald Frischmann, war 36 Jahre alt und kam aus Wien. Aber weder dieser Name noch die Todesumstände stehen auf dem im Jahr 2016 mit kirchlicher Begleitung neu angebrachten Kreuz. Es wird also verschwiegen, an wen und an was das Kreuz überhaupt erinnern soll, sodass der Anspruch, »auch die junge Generation könne sich so mit den Geschehnissen auseinandersetzen«, weiterhin eine Farce bleibt. Dies habe ich seitdem in etlichen Zeitungsbeiträgen immer wieder zum Thema gemacht. Vorher wurde aber auch schon die Unterstützung von anderen Organisationen und dem bekannten Freiburger Historiker Wolfram Wette bei der Gestaltung des Gedenkortes brüsk abgelehnt. In der örtlichen Zeitung stand dazu, man lasse sich »von Auswärtigen nicht unter Druck setzten«.
Du hast aber noch mehr recherchiert über Naziverbrechen.
Mohr: Ja, ich wollte vor allem den Opfern ein Gesicht geben: den Menschen, die auf Todesmärschen aus Buchenwald vor aller Augen auch durch meinen Heimatort getrieben wurden und von denen viele getötet wurden, wenn sie nicht weiter konnten. Den Euthanasieopfern – nachdem ich vier von ihnen aus dem Ort dokumentieren konnte, stieß ich auf über 50 aus mehr als 30 Orten aus dem Landkreis, für die sich weiterhin weder Gemeinden noch Kirchen zu interessieren scheinen. Aber auch die vielen unbekannten oder immer noch verschwiegenen Opfer jener Jahre sollten endlich bekannt werden. Hierzu erhielt ich auch Nachfragen und sogar Hinweise zu in Flossenbürg und Sachsenhausen getöteten NS-Gegnern, deren Schicksal ich teilweise aufklären konnte. Ihre Geschichten wurden dann in deren Heimatort veröffentlicht. Zu den Hinweisen gehört auch die Geschichte einer Thüringer Jüdin, die noch im Januar 1945 vor ihrer Deportation – vermutlich nach Theresienstadt – in den Frankenwald fliehen und dort bei guten Menschen bis zur Befreiung im April überleben konnte.
Wie ist es aufgenommen worden, dass ein Berliner Franke seiner Heimat einen Spiegel vorhält, in den keiner schauen wollte?
Mohr: Es ist auch weiterhin wirklich nicht einfach, Gehör und Unterstützung zu finden für das Thema, auch für die von mir dokumentierte Euthanasie im Ort und darüber hinaus im Landkreis. Ich frage mich natürlich, woran das liegen mag, aber auch, warum selbst von Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern so wenig nachgefragt wird. Einige Antworten darauf lassen sich vielleicht in den dazu erschienenen Beiträgen von mir und in den Leserbriefen der Heimatpresse finden.
Über was wurde denn da geschrieben?
Mohr: Es gab beispielsweise eine Auseinandersetzung mit dem Frankenwaldverein, dem ich selbst seit über fünf Jahrzehnten angehöre. Der Verein wollte damals nicht – so die »Begründung« –, dass ein Gedenkort für eine Einzelperson der geschätzten 20.000 Opfer der NS-Militärjustiz zu einer »Pilgerstätte« wird. Er lehnte deshalb eine Veröffentlichung über jene Ereignisse in seiner Vereinszeitschrift ab.
Und wie waren die anderen Reaktionen der Öffentlichkeit auf dein Anliegen?
Mohr: Es gelingt glücklicherweise immer wieder, die lokale Presse für Veröffentlichungen zu gewinnen. Teile meiner Rechercheergebnisse sind auch im Heimatkundlichen Kronacher Jahrbuch der Jahre 2016 und 2019 erschienen. Mein größtes Anliegen ist es allerdings, die Jugend zu erreichen und sie aktiv einzubeziehen – und da bin ich bisher noch kaum einen Schritt weitergekommen. Zum Thema der immer noch nicht hinreichend dokumentierten Todesmärsche durch den Landkreis wird es aber im November 2021 eine Veranstaltung der Kronacher Volkshochschule geben, bei der ich auch beteiligt bin – vielleicht hilft das dann mit, diese Themen auch stärker in die Schulen und Jugendeinrichtungen zu bringen.
Wir danken dir, dass du uns an deinem Ruhestandsprojekt hast teilnehmen lassen. Vielleicht können wir Berliner GEW-ler*innen etwas zu diesem Anliegen beitragen, wenn wir unsere Kontakte zur Bayerischen GEW spielen lassen. Es soll darum gehen, Kolleg*innen an einer Schule zu finden, die deine Recherchen für ein schulisches Projekt einbeziehen. Auch Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage könnten wir ansprechen, denn ihr Netzwerk ist ja deutschlandweit.
Das Gespräch mit Horst Mohr haben die GEW Ruheständler*innen bei ihrem Stammtisch im Juli 2021 geführt.