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Schwerpunkt „Perspektiven schaffen – wie weiter nach der zehnten Klasse?“

Gut orientiert in einem Jahr?

Nach mehr als 20 Jahren wird es in Berlin ab dem Schuljahr 2024/25 wieder ein 11. Pflichtschuljahr geben. Der neue Bildungsgang IBA Praxis nimmt sich viel vor.

Foto: Bertolt Prächt

Jedes Jahr »verschwinden« nach dem Ende des 10. Schuljahres mit Beendigung ihrer Schulpflicht circa 3.000 Berliner Schüler*innen ohne Anschlussperspektive. Wir wissen nicht, wie ihr Lebensweg weitergeht, denn bislang ist es nicht gelungen, eine datenschutzkonforme Verbleibsstatistik zu etablieren. Dies soll sich mit dem kommenden Schuljahr und der Wiedereinführung des 11. Pflichtschuljahres ändern, dessen Ziel es laut Senatsbildungsverwaltung ist, »erfolgreiche Anschlüsse nach der Jahrgangsstufe 10 sicherzustellen und den Übergang von der Schule in die berufliche Qualifizierung besser zu begleiten«.

Wer genau wird betroffen sein? Viele Schüler*innen besuchen die Schule bereits freiwillig 11 Jahre oder noch länger. Sie gehen nach Abschluss der 10. Klasse in die gymnasiale Oberstufe beziehungsweise das berufliche Gymnasium über, absolvieren eine Berufsausbildung oder besuchen einen anderen Bildungsgang einer beruflichen Schule. Auch »sonstige Anschlüsse« – beispielsweise Freiwilligendienste – können laut Senatsbildungsverwaltung zukünftig als Erfüllung der Schulpflicht im 11. Jahr anerkannt werden. 

 

3.000 Schüler*innen ohne Anschluss

 

Aber für diese bereits orientierten oder sich auf dem Weg der Orientierung befindenden Jugendlichen wurde das 11. Pflichtschuljahr nicht eingeführt. Nein, es geht um die 3.000 Schüler*innen ohne Orientierung und ohne Anschluss. Hier handelt es sich erfahrungsgemäß um Jugendliche mit multiplen psychosozialen und/oder sozioökonomischen Schwierigkeiten, in vielen Fällen zudem schuldistanziert. Es ist also davon auszugehen, dass ihre Probleme nicht behoben werden können, indem sie schlicht ein Jahr länger die Schule besuchen. Neue Konzepte sind gefragt. 

Was hat die Senatsbildungsverwaltung sich ausgedacht, um diese Schüler*innen dabei zu unterstützen, eigene Perspektiven zu entwickeln? Im Rahmen des seit 2019/20 an den berufsbildenden Schulen und Oberstufenzentren Berlins eingeführten freiwilligen Regelbildungsganges »Integrierte Berufsausbildungsvorbereitung (IBA)« wird es nun die sogenannte »IBA Praxis« geben. 

Seit diesem Schuljahr gibt es im Laufe der 10. Klasse im Rahmen der Berufsorientierung an der allgemeinbildenden Schule eine verpflichtende Anschlussberatung. Schüler*innen, die zu diesem Zeitpunkt keine schulische oder berufliche Perspektive haben, werden zukünftig IBA Praxis zugewiesen.

Die einjährige IBA Praxis wird an 15 Oberstufenzentren, sogenannten Ankerschulen (siehe Grafik), die über die Stadt verteilt liegen und möglichst alle Berufsfelder abdecken, angeboten werden. 

 

Schüler*innen beschäftigungsfähig machen

 

Wie unterscheidet sich die neue IBA Praxis nun von der bekannten, mittlerweile als IBA Klassik bezeichneten, Berufsausbildunsgvorbereitung? 

Der Fokus liegt klarer auf der »Beschäftigungsfähigkeit« der Schüler*innen. Auch das Ziel von IBA Klassik war und ist es, Schüler*innen in eine duale Ausbildung oder eine Arbeitstätigkeit zu vermitteln. In IBA Praxis wird es im Gegensatz zu IBA Klassik aber nicht mehr möglich sein, einen Abschluss zu erwerben. Dies wird häufig zur Priorität der Schüler*innen und ihrer Eltern – zu Ungunsten der Anschlussorientierung. In IBA Praxis werden keine klassischen Unterrichtsfächer unterrichtet, sondern vier sogenannte »Lernfelder« in Klassen von circa 15 Schüler*innen. Die Lernfelder lauten: 

Lernfeld 1: sich in der Schule, in der beruflichen Welt und in der Gesellschaft orientieren

Lernfeld 2: eigene berufliche Perspektiven entwickeln

Lernfeld 3: Berufsfelder erkunden und betriebliche Erfahrungen reflektieren

Lernfeld 4: den eigenen Übergang in Schule, Arbeit und Ausbildung gestalten 

Auch wenn wir die Abkehr vom klassischen Fächerkanon begrüßen, halten wir es für elementar, dass die politische Bildung explizit als fester Bestandteil des Konzeptes aufgenommen wird. Um antidemokratischen Tendenzen in der Gesellschaft entgegentreten zu können, müssen Schüler*innen zu einer verantwortungsvollen, reflektierten Urteilsbildung befähigt werden, am sinnvollsten indem sie demokratische Teilhabe selbst erleben und gemeinsam in ihrer Lerngruppe gestalten.

Da jede einzelne Ankerschule nur auf ihr spezialisiertes Berufsfeld hin orientieren kann, braucht es verbindliche Regularien, wie Schüler*innen bei Bedarf zügig die Schule wechseln können. Dies muss zwischen den Ankerschulen zum Wohle der Schüler*innen niederschwellig und ohne viel bürokratischen Aufwand organisiert werden können, das heißt die Ausstattungsbetrachtung darf für diesen Bildungsgang während des laufenden Schuljahres keine Rolle spielen. Dennoch bleiben Fragen: Wer organisiert und begleitet den Wechsel? Wie kann ein kurzfristiges Übergangsmanagement erfolgreich gestaltet werden? 

 

Auf die Praktika kommt es an

 

IBA Praxis sieht mindestens zwei Betriebspraktika im Schuljahr vor. Die Praktika sollen individualisiert organisiert werden, das heißt Anzahl und Umfang können je Schüler*in variieren. Die Vorbereitung, Durchführung und Auswertung der Praktika wird durch sogenannte Bildungsbegleiter*innen eng betreut. Je zwei IBA Praxis-Klassen teilen sich eine*n Bildungsgangbegleiter*in. 

Unklar ist, woher die benötigten Praktikumsplätze kommen sollen. Bereits jetzt ist es eine Herausforderung, solche Plätze für die IBA Klassik-Schüler*innen zu akquirieren. Die Möglichkeit zu umfangreichen Praktika ist der Kern des neuen Bildungsgangs, ihre Organisation ist also eine wesentliche Gelingensvoraussetzung von IBA Praxis. Dabei kommt es auch darauf an, dass die Praktika anspruchsgerecht sind. Wenn Schüler*innen im Praktikum bloße Aushilfsarbeiten tätigen und als Hilfskräfte ausgebeutet werden, ist das nicht zielführend. 

Ein weiterer nicht zu unterschätzender – und für die Kolleg*innen an den berufsbildenden Schulen neuer – Aspekt wird die Durchsetzung der Schulpflicht werden, die für Klassenleitungen viel zusätzliche Arbeit hervorrufen wird.

Das Fundament des neuen Bildungsganges steht, aber es braucht noch viel Arbeit, um das Konzept mit Leben zu füllen. Die Ankerschulen sind angehalten, sich schulintern Gedanken zu machen, wie genau es an ihrem Standort auszugestalten ist und entsprechende Rahmenlehrpläne zu formulieren.

Viele Kolleg*innen an unseren Schulen engagieren sich gerne – vor allem für benachteiligte Schüler*innen. Die Senatsbildungsverwaltung täte aber gut daran, ihnen nicht immer noch mehr aufzuhalsen, ohne dafür einerseits funktionierende Strukturen und andererseits Entlastung an anderer Stelle zu schaffen. Die Kolleg*innen brauchen neben den Zeiten für die Gespräche mit den Schüler*innen und ihren Eltern dringend Zeiten für den Austausch im Team, Zeiten für Konzeptentwicklung und deren Anpassung im Laufe der Erprobung, Zeiten für das Übergangsmanagement in eine duale Ausbildung oder einen anderen Bildungsgang. Auch dafür würden wir gerne Ideen und Vorstellungen hören!

Neben Detailfragen zur Ausgestaltung des Konzeptes bleibt für uns noch eine grundsätzliche Frage offen. Woher sollen in Zeiten des massiven Lehrkräftemangels die zusätzlichen benötigten Pädagog*innen kommen? Es braucht hier erfahrende Kolleg*innen, die sich mit Kraft und Lust dieser herausfordernden Aufgabe widmen. Es braucht multiprofessionelle Teams mit ausreichend an den Schulen beschäftigten Sozialarbeiter*innen und Schulpsycholog*innen. 

 

Lehrkräfte für 60 Klassen gesucht

 

Die zu Beginn von politisch Verantwortlichen und Bildungsverwaltung oft genannte Zahl von 3.000 Schüler*innen, um die es gehen sollte, hat sich mittlerweile drastisch reduziert. Wie das? Indem die Rechtsgrundlage so formuliert wurde, dass sowohl junge Menschen, die bereits 18 Jahre alt sind, als auch die, die in dem zu absolvierenden Schuljahr das 18. Lebensjahr vollenden, von der Schulpflicht für das 11. Pflichtschuljahr ausgenommen werden. Unserer Meinung nach eine finanziell und organisatorisch vielleicht nachvollziehbare, pädagogisch und sozial aber fatale Entscheidung. Die Kardinalfrage lautet: Welche Perspektiven werden diesen »übriggebliebenen und abgehängten« jungen Menschen dann von der Gesellschaft angeboten?

Die Senatsbildungsverwaltung kalkuliert mit circa 900 Plätzen für die neuen IBA Praxis-Klassen und geht außerdem von einem starken Aufwuchs in den IBA Klassik-Klassen und auch in anderen Bildungsgängen aus. Die 900 IBA Praxis-Schüler*innen verteilen sich bei 15 Schüler*innen pro Klasse auf 60 Klassen an 15 Schulen, sprich vier zusätzliche Klassen pro Ankerschule – mit einem komplett neuen Konzept. Eine gewaltige Herausforderung, die auf die Kollegien zukommt! 

Essentiell ist, die Konzeption dieses Bildungsganges spätestens am Ende des ersten Schuljahres zu evaluieren. Dazu braucht es ein durchdachtes und tragfähiges Konzept mit zielsicheren Evaluationsinstrumenten, welches am besten vor Beginn des Bildungsganges steht. 

Grundsätzlich begrüßen wir die Einführung des 11. Pflichtschuljahres, aber wir erwarten von der Bildungsverwaltung neben einem überzeugenden Konzept zur inhaltlichen Ausgestaltung des neuen Bildungsganges, inklusive politischer Bildung, auch wertschätzende, nachhaltige strukturelle Überlegungen, wie dieses von den Kolleg*innen auch realistisch dauerhaft umgesetzt werden kann.

Es geht heutzutage nicht mehr nur darum, neue Lehrkräfte und Menschen mit anderen Professionen für die Schule zu gewinnen, sondern auch darum, diejenigen, die bereits vor Ort sind, (gesund) zu halten. 

 

Folgende Oberstufenzentren werden Ankerschulen:


OSZ Kommunikations-, Informations- und Medientechnik


OSZ Informations- und Medizintechnik


OSZ Konstruktionsbautechnik (Hans-Böckler-Schule)


OSZ Gastgewerbe (Brillat-Savarin-Schule)


OSZ Recht und Wirtschaft (Hans-Litten-Schule)


OSZ Sozialwesen (Ruth-Cohn-Schule)


OSZ Ästhetik & Technik

OSZ Technische Informatik, Industrieelektronik und Energiemanagement


OSZ Natur und Umwelt (Peter-Lenné-Schule)


OSZ Bürowirtschaft 1


OSZ Logistik, Touristik und Steuern


OSZ Chemie, Physik und Biologie (Lise-Meitner-Schule)


OSZ Wirtschaft (Hermann-Scheer-Schule)


OSZ Gebäude, Umwelt, Technik (Max-Taut-Schule)


OSZ Mediengestaltung und Medientechnologie (Ernst-Litfaß-Schule)

 

Eine Stellungnahme der Abteilung Berufsbildende und zentral verwaltete Schulender GEW BERLIN zum 11. Pflichtschuljahr: hier